Ökologische Kunst
Natur unter Urheberschutz
Im Juni 2015 schuf die Umweltkünstlerin Aviva Rahmani ein ungewöhnliches Werk in einem Wald in Peekskill, New York. Sie und mehrere Dutzend Freiwillige malten mit ungiftiger Farbe blaue Sinuskurven (das Symbol für Schallwellen) an Bäume, die auf der Strecke einer geplanten Erdgas-Pipeline stehen. Sie soll 30 Meter am Kernkraftwerk Indian Point vorbeiführen und das Gas unterhalb des Hudson River bis nach Manhattan bringen. Jeder bemalte Baum stand für eine Note. Zusammen ergaben sie die Ouvertüre der von Rahmani komponierten Sinfonie Blued Trees (blau gefärbte Bäume).„Als ich den geplanten Streckenverlauf der Pipeline [auf der Karte] sah, kamen mir sofort Notenlinien in den Sinn“, sagt Rahmani. „Musik hat in meinem Leben schon immer eine wichtige Rolle gespielt.“ Doch die 70-Jährige wollte mit der Installation, die sie mit Zustimmung des Eigentümers auf dessen Privatgrundstück errichtete, nicht nur Aufmerksamkeit für ihre Kunst erregen. Sie und eine Gruppe Antifracking-Aktivisten planten, damit den Bau der zukünftigen Pipeline gänzlich zu vereiteln. Indem sie das Werk unter Urheberschutz stellten, wollten sie auf rechtlichem Weg verhindern, dass Spectra Energy das Land in Beschlag nimmt und die Pipeline baut. Denn dies kann der Konzern auf der Grundlage eines Gesetzes tun, das es der US-Regierung ermöglicht, Anspruch auf Privatgrundstücke zum Nutzen der Allgemeinheit zu erheben.
Rahmani und ihre Mitstreiter stellen sich aufgrund potentieller Umweltgefahren wie Methangasaustritt, Erdbeben und Grundwasserverseuchung gegen Fracking. Sie wollen die US-Regierung dazu bewegen, sich von fossilen Brennstoffen abzuwenden und stattdessen in saubere und nachhaltige Energie aus Wind- und Solarkraft zu investieren. „Ich finde den Mangel an Regularien für die fossile Brennstoff-Industrie und die schleichende Bedrohung durch den Klimawandel äußerst beängstigend“, antwortet Rahmani auf die Frage, warum sie sich den Aktivisten angeschlossen habe.
Der Ursprung der Idee
Die Urheberschutz-Idee stammt von dem kanadischen Künstler Peter van Tiesenhausen, der 300 Hektar Land in Demmitt, Alberta, besitzt, auf dem ein Ölkonzern eine Pipeline bauen wollte. In Kanada dürfen Erdöl- und Erdgasunternehmen Anspruch auf den Boden unterhalb eines jeden Privatgrundstücks ab einer Tiefe von 15 Zentimetern erheben. Doch van Tiesenhausen errichtete Kunstwerke auf seinem Grund und Boden und hält seitdem die Ölkonzerne fern, indem er behauptet, die Werke seien urheberrechtlich geschützt und für ihre Zerstörung müsse man ihm eine großzügige Abfindung bezahlen.
Ob eine solche Verteidigungsstrategie auch in den USA funktionieren würde, ist ungewiss. Patrick Reilly, einer von Rahmanis Anwälten, erklärte, man versuche, das Urheberrecht um gemeinschaftlich von Mensch und Natur geschaffene Kunstwerke zu erweitern. Indem man einen solchen Fall vor Gericht bringe, so Reilly, helfe man, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit schärferer Gesetze zum Schutz der Umwelt – allein aufgrund ihres ästhetischen Werts – zu wecken, selbst wenn man den Bau der Pipeline nicht verhindern könne. „Die Gesetzgebung ist streng und unmissverständlich, was den Urheberschutz der vom Menschen geschaffenen Kunst betrifft“, erklärte er, „aber sie sagt nichts über den Urheberschutz der natürlichen Schönheit der Umwelt aus.“Aviva Rahmani ließ ihr Werk im Juni 2015 urheberrechtlich schützen und begann, Gelder für zusätzliche Anwaltskosten zusammenzutragen. Bis Herbst 2015 hatte sie etwa 10.000 US-Dollar aufgebracht, aber Spectra Energy verlor keine Zeit. Rahmanis Anwälte bewirkten eine Unterlassungsanordnung am 30. September, einen Tag, bevor das Unternehmen mit dem Fällen der Bäume entlang der geplanten Pipeline beginnen wollte. Die Richterin hatte jedoch bereits ihre Auffassung zum Antrag auf Landenteignung formuliert. Weniger als zwei Monate später zerstörte Spectra Energy in Vorbereitung des Pipeline-Baus die Ouvertüre zu Blued Trees.
Aber die Künstlerin gibt nicht auf. Am Earth Day 2016 bemalten einige ihrer Mitstreiter Bäume auf Grundstücken entlang geplanter Pipeline-Strecken in New York, Virginia und New Hampshire. Und Rahmani schuf ein zweites Blued-Trees-Projekt entlang des Newtown Creek, der durch Brooklyn und Queens fließt und Teil des US-amerikanischen Superfund-Programms ist.
Blued Trees findet Nachahmer
Unterdes hat sich die Kunde von dem Projekt verbreitet, und weitere, unabhängige Blued-Trees-Manifestationen wie etwa in Easton, Pennsylvania, und Belle Glade, Florida, hervorgebracht. (Die interaktive Karte zeigt alle Orte.) Einige davon stehen im Zusammenhang mit dem Bau einer Pipeline, andere nicht. „Es ist unglaublich zu sehen, wie die Sache ein Eigenleben annimmt“, sagt Rahmani. Sie plant das Finale am 8. November, dem Wahltag in den Vereinigten Staaten, aber hat noch keinen Ort dafür ausgewählt.
Maria Michails, ebenfalls Umweltkünstlerin, half bei der Errichtung einer Blued-Trees-Installation in Rensselaer County, New York, wo der Konzern Kinder Morgan den Bau einer großen Kompressionsanlage für eine Erdgas-Pipeline plant. Als Michails Einzelheiten über die künstlerische Installation erfuhr, war sie zunächst skeptisch. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, Bäume anzumalen – selbst mit ungiftiger Farbe –, doch sie änderte rasch ihre Meinung.„Als ich dorthin kam und den ersten bemalten Baum sah, überkam mich das untrügliche Gefühl, dass es richtig ist“, sagt Michails. „Dass es elegant, einfühlsam, schön und eine wirklich angemessene Art ist, eine Gemeinschaft dazu zu bewegen, sich mit diesem Mammutproblem auseinanderzusetzen.“
Ökosysteme als Kunstwerk
Zuerst komponierte Rahmani die Musik, die auf der Form der im 18. Jahrhundert entstandenen klassischen Sinfonie beruht, in ihrem Haus in New York City. Mithilfe von Google Earth erstellte sie eine vorläufige Karte der Waldabschnitte, entlang derer die Pipeline verlaufen soll– wobei jeder „Takt“ einer Länge von etwa 500 Metern entspricht. Später lief sie die Strecke ab, sang die Partitur und wählte die dazu passenden Bäume aus: kleine Bäume für kürzere Notenwerte, größere Bäume für ganze Noten. Schließlich halfen ihr mit Pinseln und Farbe aus Buttermilch und blauem Pigment bewaffnete Freiwillige bei der Verzierung der Bäume.
Rahmani ist seit Jahrzehnten Umweltkünstlerin und vollendete kürzlich ihre Dissertation mit dem Titel Trigger Point Theory (Triggerpunkt-Theorie). Darin argumentiert sie, dass ein positiver Umweltwandel stattfinden könne, wenn Menschen den „sensiblen Punkt“ eines Ökosystems lokalisierten und veränderten. „Mein Ansatz ist, dass man keine unglaublich diffizilen, komplexen Maßnahmen braucht“, erläutert sie. „Man muss nur diesen einen Punkt finden, und dann kommt der Wandel von allein.“
Derzeit sammelt Rahmani Spenden auf Indiegogo, um ihre Anwälte zu bezahlen. Sie hofft, ein stichhaltiges Argument zu finden, das sich zum Schutz aller Blued-Trees-Installationen einsetzen lässt. Doch unabhängig vom gerichtlichen Ergebnis ist es ihr am wichtigsten, dass sie die Menschen dazu bringt, über die Bedeutung ihres Projekts zu reden. „Einen Diskurs anzustoßen“, sagt sie, „macht ja ganz allgemein einen großen Teil der Konzeptkunst und der Kunst im öffentlichen Raum aus.“