Lee Ae-ran ist aus Nordkorea geflüchtet – und macht Südkoreaner mit der nordkoreanischen Küche vertraut. Mit ihrem Restaurant Neungra Bapsang verhilft sie anderen Nordkoreanerinnen außerdem zu einem eigenen Lebensunterhalt.
Lee Ae-ran ist schlicht gekleidet, trägt einen Kurzhaarschnitt und strahlt Selbstbewusstsein aus. Die 53-Jährige besitzt einen Doktortitel der Ewha Woman’s University in Seoul in Ernährungswissenschaft und Nahrungsmittelmanagement. Sie ist außerdem eine von 30.000 in Südkorea lebenden nordkoreanischen Flüchtlinge.
Lee leitet ein Institut, das sich mit der Erforschung nordkoreanischer Esskultur beschäftigt. Zu dem Institut gehört auch ein Restaurant, das Neungra Bapsang. Es liegt in Nakwon-dong, einem heruntergekommenen Viertel im Zentrum von Seoul. Eine Treppe in einem unscheinbaren Gebäude führt zum Eingang des Restaurants.
Beim Betreten würden die meisten Besucher nur ein kleines, bescheidenes Esslokal erkennen. Ein paar Tische und Stühle sind hier und da verteilt. In der Küche schälen Frauen mittleren Alters Gemüse. Dieser kleine Betrieb folgt aber einer Philosophie, die Lee Ae-ran sehr wichtig ist. „Nur wer sich selbst versorgen kann, ist wirklich zufrieden“, sagt sie.
Die Reise einer Geflüchteten
Lee flüchtete 1997 aus Nordkorea und weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, sich aus dem Nichts hochzuarbeiten. Vor der Flucht war ihre Familie wegen ihrer „politisch unerwünschten Vergangenheit“ zu einem harten Leben nahe der chinesischen Grenze verurteilt. Lees Großmutter war während des Koreakrieges in den Süden geflüchtet und erlangte später die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Großmutter reiste dann nach China, um ihre Familie aus Nordkorea herauszuholen. In Shenyang im Nordosten Chinas wurde die Familie wiedervereint und kam schließlich nach Seoul.
Lee hatte in Nordkorea Ernährungswissenschaft studiert. In Südkorea erhielt sie von der Ewha University ein Stipendium, mit dem sie ihr Studium weiterführen konnte. Als erste Nordkoreanerin in Südkorea erlangte sie den Doktortitel und eröffnete mit 40 Jahren im Oktober 2009 ein Institut, das das Bewusstsein für nordkoreanische Kultur und insbesondere nordkoreanische Küche fördern möchte.
Der Anfang war besonders schwierig. „Ich war mit der Miete im Rückstand. Einmal wollte ich ausgehen, doch da sah ich den Vermieter draußen stehen. Voller Panik flüchtete ich zurück ins Restaurant, um mich zu verstecken.“ Dennoch gab sie nicht auf. Sie war entschlossen, die nordkoreanische Küche bekanntzumachen, an der die Südkoreaner bis heute wenig Interesse zeigen. Mit dem Restaurant wollte sie zusätzlich Nordkoreanerinnen in Südkorea einen Zufluchtsort bieten, wo sie lernen können, sich an die hiesigen Lebensbedingungen anzupassen. Lee ist überzeugt, dass im Süden Bemühungen immer auch mit Resultaten belohnt werden.
Hilfe für Schicksalsgenossinnen
In ihrem Restaurant beschäftigt Lee nur Frauen, die aus Nordkorea geflüchtet sind. Im März 2017 arbeiteten sieben Frauen in Vollzeit und drei Frauen in Teilzeit bei ihr, so Lee. Im Restaurant würden ihre Angestellten erste praktische Erfahrungen in einem regulären Gastronomiebetrieb sammeln. Zwei Angestellte sagten, sie seien glücklich, für Lee arbeiten zu können (aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Familien in Nordkorea wollten sie anonym bleiben).
Eine von ihnen (45) verließ vor zehn Jahren Nordkorea. Seit drei Jahren arbeitet sie nun für Lee . „Ich fühle mich wohl hier. Da hier alle aus dem Norden sind, kommt es seltener zu Konflikten.“
Die andere (60) arbeitete bereits vor ihrer Flucht als Köchin. Nun ist sie Küchenchefin und arbeitet seit der Eröffnung im März 2012 in dem Restaurant. Sie entwickelt Speisen, die den Geschmack der Südkoreaner treffen sollen. „(Als ich im Süden ankam), fertigte ich zunächst zu Hause Schmuck an und arbeitete dann in einer Fast-Food-Kette in Gangnam.“ In ihrem jetzigen Job fühle sie sich aber am meisten zu Hause. „Der einzige Nachteil ist, dass man zu Feiertagen nicht frei bekommt und sie daher nicht mit Familie und Freunden verbringen kann.“ (Die Angestellten haben stattdessen an zwei anderen Tagen in der Woche frei.)
Beide Frauen sprechen mit einem starken nordkoreanischen Dialekt. Es dürfte den Frauen schwer fallen, unter Südkoreanern nicht aufzufallen. Wer hier einen Dialekt spricht, besonders einen nordkoreanischen, kann schnell diskriminiert werden.
Nicht unumstritten
Trotz all ihrer Leistungen ist Lee nicht unumstritten. Ihre Verbindungen zum konservativen Establishment Südkoreas sind bekannt. 2008 kandidierte sie als Vertreterin einer kleinen rechtskonservativen Partei ohne Erfolg für einen Sitz im südkoreanischen Parlament. Und sie kollaboriert unter anderem mit einer südkoreanischen Organisation, die als ultrakonservativ gilt und eine nationalistische Geschichtsschreibung befürwortet.
Hinsichtlich ihrer politischen Ansichten zeigte sich Lee überzeugt, dass ihre Arbeit zu einem Wandel Nordkoreas beitrage. „Klar ist, dass dieses System (in Südkorea) überlegen ist. Ich glaube, Leute wie ich müssen den Nordkoreanern dabei helfen, für sich selbst zu entscheiden und das System der freien Demokratie sowie der Marktwirtschaft zu realisieren.“ Gegenwärtig begnügt sie sich damit, ihren Angestellten das kapitalistische Wirtschaftsmodell nahezubringen. Letztlich wünscht sie sich jedoch, eine lebendige Marktwirtschaft in Nordkorea und ein vereinigtes Korea zu erleben. „Wenn ich von Wiedervereinigung spreche, meine ich eine, in der auch Nordkorea eine demokratische und freie Marktwirtschaft wird.“
Trotz ihres verstärkten politischen Engagements hat Lee ihr ursprüngliches Ziel aber nicht vergessen. Sie versucht weiterhin, die nordkoreanische Küche bekanntzumachen und Nordkoreanerinnen dabei zu helfen, auf eigenen Füßen zu stehen. Bis 1948 waren Nord- und Südkorea ein einziges Land, doch im Süden werden Nordkoreaner selten in positivem Licht gesehen. Viele Südkoreaner halten nordkoreanische Flüchtlinge für ungebildet und faul.
Dazu nimmt Lee Stellung: “In Nordkorea sichert das System das Überleben. Und wenn sie hier ankommen, erhalten sie auch erst einmal von vielen Seiten Hilfe.“ Doch diese Wohltätigkeit halte Flüchtlinge davon ab, Unabhängigkeit zu erlangen. „Mitleid ist kurzlebig, das Leben ist lang.“