Ob Sonne, Regen, Wind oder Schnee – die Kinder der Cedarsong Nature School im US-Bundesstaat Washington verbringen ihre Kindergartenzeit auf zwei Hektar Waldgrundstück.
Vier Stunden täglich geht eine Kindergartengruppe im US-Bundesstaat Washington mit ihren Erziehern in den Wald. Bei Sonne, Regen, Wind oder Schnee dürfen die Kinder selbst entscheiden, ob sie rennen, spielen, klettern, ihre Umgebung erkunden, einfach still sitzen oder musizieren wollen. Die Erzieher bauen auf der natürlichen Neugier und dem Entdeckerdrang von Kindern auf.
Diese ungewöhnliche Kindertagesstätte im Nordwesten der USA heißt Cedarsong Nature School und ist ein Waldkindergarten auf Vashon Island. Er wurde 2008 eröffnet und ist ein Waldkindergarten-Modellprojekt, das darauf abzielt, Kinder mit der Natur und dem Platz, den sie darin einnehmen, vertraut zu machen.
„Ich habe das Projekt auf den Weg gebracht, um die Naturverbundenheit, die Kindern angeboren ist, zu fördern“, sagt Cedarsong-Gründerin Erin Kenny. „Das führt zu einem Umweltbewusstsein. Menschen, die keine Verbindung zur Natur haben, kümmert es nicht, ob Urwälder abgeholzt werden. Ihnen ist es egal, dass der Regenwald am Amazonas zerstört wird. Es berührt sie nicht.“
Wald erleben
Die Cedarsong Nature School nutzt ein unbewirtschaftetes Waldgebiet von zwei Hektar. Die Eltern geben ihre zwei- bis sechsjährigen Kinder morgens am Ausgangspunkt eines Wanderweges ab. Die Gruppe läuft dann gemeinsam zu einem Lager, in dem sich eine Feuerstelle, Eimer, Schaufeln, Musikinstrumente und Lupen befinden. Spielzeug gibt es nicht – die Kinder sind auf ihre eigene Kreativität angewiesen.
Sich Tag für Tag und zu jeder Jahreszeit an der gleichen Stelle einzufinden, gibt Kindern die Möglichkeit, eine enge Bindung zu diesem Ort aufzubauen. Es fällt ihnen auf, wenn neue Pflanzen sprießen, und sie können den gesamten Lebenszyklus von Tier- und Pflanzenarten verfolgen. Es gibt eine Picknickstelle mit Tisch, eine Komposttoilette und einen Lagerschuppen für Snacks, Wechselkleidung und Notfallausrüstung, aber keinen Aufenthaltsraum.
„In diesen vier Stunden helfen wir den Kindern lediglich dabei, mit auftretenden Problemen umzugehen“, erklärt Kenny. „Es gibt keinen Rückzugsort. Wenn ihnen kalt wird, können wir ihnen nur eine zusätzliche Kleidungsschicht überziehen.“
Für Elizabeth Fitterer und ihre Familie bot Cedarsong eine Alternative zu üblichen Einrichtungen. Ihrer Tochter Lorelei gefiel es schon immer besser, mit natürlichen Materialien anstatt mit Spielzeug aus Kunststoff zu spielen. Als Fitterer ein Werbeplakat für Cedarsong sah, erschien ihr das Konzept äußerst passend. „Wenn Lorelei als Baby aufgebracht war, bin ich mit ihr in den Garten gegangen. Einfach nur im Freien zu sein, hat sie schon beruhigt“, erzählt sie. „Sobald sie laufen konnte, unternahm sie gern ausgedehnte Streifzüge, hüpfte in Pfützen herum, kraxelte auf kleine Hügel und ging einfach auf Erkundungstour.“
Lorelei ist mittlerweile elf Jahre alt, und auch ihr achtjähriger Bruder Grant ging mehrere Jahre in den Waldkindergarten. Sie erinnert sich am liebsten daran, wie sie den langen, geraden Waldweg hinunterrannte, Matschsuppe kochte und auf Bäume kletterte. Außerdem mochte sie das Essen. „Wir aßen echt heiße Kartoffeln aus dem Feuer“, erinnert sie sich. „Wir nannten sie essbare Handwärmer. Das war eine der Beschäftigungen, die ich am tollsten überhaupt fand.“
Als Lorelei gefragt wird, ob auch andere Kinder einen Waldkindergarten besuchen sollten, bejaht sie das, denn das schaffe ein größeres Bewusstsein für Tiere und Pflanzen. „Kinder sollten mehr über die Natur erfahren“, meint sie, „damit sie nicht völlig aus der Fassung geraten, wenn sie zum Beispiel eine Schnecke sehen.“
Fitterer ist aufgefallen, dass die Kinder der Cedarsong Nature School sich besonders gut allein beschäftigen können. „Sie brauchen nicht viel Anleitung von Erwachsenen“, berichtet sie. „Sie kommen nicht an und klagen, dass ihnen langweilig sei. Sie sind sehr einfallsreich.“
Die Entstehung der Waldkindergärten
Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es in Europa Waldkindergärten in verschiedenen Formen. Seit 1993 sind sie in Deutschland staatlich anerkannte Kindertagesstätten. Heute gibt es dort mehr als 1.000 dieser Einrichtungen.
Cedarsong ist der erste Waldkindergarten in den USA, der auf dem deutschen Waldkindergarten-Modell beruht. Wie es auf der Website heißt, verschreibt sich das Konzept „dem vollständigen Eintauchen in die Natur, einem auf den Interessen der Kinder basierenden Flow-Learning-Prozess, einem sich aus der Situation ergebenden Tagesablauf, ortsbezogenen Themenschwerpunkten, dem entdeckenden Lernen und authentischen Spiel.“ Das Eintauchen in die Natur wird als „nicht strukturierte Freizeit in der Natur“ definiert, die „zu einer engen, tiefen und persönlichen Verbindung zur Naturwelt“ führt.
„Wenn Kinder im Freien sind, muss man ihnen Zeit geben, um die Natur zu erkunden und in der Natur zu sein“, sagt Kenny. „Sie sollen sich nicht nur naturkundliches Wissen aneignen, sondern begreifen, dass die Natur an sich der Ruhefindung und Entspannung dient.“
Für Kinder mit Sinnesverarbeitungsstörungen, Autismus oder diagnostiziertem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom bietet Cedarsong auch Naturcamps für sensorische Integration an. Kenny glaubt, dass Kinder, denen es sehr schwer fällt, sich auf etwas zu konzentrieren und sich dann, wenn ihnen das gelungen ist, etwas Neuem zuzuwenden, ungemein von unstrukturierter Freizeit profitieren.
Verbreitung der Waldkindergarten-Pädagogik
Aufgrund des Erfolgs der Cedarsong Nature School entwickelte Kenny eine Cedarsong Way Teaching Method genannte Lehrmethode, die auf der Philosophie eines nicht vorgegebenen Tagesablaufs basiert. Die Stunden werden auf Grundlage der Interessen der Kinder und dem, was ihre natürliche Umgebung ihnen an diesem Tag bietet, gestaltet. Dabei unterstützen die Erzieher die natürliche Neugier und Wissbegierde von Kindern.
Das Ausbildungsprogramm für Erzieherinnen und Erzieher wurde vor fast fünf Jahren auf den Weg gebracht, und Pädagogen aus zahlreichen Ländern haben es mittlerweile durchlaufen. „Anfangs wollten fast alle Erzieher einen eigenen Waldkindergarten gründen“, erzählt sie. „Nun sind auch immer mehr Erzieher, die in das traditionelle Bildungssystem eingebunden sind, in der Lage, einige unserer pädagogischen Ansätze in ihre Arbeit einfließen zu lassen.“
Diesen Trend findet Kenny erfreulich. „Ich glaube, das Konzept wird sich nur weiter durchsetzen“, meint sie, „wenn wir darauf achten, öffentliche Schulen, ältere Kinder, Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen und Kinder in den Städten einzubeziehen.“
Da das Konzept des Waldkindergartens in den USA relativ neu ist, gründete Kenny die American Forest Kindergarten Association, eine gemeinnützige Organisation, die Waldkindergärten Richtlinien, Normen und Kontinuität bietet und zeitgleich eine Plattform darstellt, auf der Erzieher, Schulen und Eltern miteinander in Kontakt treten können.
Das steht im Einklang mit Kennys Zukunftsvision von der Cedarsong Nature School und dem Ausbildungsprogramm für Erzieher, das ein Bewusstsein für das Waldkindergarten-Modell erzeugen und es bei Erziehern allerorts bekannt machen will.
„Es würde mir gefallen, wenn der Kindergarten als Ort des Lernens bestehen bleibt, den Erzieher aufsuchen und an dem sie sich Anregungen für ihre eigene Arbeit holen, sich mehr Gestaltungsfreiräume eröffnen und sich inspirieren lassen können, indem sie die Abläufe an dieser Mustereinrichtung beobachten“, wünscht sie sich. „Und dass unser Konzept dann immer weitere Kreise zieht und unsere Ideen und Grundsätze in Bildungsprogramme auf der ganzen Welt einfließen.“