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Tanja Dückers
Libellen

Von Tanja Dückers


Die Libelle vor ihr zitterte. Zitterte, aber nur vor Müdigkeit, nicht aus Angst. Ebba versuchte irgendwo anders hinzuschauen. Ihre Mutter war eingeschlafen, ihr runder Kopf mit dem dichten rotbraunen Haar wiegte sich nach links, nach rechts. Die silberne Haarspange mit der Libelle aus lauter eingestochenen Pünktchen hüpfte bei jeder Kurve, jeder Biegung, jedem Schlagloch auf und ab. Warum hatte ihre Mutter bloß mit dem Bus von Berlin nach Kroatien fahren wollen, das war doch verrückt. Wieso Kroatien, dieses Land sagte Ebba gar nichts. Bloß weil es dort billige Feriensiedlungen und, nicht zu vergessen, eine günstige Busreise hin gab. Als ihr Vater vor drei Monaten verschwunden war (zu Großvaters, Mamas Vater, Beerdigung war er noch gekommen, dort hatte Ebba ihn zuletzt gesehen), hatte er den Audi mitgenommen. Den Audi, die Stereoanlage und, laut ihrer Mutter, eine ganze Menge Geld. Wenigstens den Zug hätten wir nehmen können, dachte Ebba. Noch lieber wäre sie allein weggefahren, ohne Mutter. Aber das hatte man ihr nicht erlaubt. Ihre Mutter, die neulich bei Aldi nicht den Pfandflaschenautomat gefunden hatte und beim Stehimbiss den Würstchen-Theo anschrie, weil sie – fälschlicherweise, wie sich herausstellte – der Ansicht war, übers Ohr gehauen worden zu sein, ihre Mutter, die manchmal verschiedenfarbige Strümpfe unter ihren langen wallenden Kleidern trug (Kleider, die wie Bettbezüge aussahen), weil sie keine zwei passenden fand, ihre Mutter war der Ansicht, dass sie, Ebba, mit ihren 15 Jahren zu jung, orientierungslos und unerfahren sei, um allein oder mit Maike zu verreisen. Wenn Ebba nachts in ihrem Bett lag und die Plastiksterne am Zimmerhimmel zählte, hatte sie sich oft eingebildet, ihre Mutter zu hassen. Aber sie wusste, dass sie ihre Mutter gar nicht hassen konnte, sie war ihr zu nah. Sie war einfach immer da, mit ihren fragenden Augen, wallenden Kleidern, ausgetretenen Sandalen und ihren weiten bunten Tüchern, die sie überall in der Wohnung, aber ganz besonders gern in Ebbas Zimmer, vergaß. Ebba versuchte so gut es ging, ihre Mutter zu ignorieren.

Die Autorin Tanja Dueckers © Susanne Schleyer/autorenarchiv.de Passkontrolle, schon wieder. Natürlich wandte sich ihre Mutter an sie, um ihr überflüssigerweise noch einmal „Passkontrolle!“ zuzuraunen. Nichts entging ihr. Selbst die Libelle auf ihrem dichten Haar kam Ebba wie ein drittes Auge, eine Art rückwärtiges Kontrollorgan ihrer Mutter vor.

Ob ihr Vater jetzt auch Urlaub machen würde? An Schulzeiten müsste er sich jetzt nicht mehr halten, nein, er hockte bestimmt in Berlin, und irgendwann würde er wieder vor der Tür stehen – mit Bart und einem betretenen Gesicht, eine verschmierte Thermoskanne in der Hand –, so wie die letzten Male, nachdem er verschwunden war. Ihr Vater würde wieder zu Hause sitzen und Schachfiguren schnitzen, Kästchen bemalen und eine am Fenster sitzende Ebba zeichnen, um mit diesen Dingen am Wochenende auf den Trödelmarkt zu gehen. Warum ihr Vater wegging und warum er wiederkam – der bartlose, zappelige, hitzige Vater kurz vor seiner Flucht und der stille, traurige, bärtige Vater in der Tür mit der Thermoskanne und dem Dreck unter den Fingernägeln –, verstand Ebba nicht.

Der Bus rumpelte weiter und ließ die silberne Haarspange auf- und niederblitzen wie einen Fotoapparat. Die frühe Morgensonne fiel auf den dichten rotbraunen Schopf ihrer Mutter – sie saßen jetzt schon 24 Stunden im Bus. Einmal schlief Ebbas linke, einmal Ebbas rechte Pobacke ein. Und die Toilette war immer genau dann besetzt, wenn man es selber kaum noch aushielt. Mamas Spar-Tick ... Mit dem Bus von Berlin an die Adria …

Das Apartment war nicht so schick wie das auf Malta letztes Jahr, aber dafür waren sie in nur fünf Minuten am Strand. Jeden Morgen kontrollierte ihre Mutter Ebbas Badetasche, um zu prüfen, ob sie denn die Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 15 und nicht nur die mit 12 oder gar 8 mitgenommen hatte – wegen ihrer empfindlichen Haut. Ebba wollte natürlich um jeden Preis braun werden, aber mit Lichtschutzfaktor 15 und einem ständig wachsamen Auge über allem war das nicht möglich. Wäre das Freiheit – mit Maike zusammen mitten in der Schulzeit nach Ibiza oder Korsika zu fliegen? Die Freiheit, das Abenteuer, würde dunkelbraun sein und nach Schweiß riechen, das war klar.

Ebba hoffte, in der Feriensiedlung ein paar nette Jungen zu treffen, aber bisher hatte sie nur Rentner gesehen oder Familien, die nörgelnd mit großen Kühltaschen an ihr vorbeizogen. Unter den Typen an ihrer Schule zu Hause war niemand dabei, der ihr gefiel oder nicht schon vergeben war. Nach jedem Urlaub hatte Maike ihr zerknitterte Fotos von dunkelhäutigen Typen mit schönem Lächeln gezeigt – ihre Eltern ließen sie per InterRail alleine durch Europa reisen. Die Vorstellung, die nächsten drei Wochen mit niemand anderem als ihrer Mutter zu reden, deprimierte Ebba. Ihre Mutter, die sie jetzt nicht nur nach der Schule oder abends sah, sondern auch vormittags, hatte ihr noch zu Hause zweisprachige Taschenbücher mit Kurzgeschichten des 20. Jahrhundertsbesorgt und ihr stillschweigend neben den Frühstücksteller gelegt. Als Ebba gerade vom ersten Strandspaziergang kam, monierte sie schon, dass Ebba die Ferien nicht nutzen würde, um etwas „für ihren Geist“ zu tun. Und als Ebba schließlich in einem der Taschenbücher zu lesen begann, stellte ihre Mutter zwischendurch so raffinierte Fragen, dass es ihr stets gelang, herauszufinden, dass Ebba natürlich nicht die französische, sondern nur die deutsche Version las.

Den einzigen Trumpf, den Ebba in der Hand hielt, war die Frage: „Was meinst du, wann kommt Papa dieses Mal wieder?“ Damit erwischte sie ihre Mutter nämlich an ihrem wunden Punkt. Sie wand sich stets, seufzte und gab etwas von sich wie: „Ich hoffe, bevor die Schule wieder anfängt!“, oder: „Ich hoffe doch, vor meinem Geburtstag!“

Einmal stellte Ebba ihrer Mutter eine besonders gemeine Frage. Und zwar nachdem ihre Mutter sie genau in dem Moment, als ein Junge vorbeilief und Ebba einen langen Blick zuwarf, in ein intensives, aber uninteressantes Gespräch über die irgendwann einmal anstehende Wohnungsrenovierung in Berlin verwickelte. Kaum war der Junge aus ihrer Reichweite, ließ Ebbas Mutter das Thema wieder fallen und starrte gedankenverloren aufs Meer.

Da fragte Ebba: „Sag mal, kannst du dir vorstellen ... Also ich meine das nicht böse, nur, man überlegt so was eben mal, dass Papa eigentlich nie in dich verliebt war? Dass es sich für ihn halt so ergeben hat und er nur aus Gewohnheit immer wieder zurückkehrt? Weil er weiß, du stellst das Essen auf den Tisch?“

Ihre Mutter antwortete nicht. Ebba wusste, sie quälte sich mit der Frage, warum dieser linkische, unselbstständige Mann, der doch eigentlich dankbar für all das sein müsste, was sie für ihn tat, sie immer wieder im Stich ließ. Sie konnte das einfach nicht begreifen. Dass ihr Mann ein von jedem Ehrgeiz freier Vagabund geworden war, hielt sie, so schien es Ebba, für ihr eigenes Versagen. Sich von ihm trennen? Ein Ding der Unmöglichkeit! Dann hätte man ja den Fehler ganz offiziell zugegeben. Und was hätte Muttchen dazu gesagt?

In diesem Augenblick kam der Junge von vorhin mit einem Eis in der Hand zurück. Ebba hörte schon, wie ihre Mutter sich räusperte und einen Gesprächsanfang suchte, aber diesmal war sie schneller: Sie blickte zu ihm hoch – und ihr Lächeln wurde erwidert. Ein Kribbeln breitete sich von ihrem Magen bis in ihre Fingerspitzen aus. Sie gab sich keine Mühe, ihr Interesse vor ihrer Mutter zu verbergen. Sie seufzte genüsslich auf und sah dem Jungen hinterher, der anstatt zur Feriensiedlung zu einem Hochsitz der Strandwacht ging. Dort rief man ihm schon vom Weiten etwas zu – es schien etwas auf Kroatisch zu sein –, dann stellte er sich ganz selbstverständlich zu den Männern in den weißen Hemden und kurzen Hosen. Einer von ihnen trug einen Feldstecher um den Hals. Jetzt begann ihre Mutter mit einem Vortrag über ihre Erfahrungen mit Jungen „aus südeuropäischen Ländern“, die sich an „Touri-Mädchen“ heranmachten und die unzuverlässigsten seien, die man sich vorstellen konnte.

„Die wollen von vornherein nur Eine, die gleich wieder im Flieger sitzt. Warum hängen die sonst den ganzen Sommer am Strand herum, warum wohl?“

Ihre Mutter hielt den Kopf in solch einem geschickten Winkel, dass sie sowohl Ebba direkt anblicken als auch noch ihr Libellenauge auf sie richten konnte. Die Libelle war ein verzauberter Kobold, eine böse Fee – so viel stand fest.

Am nächsten Tag sah Ebba den Kroaten gleich drei Mal: morgens mit einem Fernglas auf dem Hochsitz – es sah aus, als würde einer der älteren Männer ihn einweisen –, nachmittags auf dem Weg zum Eisstand und wieder auf dem Rückweg.

Heute hatte er zuerst gelächelt, vorsichtig. Als Ebba in einer der wenigen mutterfreien Minuten – ihre Mutter war gerade auf der Toilette – ein paar tagebuchartige Notizen auf der Rückseite einer Postkarte machte, ging ihr durch den Kopf, dass sie von dem Jungen rein gar nichts wusste und nicht einmal sicher war, ob sie ihn überhaupt hübsch fand.

Später lud ihre Mutter Ebba ins Kino ein und war den ganzen Abend über sehr nett. Fast tat es Ebba leid, eine so starke Abneigung gegen sie verspürt zu haben.

Nachher lag sie neben ihrer Mutter im Bett und wartete, bis deren Atem gleichmäßig war. Erst dann meinte Ebba, in Ruhe nachdenken zu können. Ihr ging durch den Kopf, dass sie sich früher eigentlich mal recht gut mit ihrer Mutter verstanden hatte. Bevor Vater verschwand, wiederkam, verschwand. Da hatten sie noch nicht so aufeinander gehockt.

Am nächsten Morgen spürte Ebba schon beim Aufwachen, dass etwas anders war als sonst: Ihre Mutter summte und pfiff nicht beim Kaffeekochen, die silberne Libelle thronte nicht auf ihrem üblichen Platz, sondern lag noch immer auf dem Nachttisch – etwas hatte sich verändert.

Eine Minute später setzte sich Ebbas Mutter ans Bett: „Ebba, dein Vater hat mich auf dem Handy angerufen. Er will mit mir reden. Er will wiederkommen ... Wir ... wollen es noch einmal richtig miteinander versuchen. Er hat aufgehört – ach, das wusstest du noch gar nicht – zu spielen, und er bringt den Audi wieder mit ... sagt er.“

„Und was bedeutet das jetzt?“, fragte Ebba argwöhnisch.

„Ebba, ich habe unsere Rückreise vordatiert. Wir reisen früher ab.“

Ebba saß am Strand und legte Muster aus Muscheln. Natürlich hatte sie stundenlang mit ihrer Mutter gestritten. So lange bis sie beide heiser waren. Ihre Mutter war schließlich ins Kino gegangen. Dann war Ebba allein ans Meer geschlendert.

„How are you?“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Ebba drehte sich rasch um, eine Hand mit Pistazien streckte sich ihr entgegen. Sie nahm zwei und dachte sofort, dass ihre Mutter dies als Zeichen der „Einwilligung“ in weitere Dinge deuten würde. Die Pistazien schmeckten köstlich. Der Junge ließ sich neben sie in den Sand fallen. Einen Moment lang schwiegen sie beide.

„Warum sprichst du so gut Englisch?“, fragte Ebba schließlich. Sie konnte ihre Neugierde nicht verbergen.

„Na ja, ich arbeite hier ... treffe viele Touristen“, antwortete er und bestätigte somit den Verdacht, den ihre Mutter, tiefer als Ebba lieb war, schon in ihr Hirn eingepflanzt hatte.

„Und was für eine Arbeit machst du hier?“, fragte Ebba, guckte uninteressiert in den Himmel. Nur nicht gleich zu nett sein!

Illustration Tanja Dückers Lydia Salzer © Goethe-Institut

Der Junge erzählte ihr, dass er Strandwächter werden wolle, um in den Sommermonaten etwas Geld zu verdienen. In einem Jahr wäre er mit der Schule fertig. Nachdem sie eine Weile nebeneinander gesessen hatten, redete er mehr; seine anfängliche Scheu, die vielleicht auch nur ein Trick war, schien er abgestreift zu haben. Ebba ließ sich in einer Strandbar zu einem Glas Sekt von ihm einladen. Sie nahm alles an, was er ihr bot. Ihre Mutter war heute mit sich selbst beschäftigt, sie telefonierte die ganze Zeit für ein Heidengeld mit ihrem Vater, dabei hatte sie sich heute Morgen geweigert, Ebba eine Frauenzeitschrift zu kaufen mit der Begründung, die sei unverschämt teuer.

Als Ebba sich das zweite Sektglas reichen ließ und der Junge eine Hand auf ihren nackten Oberschenkel legte, überfiel sie plötzlich lähmende Traurigkeit. Plötzlich ist es ihr egal, was ich mache, was mit mir passiert ... Sie dachte an ihre am Handy hängende Mutter. Dann drehte sie den Kopf zur Seite, zum Glück war es schon so dunkel, dass der Junge – seinen Namen hatte sie nicht verstanden – ihre Tränen nicht sehen konnte, und, richtig, da kamen ihr schon seine Lippen entgegen. Später wälzten sie sich am Strand, und sie ließ sich das T-Shirt hochschieben. Doch als er anfing, an ihren Shorts herumzunesteln, drängte Ebba zum Aufbruch. Noch vor zwölf war sie wieder zurück im Apartment. Einen halben Meter vor der Tür genoss sie jedoch noch einmal seine heftigen Küsse.

„Ach, da bist du ja wieder“, murmelte ihre Mutter zerstreut, und Ebba sah, dass sie geweint hatte. Ohne nachzudenken, ging sie auf ihre Mutter zu und umarmte sie. Einige Minuten lang hielten sich beide in den Armen. „Na, und was hast du gerade erlebt ...“, sagte ihre Mutter, aber es war nur eine Feststellung, fast liebevoll, keine Frage.

Später, im Bett, hielt ihre Mutter Ebbas Hand fest, während sie im Detail berichtete, was ihr Vater alles erzählt hatte. Er hatte darüber räsoniert, warum er damals nicht an der Kunsthochschule genommen worden war und warum er nicht das Selbstbewusstsein gehabt hatte, es noch einmal zu versuchen. Wer schaffte es denn gleich beim ersten Mal? Über diese Dinge hatte ihre Mutter die ganze Zeit mit ihrem Vater, den sie in drei Tagen doch sowieso sehen würde, für ein Heidengeld am Handy geredet. Ebba sagte nichts dazu, irgendwann fielen ihr – ausnahmsweise vor ihrer Mutter - die Augen zu. Nur die Libelle, die auf dem Nachtisch lag, funkelte Ebba noch an.

Ebbas frühes Einschlafen hatte Folgen. Ebbas Mutter hatte nämlich noch erzählt, dass sie jetzt doch nicht früher abreisen würden, sondern, wie geplant, erst in einer Woche. Sie hätte so viel mit ihrem Vater gesprochen, dass sie Ebba zuliebe gemeinsam beschlossen hätten, den Urlaub nicht zu verkürzen. Immer dieses Hin und Her.

Die Wendung „gemeinsam beschlossen“ sprach ihre Mutter fast feierlich aus; sie auszusprechen, schien sie glücklich zu machen. Das erfuhr Ebba nun erst nachmittags, als sie sich mit Jiri – so hieß der Junge – schon für den Abend verabredet hatte, im Glauben, kaum noch Zeit zu haben. Der denkt jetzt, ich halte es keinen Tag mehr ohne ihn aus, ärgerte Ebba sich.

Wenn Jiri und sie sich trafen, redeten sie über dies und das – deutsche Küche, kroatische Küche, welche Musik man so hörte, ob man Geschwister hatte – und versuchten, die Anstandszeit herumzukriegen, bis es dunkel genug war. Dann knutschten sie am Strand herum, und Ebba dachte dabei sehnsüchtig an den Film Grease, den sie im letzten Jahr gesehen hatte und der mit einer romantischen Szene am Meer beginnt. Sie dachte immer an irgendein Bild oder einen Film, wenn sie Jiri küsste, und überlegte ständig, ob sie alles richtig machten. Manchmal hätte sie gern mit einer Freundin geredet, aber Ebbas Freundinnen waren an der Nordsee, in Südfrankreich, in Schottland, auf Balkonien in Berlin – überall, nur nicht hier. Und ihre Mutter? Schlechter Scherz.

Ihre Mutter telefonierte nun jeden Abend stundenlang mit ihrem Vater. Tagsüber ging sie in ein Fitness-Studio, um sich die wenigen noch verbleibenden Tage an der Adria mit dem Versuch zu verderben, mal eben 15 Kilo abzunehmen. Ebba dachte an ihren uneitlen, nicht besonders schönen Vater und verstand nicht, warum ihre Mutter jetzt ihren Urlaub auf den Kopf stellte. Sie hatte noch nicht einmal den Audi wieder zurück.

Der Vorteil der neuen Situation war allerdings, dass ihre Mutter die Treffen mit Jiri überhaupt nicht kommentierte. Ich könnte schwanger werden, was würde sie wohl dann sagen?, sinnierte Ebba einmal. Für einen Moment spielte Ebba mit dem Gedanken, es darauf anzulegen. Nur um ihre Mutter, die sich jetzt nicht mehr die Bohne für sie interessierte, zu ärgern.

Am Abend vor ihrer Abreise war sie ein wenig aufgeregt. Heute würde sie Jiri zum letzten Mal sehen – vorausgesetzt, er bestand nicht darauf, sie zum Bus-Terminal zu bringen. Jetzt würde sich herausstellen, ob er ihre Anschrift in Berlin haben wollte oder nicht. Als sie im Bad vorm Spiegel stand, kam ihre Mutter von hinten und legte ihr die schweren Hände auf die Schultern. „Weißt du eigentlich, dass dein Großvater im Zweiten Weltkrieg in dieser Gegend war?“ „Nö, woher?“ „Ich dachte, Opa Paul hätte das mal erzählt“, seufzte Ebbas Mutter und drehte den Kopf so, dass die Libelle Ebba anblitzte. „Was hat er denn hier gemacht?“, wollte Ebba, nun doch neugierig geworden, wissen. Ebbas Mutter zuckte die Schultern. „Nichts Gutes vermutlich. Partisanen gejagt und er... das hat er mal erzählt. Und nun geh schon – zu deinem Kroaten.“ Da war es ihrer Mutter ja prächtig gelungen, ihr noch ein ordentliches Päckchen mit auf den Weg zu geben. Es hatte immer nur geheißen, Großvater sei „in Russland“ gewesen. Ebba dachte an Großvater, der erst neulich gestorben war und den sie so gern gehabt hatte.

Jiri und sie trafen sich wie immer um acht Uhr in „ihrem“ Café gleich neben dem Hochsitz der Strandwacht. Sekt mit Orangensaft brachte der Ober ihnen schon ohne Aufforderung. Nach den üblichen zwei Gläsern Sekt und belanglosem Geplänkel darüber, aus welchen Ländern die nettesten und die blödesten Touristen an die Adria kamen, liefen sie Hand in Hand am Meer entlang – ein bisschen würde Jiri ihr ja schon in Berlin fehlen, obwohl sie gestern Nacht, als sie vom Schnarchen ihrer Mutter aufgewacht war und nicht mehr einschlafen konnte, auf einem Stück Klopapier festgehalten hatte, dass sie nicht richtig verliebt sei.

Sie gingen von einer Strandbar in die nächste, und Ebba hatte das Gefühl, dass diese hektischen Ortswechsel nur darauf abzielten, überall rasch etwas zu bestellen, um sie schnell betrunken zu machen. Die Stimmung in den Bars gefiel ihr nicht, die Frauen waren viel älter und übertrieben zurechtgemacht, fast nuttig, sie fühlte sich unwohl. Hier und da traf Jiri Freunde oder Bekannte, auch andere Mädchen, mit denen er sich jeweils lange auf Kroatisch unterhielt, ohne sie in das Gespräch miteinzubeziehen. Eigentlich würde sie am liebsten nach Hause gehen. Sie war auch müde heute.

Aber jetzt begleitete sie Jiri auf einen dunklen Pfad, der in Serpentinen auf einen Berg führte. Jiri hatte einen schönen Namen für den Berg, aber Ebba hatte sich ihn nicht merken können. Jiri hielt sie die ganze Zeit an der Hand. Manchmal blieb er stehen, zog sie an sich und küsste sie, wobei er ihr seine Zunge tief in den Rachen schob. Aber er merkte, dass ihr das nicht gefiel, und tippte bald nur noch mit seiner Zunge an ihre Schneidezähne, leckte ihr über die Lippen, in die Mundwinkel und fuhr – sehr nass und warm – in ihre Ohrmuscheln. Davon konnte Ebba kaum genug bekommen. Dann stapften sie weiter, der Pfad war von mediterranen Dickblattgewächsen gesäumt, sie hörten Zikaden, das Rascheln kleiner Tiere, fernes Gelächter von Partys am Fuß des Berges und das tiefe Tuten von Schiffen, das an- und abschwoll. Ein Moment von Glück, aufregend und glitzernd wie die Lichterketten der Strandbars tief unter ihnen, durchzuckte Ebba. Jetzt war sie es, die Jiri festhielt, umarmte, mit ihrer Zunge in seine Ohrmuscheln fuhr.

Sie liefen schweigend weiter, Hand in Hand. Schließlich kamen sie auf eine Anhöhe mit weitem Blick über das Meer. Der Anblick war überwältigend, all das Funkeln, Leuchten und Rauschen, kleine Schiffe als weiße Striche am Horizont, Vögel mit großen Schwingen kreisten über den Wellen. Ebba wurde schwindelig, aber nicht nur wegen ihrer Höhenangst. Sie sank ins Gras; nur einen Bruchteil einer Sekunde später war Jiri neben ihr. Auf ihr. Es ging so schnell, wie er da plötzlich auf ihr lag, ihre Knie mit seinen auseinanderdrückte; sein Kinn, seine Rippen, seine Ellenbogen, seine Hüftknochen – alles drückte, bedrängte, piekste sie ... Schließlich boxte sie ihn mit der Faust auf die Schulter: „Hör auf...“ „Entschuldige“, sagte er verwirrt. Dann, leiser: „Du bist eben so wunderschön, da kann ich mich einfach nicht beherrschen!“ Er zog sie diesmal vorsichtiger an sich, küsste sie. Noch einmal. Und wieder seine Zunge. Er wusste schon, was ihr gefiel. Ebba schaute nach oben in den Sternenhimmel – sie wusste nicht, was sie wollte. Jiri kam ihr jetzt doch wieder so fremd vor. Wie alt war er eigentlich? Sie rückte etwas ab. Doch er streichelte sie vorsichtig, fuhr mit seinem Mund an ihr Ohr und begann zu erzählen ... Ebba hörte nun, dass die „Seele seines Vaters“ hier über ihnen schwebte, in den kleinen Nebelschwaden, die wie ein Bart am Berg hingen. Sein Vater war hier gestorben, auf diesem Berg, erst vor wenigen Jahren. Und noch sehr jung. Er hatte Jiris Mutter, Jiri und seine drei jüngeren Geschwister zurückgelassen. Jiri hatte ihn noch am Morgen gesehen,  bevor der Vater zu seinen Olivenbäumen wollte... Aber Jiris Vater hatte nach dem Aufstieg in großer Hitze einen Herzinfarkt erlitten und den Weg nach unten nicht mehr geschafft.  Ebba blickte ängstlich zu den Nebenschwaden auf.  „Und dann hat man ihn hier gefunden, deinen Vater?“, fragte sie voller Mitleid. „Ja, nach zwei Tagen ...“, erwiderte Jiri leise. Dann legte er seinen Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte seinen dunklen Schopf. „Es ist komisch“, fuhr er fort. „mein Großvater ist hier auch in den Bergen umgekommen ... im Zweiten Weltkrieg. Er war bei den Partisanen, weißt du. Die, die gegen die Ustascha-Miliz gekämpft haben. Die waren mit den Deutschen verbündet, du weißt schon, die Ustaschas.“ Ebba guckt betreten auf den Boden. Sie hatte den Zweiten Weltkrieg in der Schule dreimal gründlich durchgekaut, so dass ihr das Thema schon zu den Ohren heraushing, aber von Kroatien, dieser Miliz mit dem komischen Namen, die mit den Nazis verbündet war, und all dem, wusste sie nichts. Auch bis heute Abend nicht, dass ihr Großvater hier gewesen war. Hatte Mama auf der endlosen Busfahrt nicht Zeit dafür gehabt? Nein, sie musste es ihr am letzten Abend der Reise, vor ihrem Date, zwischen Tür und Angel sagen. „Kein guter Ort für meine Familie! Jetzt ist mein Vater ihm gefolgt“, murmelte Jiri. Ebba schwieg beklommen. Einen Moment lang verharrte Jiri noch in dieser Position, dann schien sein Schmerz über den Tod seines Vaters wie weggewischt; seine Hände lösten geschickt ihren BH und spielten bald mit dem Saum ihrer Unterhose. Und seine Zunge vergaß er auch nicht bei all dem. Und Ebba hatte das Gefühl – irgendwie –, etwas wiedergutmachen zu müssen.

Jiri war sehr zärtlich gewesen, hatte etwas von „love“ gemurmelt. Schwanger geworden war sie nicht. Es war Vollmond gewesen, und sie hatte versucht, an Grease zu denken.

Zurück in Berlin schuftete Ebbas Mutter, die als Altenpflegerin arbeitete, eine Weile verbissen, machte zahllose Überstunden. Sie wollte ihren Mann, der auf dem Trödelmarkt seine selbstgemalten Aquarelle kaum loswurde, unterstützen und sich, ihm und Ebba den Umzug in eine billigere, hässlichere Wohnung ersparen.

Nur wenige Monate später würde sie Ebbas Vater rauswerfen, und er – der gewohnt war, zu gehen und nicht gegangen zu werden – sollte nie wiederkommen. Und danach, Jahre später, sollte ein neuer Mann kommen und Ebbas Mutter doch noch glücklich machen und Ebba alles geben wollen, was sie früher als Kind (jetzt war sie selbst fast erwachsen) einmal gern gehabt hätte. Sie würde auch alle Fragen von Ebba zu ihrem Großvater, der mit dem sogenannten „Teufels-Batallion“ der Wehrmacht in den Bergen Kroatiens Partisanen gejagt hatte, beantworten und selber eine längere Recherche über ihn anstellen – als Ebba gerade im Abiturstress war. Alles kam immer zu spät. Überall Ungleichzeitigkeiten, nichts bekam man dann, wenn man es brauchte, das Ticken der Zeit und der eigene Herzschlag – die große Uhr der Außenwelt und die kleine „innen drin“, wie Ebba das nannte, die passten einfach nie zusammen.

Und Glück? Was war das...? Vielleicht für einen Moment das Glitzern einer Lichterkette am Strand.

Cover der acht Kurzgeschichten © Goethe-Institut
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