„Das Mädchen Kieu“ von Nguyen Du Über die Entstehung der deutschen Nachdichtung „Das Mädchen Kiều“ von Irene und Franz Faber
Das Buch Das Mädchen Kiều, die deutsche Nachdichtung des Versepos „Truyện Kiều“ von Nguyễn Du (1765-1820), erschien zum ersten Mal 1964 im Berliner Verlag Rütten & Loening, ein Jahr vor dem 200. Geburtstag des vietnamesischen Nationaldichters. Es war die erste Übersetzung aus der klassischen vietnamesischen Literatur in der damaligen DDR und im deutschen Sprachraum überhaupt.
Trương Hồng Quang, Berlin-Biesdorf, 02.06.2020
Im internationalen Vergleich gehört die deutsche Nachdichtung zu den ersten vollständigen Kiều-Übersetzungen. Sie steht neben den zahlreichen Übersetzungen ins Französische, die erste davon erschien bereits 1884 in Paris, zwölf weitere folgten nach. Sehr bemerkenswert ist der Umstand, dass die deutsche Übersetzung weltweit die zweite lyrische Nachdichtung nach der französischen Übertragung durch René Craissac aus dem Jahr 1926 darstellt. Zwei weitere interessante Merkmale sind hervorzuheben: Die deutsche Übertragung erfolgte direkt aus dem vietnamesischen Original (wenn auch mit Hilfe einer besonderen bilingualen vietnamesisch-französischen Ausgabe aus dem Jahr 1951, worauf noch näher eingegangen wird). Schließlich, mit einer Bearbeitungszeit von siebeneinhalb Jahren (1956-1964), dürfte die deutsche Nachdichtung überdies die längste Entstehungsgeschichte unter den bisherigen rund 60 unterschiedlichen Kiều-Übersetzungsarbeiten in mehr als 20 Zielsprachen in Anspruch nehmen.
Dass das Ehepaar Irene und Franz Faber die Schöpfer dieser Nachdichtung wurde, haben wir der glücklichen Verkettung einer Reihe von höchst ungewöhnlichen Umständen zu verdanken. Frau Irene Faber, die aus einer sorbischen Familie in Senftenberg bei Cottbus stammte und vor dem Kriegsende als Fremdsprachenkorrespondentin in einer Handelsfirma in Berlin arbeitete, war eine sprachlich hochbegabte Frau, die fünf Fremdsprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch und Russisch) mächtig war. Franz Faber, Jahrgang 1916, aus einer bürgerlichen Familie aus Düren (Nordrhein-Westfalen), durchlebte in seiner Kindheit und Jugend ebenfalls eine umfassende humanistische Bildung mit sechs Fremdsprachen: Latein, Französisch, Griechisch, Englisch, Arabisch und Hebräisch. Von 1938 bis zum Kriegsende diente er als Soldat, zunächst an der Westfront, später an der Ostfront, zuletzt in Russland. Im Jahr 1941, während Franz noch in der Normandie stationiert war, lernte er Irene durch die Briefpost „Front-Heimat“ kennen, wobei beide sich in der Folgezeit gegenseitig ausschließlich auf Französisch geschrieben haben. Ein Jahr später heirateten sie in Senftenberg. 1944 wurde ihr erster Sohn geboren. Gegen Kriegsende geriet Franz in sowjetische Kriegsgefangenschaft und wurde erst 1952 in die Heimatstadt seiner Frau entlassen. Durch die eher zufällige Begegnung mit dem späteren Schriftsteller Erwin Strittmatter, damals Redakteur in der Kreisredaktion der „Märkischen Volksstimme“, wurde Franz Faber gewissermaßen über Nacht Journalist, zunächst als Kreisredakteur in der Uckermark und zwei Jahre später avancierte er zum Leiter der Leserbriefabteilung im „Neuen Deutschland“, der wichtigsten Tageszeitung der DDR.
In dieser Position, vor allem als einziger die französische Sprache beherrschende Journalist von „Neues Deutschland“, reiste Franz Faber im Herbst 1954 auf Einladung von Präsident Ho Chi Minh nach Vietnam. Seine ursprüngliche Mission sollte darin bestehen, zusammen mit international bekannten Autoren wie der französischen Schriftstellerin Madeleine Riffauld und dem australischen Journalisten Wilfred Burchett über die Schlacht in Điện Biên Phủ zu berichten. Letzteres glückte Faber allerdings nicht mehr, da er erst im Oktober aus China nach Vietnam gelangen konnte, als die Schlacht bereits geschlagen war. Dennoch war es dieser erste Vietnam-Aufenthalt, der den entscheidenden Anstoß zu dem späteren gemeinsamen Lebensprojekt von ihm und seiner Frau Irene, der deutschen Kiều-Nachdichtung, gab. Als Abschiedsgeschenk von Ho Chi Minh erhielt Franz Faber die bilinguale vietnamesisch-französische Kiều-Ausgabe des Gelehrten Nguyễn Văn Vĩnh aus dem Jahr 1951, und zwar mit einem dezenten Hinweis des Präsidenten: „Vielleicht können Sie damit etwas anfangen.“
Bevor Franz Faber in den Besitz des vietnamesisch-französischen Kiều-Buchs von Nguyễn Văn Vĩnh kam, lernte er während des Aufenthaltes in Hanoi bereits eine andere prominente französische Kiều-Ausgabe kennen, nämlich die lyrische Übertragung durch René Craissac aus dem Jahr 1926. Allerdings gewann er schnell die Überzeugung, dass es dem französischen Nachdichter tatsächlich gelungen war, „aus Kiều eine Marianne zu machen“, was seiner Vorstellung einer kongenialen Übertragung des Epos widersprach. Zu Hause angekommen, strebte Faber zunächst an, die deutsche Übersetzung anhand der französischen Prosafassung und der entsprechenden Erläuterungen von Nguyễn Văn Vĩnh zu erarbeiten. Irene Faber lehnte jedoch die Übersetzung über eine Drittsprache ab. Und da beide bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Vietnamesischkenntnisse hatten und nur über ein rudimentäres Verständnis der asiatisch-vietnamesischen Kulturtraditionen verfügten, legten sie das Übersetzungsprojekt einstweilen auf Eis. Das änderte sich 1956, als ein Sprachlehrer aus Vietnam an die Humboldt-Universität kam und dort Vietnamesisch-Unterricht erteilte. Irene Faber nahm daraufhin das Erlernen der vietnamesischen Sprache auf, meistens im Privatunterricht. Franz Faber nahm sporadisch am Unterricht teil. Es oblag vor allem Irene, sich den direkten Zugang zur Originalsprache des Werks zu erarbeiten. Dass der Übersetzungsprozess letztlich mehr als sieben Jahre in Anspruch nahm, ging auf die Sorgfalt von Irene Faber zurück und ihrem tiefen Respekt vor dem Original, dem Dichter und dem Volk, das diese Literatur hervorbrachte. Während dieser langen Zeit der Übersetzungsarbeit stellte sie nicht nur tausende Karteien zu den Stichworten, Wendungen oder klassischen Metaphern des Originals zusammen. Sie setzte sich auch gemeinsam mit ihrem Mann mit den Grundlagen der fernöstlichen Kultur und Geschichte, vor allem mit dem Buddhismus, auseinander. Franz Faber schrieb lange Jahre nach dem Tod seiner Frau, dass die hohe Wertschätzung für die gemeinsame Nachdichtung „neben der sprachwissenschaftlichen Exaktheit Irenes ihrem besonderem Gespür für fremde Welten und Lebensräume, für das philosophische Denken anderer Kulturen“ zu verdanken war.
Wie sich die Ergebnisse der Zusammenarbeit von Irene und Franz Faber in die Textgestalt ihrer Nachdichtung niederschlugen und wie sich hieraus eine bestimmte Poetik entwickelte, habe ich in zwei anderen Beiträgen - einer in Deutsch verfassten kurzen Beispielanalyse anhand des Prologes des Versepos und einem längeren Essai in der vietnamesischen Sprache - zu deuten versucht. Als Fazit für diese Kurzdarstellung der Entstehungsgeschichte mögen die folgenden Überlegungen stehen. Da ist zum einen die sieben Jahre dauernde gemeinsame Übersetzungsarbeit von Irene und Franz Faber, in der Irene als die eigentliche Übersetzerin mit dem höchsten Anspruch an philologische Akribie und Franz als der kreative Dichter, als Schöpfer der deutschen lyrischen Nachdichtung Hand in Hand gearbeitet haben. Über den Rahmen dieses konkreten Projekts hinaus war es ein wundersames Zusammentreffen von zwei beeindruckenden deutschen Biographien: ihm, dem frankophilen Wehrmachtsoldaten aus dem westlichen Düren; ihr, der polyglotten Fremdsprachenkorrespondentin aus dem östlichen Senftenberg. Es ist die Geschichte einer großen Liebe durch die Wirren der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, welche der unsterblichen Liebe zwischen Kim Trọng und Thuý Kiều in dem Versepos “Das Mädchen Kiều” des vietnamesischen Klassikers Nguyễn Du aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert nicht unähnlich ist. Dass aus all dem ein Lebenswerk geworden ist, welches zugleich das tiefsinnigste und bedeutendste Denkmal der sprachlich-kulturellen Verbundenheit zwischen zwei sich bis dahin fremden Völkern darstellt, ist eine Geschichte, die sich lohnt, weitererzählt zu werden, gerade in einer Zeit, in der beinahe alle fest geglaubten Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten von einem auf den anderen Tag wegzubrechen drohen.