North Essex
A. L. Kennedy, Autorin

Von A. L. Kennedy

A. L. Kennedy © © Robin Niedojadlo A. L. Kennedy © Robin Niedojadlo

Was versinnbildlicht für Sie die aktuelle Situation persönlich oder in Ihrem Land?

Während die Tage vorbeiziehen, empfinde ich, wie viele andere Menschen auch, diese seltsame Mischung aus Angst und Zorn in meiner Brust. Vermutlich sind wir alle besorgt um unsere Liebsten und um all diese Fremden, denen wir plötzlich am Bildschirm, online, weltweit, begegnen. In Großbritannien schauen wir unserer Regierung dabei zu, wie sie in feinen Anzügen nichts unternimmt; wir hören sie lügen und ablenken, während wir die Wahrheit mehr denn je brauchen. Wir sehen – abermals – enorme Unterschiede in Politik und den öffentlichen Gesundheitswesen zwischen den verschiedenen Regionen des Vereinigten Königreichs. Und jeden Tag sterben jetzt Menschen, die nicht hätten sterben müssen. Jeden Tag erfahren wir mehr über Hilfs- und Ausrüstungsangebote, welche von unserer politischen Führung im Namen aller Regionen abgelehnt wurden. Amtliche Dummheit, Narzissmus und Faulheit vereinigen sich, um uns zu vernichten. Es gibt aber auch diese Welle von außergewöhnlicher Liebe für Menschen, die wir niemals zuvor getroffen haben, von Bewunderung für ihren Mut und ihre Aufopferung. Ich befinde mich im Moment nicht in Schottland – ich vermisse es mehr denn je. Glasgow vermisse ich zutiefst. Der Himmel ist beinahe komplett frei von Flugzeugen und in unseren Gärten und Straßen sind jetzt Tiere und Vögel zu entdecken, die vorher von unserer Anwesenheit vertrieben worden waren. Plötzlich kann eine einzige Blume bedeutsam und aufbauend sein. Der Klang von Vogelgesang bricht unser Herz auf ungeahnte Weise. Wir genießen es, nachlässig ausschauenden Prominenten zuzusehen, die aus ihrem Zuhause mit einer neuen Ehrlichkeit und Eindringlichkeit zu uns sprechen. Dahinter verbirgt sich das nicht zu greifende Bild – die Person im Koma, durch Maschinen beatmet.

Wie wird die Pandemie die Welt verändern? Welche langfristigen Folgen der Krise sehen Sie?

Wenn wir hier in Großbritannien wieder Licht am Ende des Tunnels sehen, werden wir weniger Rechte und unsere Regierung mehr willkürliche Machtbefugnisse besitzen. Es wird eine wachsende Ungeduld geben, was das Thema Unabhängigkeit angeht, jedoch auch großen Schaden und Unsicherheit. Es ist immer noch nicht unwahrscheinlich, dass die durch den No-Deal-Brexit verursachten Schäden zu den Wunden des Covid-19 hinzugezählt werden. Langsam wird sich die wahre Zahl der Todesopfer offenbaren. Die halbleeren Altenheime werden öffnen und die provisorischen Leichenkammern schließen. Vielleicht werden wir die Fähigkeit haben, massenhaft auf Covid und Covid-Resistenz zu testen, und dadurch einige von uns aus unserer Abgeschiedenheit befreien. Es wird enorme Wut geben, enormes geteiltes Leid. Lehrer*innen, Krankenpfleger*innen, Logistikpersonal, Busfahrer*innen, Verkäufer*innen, Reinigungskräfte – so viele Menschen, von denen wir jetzt wissen, wie wesentlich sie sind, werden fehlen. Die Angst vor Ansteckung, ebenso die im Schatten von Covid verabschiedeten Gesetze mögen uns vom Randalieren abhalten, vielleicht aber auch nicht. Die Zahl der Todesopfer unter Polizisten und Soldaten, denen man keine Schutzkleidung gegen die Krankheit zur Verfügung gestellt hat, könnte dazu führen, dass gewisse Teile unseres öffentlichen (Zusammen-)Lebens zusammenbrechen, wenn es keine Kräfte gibt, die einerseits unseren Frieden und andererseits unsere entsetzliche Führung in Westminster schützen können. Unsere Infrastruktur, unser Gesundheits- und Pflegewesen, unsere Lokalverwaltung, die öffentlichen Dienste und unsere nationalen Ressourcen werden in Trümmern liegen, unterstützt nur noch von einem losen Netzwerk aus Freiwilligen und zivilgesellschaftlich orientierten Einrichtungen und Initiativen.

Was macht Ihnen Hoffnung?

In der Zeit danach werden wir gelernt haben, einander zu lieben – schwarz, weiß, Moslem, Atheist, Jude, Christ, männlich, weiblich, Transgender, homosexuell, heterosexuell, alt, jung – all diese Etiketten, benutzt, um uns zu trennen, sind bedeutungslos geworden. Wir haben Menschen gesehen, die helfen, und Menschen, die nicht helfen. Die Helfer sind uns lieber. Wir nehmen bereits wahr, wie stark wir sind. Unsere Führung in Großbritannien ist von ihrer erlernten Hilfslosigkeit, Idiotie und Selbstbesessenheit überwältigt – wir preisen diese Dinge schon nicht mehr als modische Attribute. Die schottischen, nordirischen und walisischen Behörden haben besser abgeschnitten, sind aber oft unsichtbar in der britischen Presse. Die Gutherzigkeit ist bereits zu uns zurückgekehrt. Wir hungern danach, sie anzubieten und zu empfangen. Die Glorifizierung von Unmenschlichkeit als Stärke verblasst allmählich. Die Vorstellung, Geld sei wichtiger als das menschliche Leben, erscheint uns längst absurd. Die Vorstellung, dass wir jemals sicher sein können, während einige von uns nicht sicher sind – selbst die Meistverachteten –, scheint bereits wie ein Tor zum Massenselbstmord. Der Gedanke, dass wir keine Massenaktionen zur Verteidigung der Natur gegen den Klimawandel durchführen können, wird uns lächerlich vorkommen. Wir sind bereit, anders zu sein, glücklicher, nützlicher, liebevoller zu unseren Lieben und eher in der Lage, viele zu lieben.

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