Aufstiegsgeschichten   Take a seat?

Take a seat? © Inside Weather at Unsplash

Sind Aufstiegsgeschichten in der Literatur hilfreiche Motivatoren oder manipulative Märchen? Dazugehören (oder nicht) war im 20. Jahrhundert vor allem eine ökonomische Fragestellung. Der Blick auf soziale Dynamiken hat sich seitdem weiterentwickelt, die Einordnung in soziale Klassen geht mittlerweile über rein ökonomische Faktoren hinaus.

Aber die Literatur macht es sich häufig leicht: Wenn man nur will, kann man „es“ schon schaffen lautet das Credo, und dem Publikum gefällt’s. Eine Vielzahl an Faktoren werden dabei ignoriert, das Erfolgsrezept einer ganzen Reihe von Buchveröffentlichungen der letzten Jahre scheint fraglich.

Moderne Klassengesellschaft 

Gesellschaften produzieren aufgrund unterschiedlicher Faktoren Barrieren, die die sozialen Strukturen ihrer Mitglieder bestimmen und so eine Art „moderne Klassengesellschaft“ entstehen lassen. Der von Marx und Engels ideologisch geprägte Klassenbegriff ist mittlerweile wohl etwas aus der Mode gekommen. Dabei ist die Frage nach dem Einkommen und Eigentum einer Person nicht mehr das einzige Merkmal, um deren Position innerhalb der Gesellschaft festzulegen. Während Marx „Außenseiter“ vor allem im Kontext derjenigen betrachtet, die sich außerhalb des kapitalistischen Systems befinden, ist die Realität im Jahr 2024 komplexer.

Bereits seit den 80er Jahren weist der französische Soziologe Pierre Bourdieu auf die religiösen und kulturellen Prägungen hin, die neben ökonomischen Faktoren eine Klassifizierung der Bevölkerung begünstigen. Unterschiedliche kulturelle Lebenswelten sind demnach Nährboden und Definition sozialer Disparitäten. Das Gefühl, außerhalb einer bestimmten „Klasse“ zu stehen, dient in der Literatur oft als Vorlage für Erzählungen, in denen der*die Protagonist*innen ihr Leben selbst in die Hand nehmen und durch reine Willenskraft einen raketenhaften vertikalen Aufstieg quer durch die sozialen Schichten vollführen.

Zwischen den Stühlen

Ein gutes Beispiel hierfür ist der autobiografische Roman des deutschen Journalisten und Autoren Christian Baron Ein Mann seiner Klasse, in dem er die Erfahrungen seiner Kindheit und den Wunsch nach Zugehörigkeit verarbeitet. Er beschreibt das Gefühl, in einem reichen Land unter ärmlichen Bedingungen aufzuwachsen und sozusagen zwischen den Stühlen zu sitzen. Der Roman sorgte für Kontroversen, da er sich monozentrisch um Barons Wahrnehmung der eigenen Geschichte dreht, und sich daraus kein allgemeines gesellschaftliches Problem ableiten lässt.

Doch genau das ist sein Anspruch. Er greift das Motiv des Außenseiters auf, das häufig als Aufhänger für Erzählungen über das Streben nach Integration dient. In diesen Geschichten geht es fast ausschließlich um den Versuch, Teil einer neuen „Umgebung“ zu werden. Es gelingt den Protagonist*innen jedoch trotz aller Anstrengungen nur teilweise, sich in der neuen Umgebung zu integrieren. Die Journalistin Isabelle Rogge beschreibt diesen Zustand wie folgt: „Lange wusste ich dieses Gefühl nicht richtig zu verbalisieren. Das Gefühl, dass ich in gewissen Kreisen nicht mehr so richtig und in anderen nie wirklich dazugehören werde.“

Der Graben dazwischen  

Doch wie gelingt es, den Graben zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten zu überwinden und diesen schließlich hinter sich zu lassen? Neben dem Vertrauen, das andere in einen setzen, braucht es vor allem den Glauben an sich selbst. Das allein reicht allerdings nur selten aus. Christian Baron ist der „Bildungsaufstieg“, wie er es selbst nennt, gelungen. Und doch begleitet ihn die Vergangenheit bis in die Gegenwart, behaftet von dem Gefühl der Andersartigkeit. Ein aktuelles Beispiel liefert der amerikanische Politiker J.D. Vance, der in seinem 2016 erschienenen Buch Hillbilly Elegy neben seiner Lebensgeschichte, die sozialen Probleme der weißen amerikanischen Arbeiterklasse thematisiert. Vance wuchs in einer Arbeiterfamilie auf und wurde bereits in jungen Jahren mit Arbeitslosigkeit und Sucht konfrontiert. Auch er verlässt seine Heimat und lässt die Vergangenheit scheinbar hinter sich. Nach seinem Dienst bei den Marines absolvierte er ein Studium an der Yale Law School, was ihm den Weg in die Politik ebnete. Doch Vance kehrt in seine Heimat Ohio zurück und wird 2024 zum Vizepräsidentschaftskandidat unter Donald Trump.

Parallelen finden sich auch bei dem deutschen Stand-Up-Comedian, Podcaster und Autor Felix Lobrecht, der in seinem Roman Sonne und Beton eine ähnliche Lebensgeschichte erzählt. Lobrecht strebte danach, seine schwierige Kindheit in der Neuköllner Plattenbausiedlung Gropiusstadt hinter sich zu lassen und in die akademische Oberschicht aufzusteigen. Trotz seines Studentenstatus (Politikwissenschaft) und seiner Anpassungsbemühungen – wie das Tragen von alternativer Kleidung und sein Engagement beim Poetry Slam – bleibt auch bei ihm die Fusion mit der elitären Oberschicht aus. „Ich habe dann aber irgendwie gemerkt, dass ich, selbst wenn ich so aussehe wie die anderen, trotzdem nicht in diese Gruppe aufgenommen werde.“

Bänke und Barrieren

Der Begriff „transclasse“ (Klassenübergänger) der französischen Philosophin Chantal Jaquet verdeutlicht, dass soziale Schichten nicht einfach ineinander übergehen, sondern durch Barrieren voneinander getrennt sind und so den sozialen Aufstieg erschweren. In der Literatur werden solche „Grenzgänge“, wie Isabelle Rogge sie nennt, oft vereinfacht und idealisiert dargestellt, wodurch ein einseitiges Bild entsteht. Auch außerhalb der Literatur existieren geradezu traumhafte Geschichten des sozialen Aufstiegs: Eminem, Oprah Winfrey oder Céline Dion. Doch diese Beispiele sind oft die Ausnahme. Tatsächlich erfordert sozialer Aufstieg neben außergewöhnlichen Fähigkeiten, Glauben und Glück dabei vor allem eines: harte Arbeit.

Echte Integration bedeutet jedoch nicht nur Anpassung und äußere Transformation, sondern auch Akzeptanz der eigenen Identität. Ein erster richtiger Schritt ist es, die Problemstellung in ihrer Einzigartigkeit und Komplexität anzuerkennen und konkrete Lösungen anzubieten, etwa durch bessere Bildungschancen und Zugang zu Wohnraum. Dadurch könnten Barrieren und Vorurteile schrittweise abgebaut und eine durchlässigere, inklusivere Gesellschaft entstehen. Eine Gesellschaft, sozusagen voller Bänke statt einzelner Stühle, in der Begegnungen auf Augenhöhe möglich sind - unabhängig von der sozialen Herkunft.
 

Über das Buch

Christian Baron „Ein Mann seiner Klasse“
Ullstein Taschenbuch, Berlin 2021
ISBN 9783548064673
Verlagsseite
In der Onleihe

Der 10-jährige Christian wächst mit seinen drei Geschwistern und seinen Eltern in schwierigen Verhältnissen auf. Eine eingetretene Wohnungstür, ein zu Gewalt neigender Vater und finanzielle Probleme begleiten die Kindheit des Jungens. Auch wenn Christian die Wut seines Vaters Ottes oft am eigenen Leib erfährt, stellt dieser für ihn eine Art Helden dar. Als Christian eine Gymnasialempfehlung erhält, ändert sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn grundlegend. Während die an Krebs erkrankte Mutter den Schulwechsel befürwortet und sich für Christian ein besseres Leben erhofft, ist Ottes vehement dagegen. Mit dem Tod der Mutter scheint die Sache entschieden, wäre da nicht Christians Tante Juli, die den Wunsch ihrer verstorbenen Schwester doch noch erfüllen will. 

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