„Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben”
Es gibt reichlich Gründe, warum wir zu viel Zeug kaufen. Einige Motivationen werden uns geschickt von der Gesellschaft und der Werbung aufgeschwatzt. Aber andere Ursachen scheinen aus unseren eigenen inneren Motivationen zu entstehen, und unter diesen drängt uns ein ganz bestimmter, recht boshafter Impuls in den Konsumrausch. Reaktive Käufe und das Phänomen des Erwerbs neuer Besitztümer, die dann zu einer Spirale des Konsums führen, sind als der Diderot-Effekt bekannt geworden. Diesen Effekt zu verstehen ist entscheidend, wenn Sie Ihren Konsum einschränken und vermeiden möchten, Geld für Dinge auszugeben, die Sie nicht benötigen.
Verflucht sei das kostbare Gewand
Der französische Philosoph, Kunstkritiker und Autor Denis Diderot, eine Schlüsselfigur im Zeitalter der Aufklärung, verbrachte den größten Teil seines Lebens nahezu in Armut. Diderot war als Mitbegründer und Autor der Encyclopédie, einer der umfassendsten Enzyklopädien ihrer Zeit, aber weithin bekannt. Als Katharina die Große, die Kaiserin von Russland, 1765 von Diderots finanziellen Schwierigkeiten hörte, kaufte sie großzügig seine 3.000 Bände umfassende persönliche Bibliothek und stattete ihn mit einem lebenslangen Stipendium für seine Rolle als Bibliothekar dieser Sammlung aus. Diderot hatte plötzlich richtig Geld, und kurz nach diesem vorteilhaften Verkauf kam Diderot zu einem neuen scharlachroten Mantel. Damit fing die Sache an aus dem Ruder zu laufen...Diderots neuer scharlachroter Mantel war wunderschön. So wunderschön, dass er sofort bemerkte, wie deplatziert er schien, wenn er von seinen übrigen gewöhnlichen Besitztümern umgeben war. Der Philosoph verspürte bald den Drang, neue Dinge zu kaufen, die zur Schönheit seines Mantels passten. Er ersetzte seinen alten Teppich durch einen neuen aus Damaskus. Er dekorierte sein Zuhause mit schönen Skulpturen und einem besseren Esstisch. Er ersetzte seine mittelmäßigen, aber geliebten Drucke durch neue. Er kaufte einen neuen Spiegel, den er über den Kaminsims stellte, und sein „Strohsessel wurde von einem Ledersessel in das Vorzimmer verbannt.” Doch anstatt sich zufrieden und dankbar für sein Glück zu schätzen, empfand Diderot eine große Unzufriedenheit, weil nichts mehr zu seinem gewohnten Stil und Status zu passen schien. In seinem Essay aus dem Jahr 1769 mit dem Titel Regrets sur ma vieille robe de chambre (”Bedauern über die Trennung von meinem alten Morgenrock”) beklagte Diderot, wie der Erhalt des neuen Morgenrocks, der ihn veranlasste, all seine Besitztümer durch neue zu ersetzen, letztendlich zu einem Gefühl tiefer Unzufriedenheit und existenzieller Angst führte.
„Mein alter Morgenrock war eins mit den anderen Lumpen, die mich umgaben. Ein Strohsessel, ein „Holztisch, ein Teppich aus Bergamo, ein Holzbrett, das ein paar Bücher trug, ein paar rauchige Drucke ohne Rahmen, die an dieser Tapisserie an ihren Ecken hingen. Zwischen diesen Drucken bildeten drei oder vier aufgehängte Gipsformen zusammen mit meinem alten Morgenrock die harmonischste Bedürftigkeit. Alles ist jetzt disharmonisch. Keine Koordination mehr, keine Einheit mehr, keine Schönheit mehr.”
Denis Diderot
Diderots Lektion
Der Begriff „Diderot-Effekt” wurde 1988 vom Anthropologen und Konsumverhaltensforscher Grant McCracken geprägt und popularisiert. Unter Bezugnahme auf Diderots Essay behauptet Grant McCracken, dass, wenn ein gut etabliertes Konsummuster gestört wird, wie beim Erwerb eines luxuriösen roten Mantels zum Beispiel, Individuen dazu tendieren, ein neues Konsummuster zu etablieren, das mit der Qualität und dem Status, die von diesem bestimmten Gegenstand symbolisiert werden, in Einklang steht.McCracken verwendet den Begriff „Diderot-Effekt”, um das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Objekten innerhalb von „Produktkomplementen” oder „Diderot-Einheiten und Konsumenten zu beschreiben. Eine Diderot-Einheit bezieht sich auf eine Gruppe von Objekten, die kulturell miteinander komplementär sind, in der Regel zusammen konsumiert werden und auf Grundlage des Lebensstils eine innere Konsistenz aufweisen. McCracken beschreibt, dass ein Verbraucher weniger geneigt ist, von seiner bevorzugten Diderot-Einheit abzuweichen, um ein kohärentes Erscheinungsbild oder eine Repräsentation seiner sozialen Rolle zu verfolgen. Das bedeutet auch, dass der Erwerb eines Gegenstands, der nicht zur bevorzugten Diderot-Einheit passt, zu einer Verschiebung in den Entscheidungen des Verbrauchers führen kann, was sie möglicherweise dazu veranlasst, eine völlig andere Diderot-Einheit zu übernehmen. Angenommen, Sie beginnen mit einem hochwertigen Laufband in Ihrem Zuhause. Wenn Sie es oft genug verwenden, verspüren Sie bald das Bedürfnis, Gewichte, Widerstandsbänder, eine Yogamatte und andere Fitnessgeräte hinzuzufügen, um ein passables Home-Gym zu schaffen. Mit ein bisschen Glück und wenn Sie diszipliniert genug sind, werden Sie möglicherweise einen viel gesünderen Lebensstil annehmen, der dann wiederum den Einsatz teurerer Ernährungsoptionen und einen Schrank voller Trainingskleidung und Gerät nach sich zieht. Wenn es ihnen aber wie den meisten von uns geht, werden Sie bald einen Flohmarkt mit dem Kram veranstalten. Fast jeder kennt sowas irgendwie; diese unzähligen Aufbewahrungsboxen oder überfüllten Schränke erzählen von unserem Versagen, dem Effekt zu widerstehen, und Ihr fabelhaftes Laufband in den Kleinanzeigen wird womöglich bald ein anderes Opfer des Diderot-Schicksals locken. ... So dreht sich das im Kreis.
Der Begriff ist inzwischen in Diskussionen über nachhaltigen Konsum weit verbreitet. Die Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Juliet Schor verwendet das Bild in ihrem Buch von 1992 „The Overspent American: Why We Want What We Don't Need” („Der Überversorgte Amerikaner: Warum wir wollen, was wir nicht brauchen”), um diese Prozesse des wettbewerbsorientierten, statusbewussten Konsums, der von einer unstillbaren Unzufriedenheit getrieben wird, zu beschreiben. Schors Essay von 2005 „Learning Diderot’s Lesson: Stopping the Upward Creep of Desire” („Lernen aus Diderots Lehre: Das Aufhalten des aufsteigenden Verlangens”) beschreibt den Effekt im Kontext der negativen psychologischen, sozialen und Umweltauswirkungen in der zeitgenössischen Konsumkultur und gibt Ratschläge, wie man dem Effekt entkommen kann, um die Umweltauswirkungen von Überkonsum und verschwenderischem Lebensstil zu reduzieren: „Verlangen kontrollieren, eine neue Verbrauchersymbolik schaffen (Manipulative Marketingstrategien erkennen und vermeiden), lernen zu leihen und zu teilen (öffentliche Bibliotheken sind ein gutes Beispiel), die Rituale entkommerzialisieren (Weihnachten, Valentinstag, Halloween, Geburtstage... zu etwas anderem machen als nur eine Gelegenheit für Geschenke), kostenfreie Optionen nutzen, die Sofortbefriedigung unterdrücken...” und andere Strategien für einen Lebensstil, der den Überkonsum eindämmt.
Aber Moment – da geht noch mehr...
Der Diderot-Effekt hat im Allgemeinen eine negative Konnotation als ein „böser Instinkt des Bequemen”, der uns praktisch zum Überfluß nötigt. Aber im Kern geht es beim Diderot-Effekt auch um die Notwendigkeit einer Harmonie zwischen unserem Selbstbild, und unserer äußeren Umgebung und kann durchaus als positiv angesehen werden, indem er Identität und Zugehörigkeitsgefühl im Leben einer Person stärkt. Den Diderot-Effekt als eine relevante Zwang zu begreifen, und ihn zu überwinden ist zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Mit Gleichgestellten in unserer jeweiligen konsumorientierten Identitätsblase nicht mitzuhalten wird oft als Zeichen für sozioökonomische oder kulturelle Minderwertigkeit interpretiert. Im Umkehrschluss beschreibt es aber auch einen wachsenden Widerstand gegen die Konsumkultur, eine Bewegung von Menschen, die aufmerksam reduzieren, nur ihre unmittelbaren und minimalistischen Bedürfnisse befriedigen, und mit weitaus mehr Bedacht konsumieren.Diderots Schicksal verdeutlicht, warum es so einfach ist, das Gefühl zu haben, nie genug zu bekommen, und wieviel Zufriedenheit und Seelenfrieden eine aufmerksamere und wirtschaftlichere Lebensweise denjenigen bieten kann, die davon betroffen sind.
„Ich weine nicht, ich seufze nicht, aber in jedem Moment sage ich: Verflucht sei der, der die Kunst erfunden hat, gewöhnliches Material zu einem Preis zu färben. Verflucht sei das kostbare Gewand, das ich verehre. Wo ist mein alter, mein bescheidener, mein bequemer Stofflappen? Meine Freunde, behaltet eure alten Freunde. Meine Freunde, fürchtet die Berührung des Reichtums. Möge mein Beispiel euch eine Lektion lehren. Die Armut hat ihre Freiheiten; der Reichtum hat seine eigenen Herausforderungen.”
Der bescheidene Lebensstil eines unkompromitierten Diderots, ähnlich dem eines bewussten Verbrauchers im 21. Jahrhundert, bedeutet weniger Verschwendung und eine Absage an teure Gewohnheiten. Also, weniger ist mehr? Jeder weiss, dass das schwer zu vermitteln ist, ... aber genauso schwer ist es eine gebrauchte Yogamatte auf einem Flohmarkt zu verhökern.
Original Text: https://fr.wikisource.org/wiki/Regrets_sur_ma_vieille_robe_de_chambre
Englische Übersetzung: https://www.marxists.org/reference/archive/diderot/1769/regrets.htm
Deutsche Übersetzung: https://www.zeit.de/1989/49/gruende-meinem-alten-haurock-nachzutrauern