Sprechstunde – die Sprachkolumne  Die Sprachwelt der Ausgegrenzten

Illustration: Eine Person, von ihren Augen führt eine verschlungene Linie in Richtung eines Zeichens (gezackte Linie – ein „Zinken“) auf einer Wand
„Zinken“: an Häusern und Weggabelungen angebrachte Zeichen Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Was bedeutet eigentlich Rotwelsch? Seit wann gibt es diesen besonderen Wortschatz? Wer spricht so und warum? Klaus Siewert klärt uns auf. Er wirft einen Blick zurück ins Zeitalter Martin Luthers und zieht eine Linie bis in die Literatur der Gegenwart.

Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche durch Martin Luther gilt als Wegbereiterin für eine überregionale Verständigung in Deutschland und als Basis für die sich in den nächsten Jahrhunderten in deutschen Landen entwickelnde „neuhochdeutsche Schriftsprache“, unser heutiges „Hochdeutsch“. In seiner Übersetzung bemüht sich Luther darum, eine Sprachform zu finden, die möglichst weiträumig verstanden werden konnte – als Alternative zu unterschiedlichen Übersetzungen in die verschiedenen Mundarten der Franken, Thüringer, Bayern, Alemannen, Schwaben und Sachsen, in die das deutsche Sprachgebiet zersplittert war. Ein Sachse der damaligen Zeit verstand einen Bayern nicht oder nur schwer, so wenig wie ein Schwabe seinen thüringischen Landsmann im Osten des deutschen Sprachgebiets. Aber Vorsicht: wenn man damals oder heute eine Mundart nicht verstehen konnte, wird sie dadurch nicht zur Geheimsprache.

Luthers Leidenschaft

Ermüdet von seinem Ringen um die richtigen Wörter für seine Bibelübersetzung, Exegesen und religionspolitischen Diskurse ging Luther seinen besonderen Interessen nach: Seine Neugier galt dem Rotwelsch, das sich im 12./13. Jahrhundert auf der Grundlage der mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen Mundarten als überregionale Geheimsprache entwickelt hatte. 1528 veröffentlicht er das Werk Von der falschen Betler Büberey. Das handelt hauptsächlich von verschiedenen Typen und Techniken des Bettelns und gründet auf dem 1510 veröffentlichten Liber Vagatorum, dem Buch der Umherschweifenden. Dem Werk angehängt ist ein Rotwelsch-Deutsches Wörterbuch mit 219 Einträgen, eine der ältesten Dokumentationen des Rotwelsch und zugleich ein Versuch seiner Entschlüsselung.

Austausch zwischen Benachteiligten

Es ist die Sprache der Angehörigen des sogenannten „fünften Standes“, der Vaganten, Outlaws und sozial Benachteiligten der Zeit. Sie wird über Jahrhunderte weitertradiert, bildet die Basis für die späteren „Rotwelsch-Dialekte“ und wird noch heute ganz vereinzelt von Handwerksburschen auf der Walz gesprochen. Die beabsichtigte geheimsprachliche Funktion wird durch Wortneubildungen aus muttersprachlichen Lexemen und Morphemen sowie durch Neosemantisierung, bewusst herbeigeführte Veränderungen der Bedeutung von Wörtern, erreicht:
  • rotboß = Bettlerherberge
  • wintfang =Mantel
  • kleckstein  = Verräter
  • bschiderich = Amtmann
  • zwicker = Henker
  • iltis = Stadtknecht
Spätestens im 18. Jahrhundert ist Rotwelsch dann auch von Leuten adaptiert worden, die in der Grauzone von Recht und Unrecht und nicht selten auch in betrügerischer Absicht unterwegs waren. Die vom Verständnis Ausgegrenzten hielten dagegen und bemühten sich um etwa mit dieser speziellen Grammatik Entschlüsselung: Absonderlich denenjenigen zum Nutzen und Vortheil … die sich dieser Sprache befleißigen, zu erkennen, um ihren diebischen Anschlägen dadurch zu entgehen …
„Rotwellsche Grammatik“ von 1755 (ed. Siewert, 2019)

„Rotwellsche Grammatik“ von 1755 | ed. Siewert, 2019

Zeichen an der Wand

Über die Jahrhunderte werden das alte Rotwelsch und die späteren „Rotwelsch-Dialekte“ von nicht-sprachlichen geheimen Botschaften begleitet, den sogenannten „Zinken“; das sind an Häusern und Weggabelungen angebrachte Zeichen, die als Ausdruck der Solidarität der Gemeinschaft der Vaganten und Fahrenden informieren und warnen – und auch von Gaunern gern genommen wurden:
Zinken (Windolph, 1998, p. 19)

Zinken (Windolph, 1998, p. 19) | Windolph, 1998, p. 19

„Hast du wieder Mondfinsternis gemacht, um besser zu mausen?“ fragte lachend der Landsknecht. – Denkeli aber blickte scharf zur Seite zwischen die dunkeln Bäume, dort waren die andern unterdes wieder zusammengetreten und redeten heimlich untereinander in der Spitzbubensprache. – Ein im Schutz der dunklen Nacht begangener Diebstahl? Weit gefehlt. Rund 300 Jahre nach Martin Luthers Herausgabe des rotwelschen Wörterverzeichnisses entdecken die deutschen Romantiker das Rotwelsch als Stilmittel für ihre literarischen Werke. Was Joseph von Eichendorff in seiner Novelle einem seiner „Glücksritter“ des Dreißigjährigen Krieges in den Mund legt, heißt bei Hans Fallada auf Bruch gehen, ein Ding drehen, um dann schließlich in den Zet zu kommen und den Kittchenhengsten ausgeliefert zu sein.

Bestandteil der Literatur

Nach der Idyllisierung des mit Freiheitsidealen assoziierten Vagabundentums in der Romantik über die provokante Gesellschaftskritik im Blechnapf von Hans Fallada erscheint Geheim- und Sondersprache auch jenseits vom Bahnhof Zoo der Christiane F. in der deutschen Literatur der Gegenwart als konstitutives literarisches Element in immer wieder neuen Gewändern und Funktionen.

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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