Was bedeutet eigentlich Rotwelsch? Seit wann gibt es diesen besonderen Wortschatz? Wer spricht so und warum? Klaus Siewert klärt uns auf. Er wirft einen Blick zurück ins Zeitalter Martin Luthers und zieht eine Linie bis in die Literatur der Gegenwart.
Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche durch Martin Luther gilt als Wegbereiterin für eine überregionale Verständigung in Deutschland und als Basis für die sich in den nächsten Jahrhunderten in deutschen Landen entwickelnde „neuhochdeutsche Schriftsprache“, unser heutiges „Hochdeutsch“. In seiner Übersetzung bemüht sich Luther darum, eine Sprachform zu finden, die möglichst weiträumig verstanden werden konnte – als Alternative zu unterschiedlichen Übersetzungen in die verschiedenen Mundarten der Franken, Thüringer, Bayern, Alemannen, Schwaben und Sachsen, in die das deutsche Sprachgebiet zersplittert war. Ein Sachse der damaligen Zeit verstand einen Bayern nicht oder nur schwer, so wenig wie ein Schwabe seinen thüringischen Landsmann im Osten des deutschen Sprachgebiets. Aber Vorsicht: wenn man damals oder heute eine Mundart nicht verstehen konnte, wird sie dadurch nicht zur Geheimsprache.Luthers Leidenschaft
Ermüdet von seinem Ringen um die richtigen Wörter für seine Bibelübersetzung, Exegesen und religionspolitischen Diskurse ging Luther seinen besonderen Interessen nach: Seine Neugier galt dem Rotwelsch, das sich im 12./13. Jahrhundert auf der Grundlage der mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen Mundarten als überregionale Geheimsprache entwickelt hatte. 1528 veröffentlicht er das Werk Von der falschen Betler Büberey. Das handelt hauptsächlich von verschiedenen Typen und Techniken des Bettelns und gründet auf dem 1510 veröffentlichten Liber Vagatorum, dem Buch der Umherschweifenden. Dem Werk angehängt ist ein Rotwelsch-Deutsches Wörterbuch mit 219 Einträgen, eine der ältesten Dokumentationen des Rotwelsch und zugleich ein Versuch seiner Entschlüsselung.Austausch zwischen Benachteiligten
Es ist die Sprache der Angehörigen des sogenannten „fünften Standes“, der Vaganten, Outlaws und sozial Benachteiligten der Zeit. Sie wird über Jahrhunderte weitertradiert, bildet die Basis für die späteren „Rotwelsch-Dialekte“ und wird noch heute ganz vereinzelt von Handwerksburschen auf der Walz gesprochen. Die beabsichtigte geheimsprachliche Funktion wird durch Wortneubildungen aus muttersprachlichen Lexemen und Morphemen sowie durch Neosemantisierung, bewusst herbeigeführte Veränderungen der Bedeutung von Wörtern, erreicht:- rotboß = Bettlerherberge
- wintfang =Mantel
- kleckstein = Verräter
- bschiderich = Amtmann
- zwicker = Henker
- iltis = Stadtknecht
Zeichen an der Wand
Über die Jahrhunderte werden das alte Rotwelsch und die späteren „Rotwelsch-Dialekte“ von nicht-sprachlichen geheimen Botschaften begleitet, den sogenannten „Zinken“; das sind an Häusern und Weggabelungen angebrachte Zeichen, die als Ausdruck der Solidarität der Gemeinschaft der Vaganten und Fahrenden informieren und warnen – und auch von Gaunern gern genommen wurden:Bestandteil der Literatur
Nach der Idyllisierung des mit Freiheitsidealen assoziierten Vagabundentums in der Romantik über die provokante Gesellschaftskritik im Blechnapf von Hans Fallada erscheint Geheim- und Sondersprache auch jenseits vom Bahnhof Zoo der Christiane F. in der deutschen Literatur der Gegenwart als konstitutives literarisches Element in immer wieder neuen Gewändern und Funktionen.Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
Oktober 2024