Sprechstunde – die Sprachkolumne  Hamburger Spezialitäten

Illustration: Weit geöffnneter eckiger Mund mit einer gezackten Sprechblase die das Wort „Edelkiopperkli“ enthält
Das Wort „Kedelklopper“ in Kedelkloppersprache Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Heute lädt uns Klaus Siewert ein, ihn in das Hamburg von früher zu begleiten. Bei dieser Zeitreise lernen wir den Nachtjargon von St. Pauli kennen. Und wir erfahren, wie sich die Kesselklopfer auf den Werften unterhielten - trotz des infernalischen Lärms, den sie veranstaltet haben.

Die deutsche Sprache hat es nie gegeben. Von Beginn an existierte ein Nebeneinander des Verschiedenen, und das ist bis heute so geblieben. Die aus den unterschiedlichen westgermanischen Stammesdialekten hervorgegangen Mundarten kennen wir immer noch. Als Instrument überregionaler Verständigung steht uns seit rund 500 Jahren die Hochsprache zur Verfügung, auch Hochdeutsch oder Standardsprache genannt, flankiert von anderen Varietäten wie den Fachsprachen, regionalen Umgangssprachen und schließlich den Sonder- und Geheimsprachen. Dieser Flickenteppich erweist sich bei genauem Hinsehen hier und da noch viel kleinteiliger. Allein in Hamburg ließen sich bei unseren Feldforschungen über zehn verschiedene Geheim- und Sondersprachen feststellen.

Feldforschung im Rotlicht-Milieu

Auf dem Weg in eines der bekanntesten Stadtviertel der Welt: Wenn am Abend in Hamburg auf St. Pauli die Sonne unterging, erwachte der Nachtjargon, die Geheimsprache der Kiezer. Bis in die 1980er-Jahre wurde sie von Zuhältern, Kneipiers, Türstehern und Animateuren gesprochen und von den Prostituierten verstanden.

Irgendwann verstummte der Nachtjargon, und ich machte mich auf den Weg, um via Feldforschung in St. Pauli selbst die vom Vergessen bedrohte Sprache zu bewahren.

Ausschnitte aus einer Sprecherbefragung mit Stefan Hentschel, einem im Milieu berühmten Rotlicht-Paten und Zuhälter in St. Pauli: ballermann für „Pistole“, bring mir das Eisen mit, ballermann, bambule‚ Streit suchen, da wurde Zoff gemacht, bellutschika – Ich bin kein Zocker, Alter! Sollen wir den Buchstaben „C“ noch machen? Hüh, Dottore! … cappis, für Captagon „Aufputschmittel“, laß mal cappies rüberwachsen. – Dann: casmus. – Wie? – cesmus „lesbische Frau, die die männliche Rolle übernommen hat“.

Ein Tag später, wir sind beim Buchstaben L, gibt sich Hentschel bei der Erklärung des Nachtjargons ironisch: loreleysuppe, das ist eine „schlechte Brühe“, so ein Brühwürfel mit Heißwasser, wahrscheinlich, und dahinter steht der Anfang des Loreley-Gedichtes von Heine: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin…“; hühnerstrip – da würde jeder Freier denken, hühnerstrip, das hätte irgendetwas mit Striptease auf St. Pauli zu tun, das ist aber „ein Hähnchengrill“.
Sprecherbefragung mit Stefan Hentschel, St. Pauli, Annenstraße

Sprecherbefragung mit Stefan Hentschel, St. Pauli, Annenstraße | Siewert, Nachtjargon, 2003, 14

Aus der Kiezkneipe in die Hotelbar

Der Nachtjargon – eine hermetisch abgeriegelte Geheimsprache der alten Kiezer? Weit gefehlt! Spätestens in den 1950er-Jahren ist genau dieser Jargon von den Tanzkapellen aufgegriffen und auf diesem Wege in noble Hamburger Hotels jenseits der Reeperbahn transportiert worden. Im Zuge meiner Suche nach Resten des Nachtjargons traf ich Volker Zaum, den ehemaligen Bandleader des Quartetts „Die Playboys“. Er wusste noch von zwei Liedern mit Texten in Nachtjargon, die niemals veröffentlicht worden sind und als verschollen galten: „Achiele toff“ und „Nachtjargon“. Tatsächlich konnten wir einen alten Tonbandmitschnitts entdecken und damit die beiden einmaligen Nachtjargon-Vertonungen retten! Die Texte der beiden Lieder sind nach den Informationen von Volker Zaum vermutlich in den 1950er- oder 1960er-Jahren entstanden. Erdacht hat sie ein ehemaliger Kiez-Kneipier, an dessen Namen sich mein Gewährsmann nicht mehr erinnern konnte.
 
Achiele toff, maloche lau,
schi lobi, keine reibe,
kein geschicker von schabau,
keine fleppen, keine Bleibe!

 
Nach der Erinnerung meines Gewährsmannes hat es diese Liedtexte seinerzeit auch in schriftlicher Form gegeben, aber: „Die geschriebenen Texte habe ich bisher noch nicht gefunden“. Das in den 1950er-Jahren noch vorhandene Sprachwissen der Tanzmusiker ist ein halbes Jahrhundert später weithin verloren. Volker Zaum: „Hoffentlich verstehen Sie den Text besser als ich, denn manche Worte konnte ich nach so langer Zeit nicht mehr einordnen.“

Verständigung gegen den Lärm

Wir begeben uns in ein anderes Milieu: Unterhalb von St. Pauli, am Hafen in den Werften und an den Landungsbrücken, waren die Kedelklopper (Kesselklopfer) dabei, mit Pickhämmern den Kalkabsatz von den Kesselwänden der Dampfschiffe zu klopfen. Sie und erfanden eine Sprache, in der sie sich trotz des Lärms in den Kesseln verständigen konnten – durch Vokalisierung an den Wortgrenzen.

Esthi udi ali atwi eteni? Dieser ganz fremd klingenden Frage liegt das plattdeutsche „Hest du al wat eten?“ zugrunde: „Hast du schon etwas gegessen?“ Ein 70 Jahre alter Gewährsmann der Kedelkloppersprache erklärt das Verfahren: „Die Konstruktion ist denkbar einfach. Man nehme von jedem Wort oder jedem Wortteil alle Konsonanten vor dem ersten Vokal weg und setze sie unter Hinzufügung eines –i nach hinten, und fertig ist die Laube!“

Die in ihren Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Mikrokosmos der Kesselräume von Dampfschiffen beschränkte und gegenseitiger Verständigung dienende Sprache wurde später als Geheimsprache funktionalisiert, verbreitete sich über das ganze Hafengebiet und die Wohnviertel der Arbeiter. Besonders im Rahmen der Arbeitskämpfe in der Weimarer Republik nutzte man sie als Instrument interner Absprachen, bis sie dann mit dem Ende der Dampfschifffahrt Mitte der 1930er-Jahre verstummte.
Schiffszylinderkessel an der Nietpresse, in der Mitte die <i>Mannsluk</I>, durch die die Kedelklopper in die Kessel gelangten. Ottenser Eisenwerke, um 1930

Schiffszylinderkessel an der Nietpresse, in der Mitte die Mannsluk, durch die die Kedelklopper in die Kessel gelangten. Ottenser Eisenwerke, um 1930 | Siewert, Kedelkloppersprook, 2002, 21

Bei den Feldforschungen im Hafen überreichte mir einer meiner 80 Gewährsleute eine alte, zerbrochene Schellackplatte. Im Tonstudio des NDR erlebten wir eine Sensation: Auf der Platte befand sich ein Lied der Kedelklopper, auf Plattdeutsch, mit einem Refrain in der Kedelkloppersprache – das bis heute älteste bekannte Tondokument einer Geheimsprache weltweit:
 
Det morgens schon um halbig soß,
Dann könnt ji uns all sehn,
Dann goht wi henn no Blohm und Voß,
Uns Geld dor to verdeen.
Een Rundjer und blaue Bücks -
De Mütz ganz kühn im Nacken,
Getränk und Brot sind in de Tasch,
Een grote Tüt voll Swatten …

Wi sünd Amborgerhi Etelki-Opperkli, / wi arbeit’t öbendri bi Ohmbli und Oßvi, / sünd üzfidelkri un ümmer opperpri, / kaut Attenswi un hebt ändlichschi Ostdi

Ini ächsteni Olgefi kehren wir noch einmal nach Hamburg zurück. Dann führt uns unser Weg auf eine Elbinsel, wo wir die Schockfreiersprache erkunden.

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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