Es beginnt im Frühling und endet im Bauch: das Leben eines Marzipanweihnachtsmanns. In diesem Beitrag erzählt der süße Mandelmann selbst, wo er seinen Ursprung hat und wie weit seine Reise gehen kann. Eine Geschichte von Sina Bahr.
Ich gebe zu: Wenn es um weihnachtliche Süßigkeiten geht, bin ich in Deutschland selten die erste Wahl. Kein Wunder, denn ich habe starke Konkurrenz. Spekulatiuskekse, Vanillekipferl, Lebkuchen und Schokolade werden meist lieber verzehrt als ich. Über 24 Millionen Menschen gaben bei einer Umfrage an, mich selten oder sogar nie zu essen – während die Zahl meiner treuen Fans deutlich geringer ausfiel. Und doch bin ich besonders zu Jahresende nicht aus den deutschen Supermarktregalen wegzudenken. Denn Marzipan ist hierzulande Tradition.Vom Orient nach Lübeck
Dass ich heute das Leben eines Marzipanweihnachtsmann führen darf, ist allerdings nicht nur deutschen Traditionen zu verdanken. Historiker*innen führen meinen Ursprung auf den Orient zurück, wo die Mandel-Zucker-Mischung bereits um 900 n. Chr. als Heilmittel galt. Erst im späten Mittelalter etablierte sich Marzipan in Deutschland, die ersten Manufakturen entstanden im 19. Jahrhundert. Auch Johann Georg Niederegger eröffnete seine Herstellung in Lübeck zu dieser Zeit. Heute gilt das Lübecker Marzipan als eines der ältesten und bekanntesten.Marzipan hat also eine lange Geschichte, in der sich Form, Farbe und künstlerische Ausarbeitung immer weiterentwickelt haben. Neben klassischen, runden Marzipankartoffeln gibt es daher heute so bunte Figuren wie meine Wenigkeit. Und immer steckt dahinter ein spannender Entstehungsprozess – angefangen mit den Zutaten, die teilweise aus verschiedenen Orten weltweit stammen.
O Mandelbaum, o Mandelbaum!
Klassisches Marzipan wird in der Regel aus nur drei Rohstoffen hergestellt: Mandeln, Zucker und Wasser. Dabei sind Mandeln für den kräftigen Geschmack am wichtigsten. Mandelbäume bevorzugen vor allem mediterranes und trockenes Klima, typische Anbauflächen liegen daher in Kalifornien und Spanien. Es gibt aber auch in Deutschland so manche Ecken, an denen Mandelbäume bestens gedeihen, zum Beispiel im Süden der Pfalz, wo ein mildes, beinahe mediterranes Klima herrscht.Die Mandeln, aus denen mein Körper besteht, kommen aus Kalifornien oder dem Mittelmeerraum, aus Ländern wie Spanien, Marokko oder der Türkei. So erzählt es Hans-Peter Zürner, der Geschäftsführer von Funsch Marzipan – der Manufaktur, in der ich das Licht der Welt erblickte.
Hundert Tonnen Rohmasse
In Weidenberg, Landkreis Bayreuth, erschafft das Familienunternehmen mit seinen rund 30 Mitarbeitenden das ganze Jahr lang Marzipanfiguren verschiedenster Art: Hasen für Ostern, Kürbisse für Halloween, Glücksschweine für Neujahr oder Weihnachtsmänner zur Winterzeit. So unterschiedlich wir auch aussehen, haben wir doch alle die gleichen Schritte durchlaufen. Los geht es einige Monate bevor unsere jeweilige Saison anläuft. In meinem Fall bedeutet das: Weihnachtsstimmung herrscht in der Manufaktur bereits im Frühling!Benötigt wird zunächst die Marzipanrohmasse. Die lässt Funsch nach eigener Rezeptur bei einer externen Firma herstellen. Damit eine aufstellbare Figur entstehen kann, muss die Konsistenz stimmen: fein, gut formbar, aber auch so fest, dass die Figur nicht umfällt. Die fertige Rohmasse wird in verschweißten Blöcken geliefert, für die Wintersaison werden meist mehr als hundert Tonnen bestellt.
Maschinen, ran an‘s Werk!
Sobald die Rohmasse in der Manufaktur angekommen ist, wird sie weiterverarbeitet. Denn erst ab einem Verhältnis von 50 Prozent Rohmasse zu 50 Prozent Zucker gilt das Gemisch als Marzipan. Bei Funsch verwendet man sieben Teile Rohmasse zu drei Teilen Zucker: So ergibt sich die Qualitätsstufe Edelmarzipan. Je mehr Mandel- und weniger Zuckeranteil, desto hochwertiger und teurer ist das fertige Produkt.Für den Mischprozess kommen riesige Bottiche mit Rührwerken zum Einsatz, die Rohmasse und Zucker maschinell miteinander vermengen. Damit aus dem fertigen Marzipangemisch anschließend eine Figur entsteht, wird es gepresst. Eine Ober- und Unterschale, die gemeinsam meine Körperform ergeben, werden mit einer Handpresse aufeinandergedrückt – und schon kann ein nackter Weihnachtsmann herausgenommen werden. Von der klebrigen Masse zur fertigen Form: Dank maschineller Unterstützung ist das schnell getan.
Feinschliff in Handarbeit
Die entscheidende Handarbeit beginnt erst danach, wenn es darum geht, den farblosen Figuren ihren letzten Schliff zu verleihen. Dafür werden meine Weihnachtsmannbrüder und ich auf dem Rand eines Drehtisches aufgestellt. Schritt für Schritt erwachen wir zum Leben, mithilfe von Tülle, Pinsel und Airbrush. Augen, Bart, Mütze und Anzug werden von einer Person aus dem Funsch-Team präzise aufgetragen, bis der Tisch voller Männer in rot leuchtenden Outfits ist, die sich nun darauf freuen, hübsch verpackt und verschickt zu werden.Wohin geht die Reise?
Funsch beliefert Großhändler, Bäckereien und andere Läden in halb Europa, Kanada und den USA. So werden manche von uns sogar mit dem Schiff transportiert. Am beliebtesten sind wir im deutschsprachigen Raum und in Skandinavien. Aber auch in Italien erfreut man sich am deutschen Marzipan.Wo genau meine Reise hingeht, spielt für mich jedoch keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass mich die Menschen in den Geschäften erblicken und mich begeistert mit nach Hause nehmen oder gar an ihre Liebsten verschenken - bis ich irgendwann in genüsslich leuchtende Augen blicke und vernascht werde. Dann habe ich meine Aufgabe erfüllt, und lande glücklich und zufrieden in hungrigen Bäuchen, irgendwo neben Plätzchen, Lebkuchen und Schokolade.
Dezember 2024