Die argentinische Kunstkritikerin Andrea Giunta spricht darüber, wie wichtig es ist, dass Lateinamerika seine Komplexe von „Isolierung, Unverständnis und Desinteresse“ hinter sich lässt, in die der internationale Markt die Kunstschaffenden aus der Region gestürzt hat. Und sie erklärt, inwiefern man heute von einem Ende der traditionellen Kunstzentren sprechen kann.
Zu behaupten, dass die lateinamerikanische Kunst „peripher“ sei, findetAndrea Giunta, Kunstkritikerin, Kuratorin und Professorin an der Universität von Buenos Aires, äußerst problematisch. Für sie stellt diese Idee eine Grundsatzfrage dar. Der Begriff „Peripherie“, mit dem Kritiker und Kuratoren, Galeristen und Käufer seit den 1980er Jahren für lateinamerikanische Kunst werben, setzt voraus, dass sie niemals wirklich tiefgründig und komplex sein kann. Denn vom Zentrum aus gesehen, ist das vermeintlich Periphere das Gegenteil von allem, was innovativ ist.
Aus diesem Unbehagen entstand das Buch Contra el canon. El arte contemporáneo en un mundo sin centro (2020) (dt. Gegen den Kanon. Zeitgenössische Kunst in einer Welt ohne Zentrum). Hier schreibt Andrea Giunta, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Künstler und Künstlerinnen aus allen Ecken der Welt begannen, ähnliche Techniken zu verwenden – auch wenn das in unterschiedlichen Kontexten geschah. Das Ergebnis: ein Perspektivwechsel, der die lateinamerikanische Kunst ins Zentrum rückte.
Inwiefern kann man von einem Ende der traditionellen Kunstzentren sprechen?
Die Machtzentren werden niemals akzeptieren, dass sie nicht mehr die Machtzentren sind. Die Herausforderung besteht darin, uns selbst davon zu überzeugen, andere Arbeitsformen zu suchen – eine andere Sprache zu benutzen, Studien-, Forschungs- und Ausstellungsmöglichkeiten zu schaffen – und zwar unabhängig vom Mainstream. Die Legitimierung in traditionellen Zentren ist wichtig, aber nur um unsere Studien und die Aussagekraft unserer Forschungen und Ausstellungen zu erweitern. Der internationale Austausch an den Universitäten ermöglicht es heute, dass regionale und transozeanische Forschungsnetzwerke mit lokalen Mitteln aber auch mit Mitteln der traditionellen Zentren finanziert werden.
Kann man nun also von einem Ende der traditionellen Kunstzentren sprechen?
In gewisser Weise ja. Denn das Gespräch ist heutzutage kein einseitiger Monolog mehr vom Zentrum zur Peripherie, sondern tatsächlich ein Austausch, eine Zusammenarbeit mit dem sogenannten Globalen Süden – was der aktuell verwendete Begriff für die Regionen ist, die in den 1960er und 70er Jahren als „Dritte Welt“ bezeichnet wurden. Die Idee eines Globalen Südens ist an sich eine Reaktion auf den Neoliberalismus, ein zu den vorherrschenden Modellen alternativer Ansatz, der aus anderen Blickwinkeln entstanden ist, als der Kapitalkreis, der immer nur ins Zentrum führt. Das bedeutet auch, dass wir uns selbst aus Perspektiven betrachten können, die nicht mehr unweigerlich durch die traditionellen Zentren Europa-Vereinigte Staaten gehen.
New York bleibt in der kollektiven Vorstellung als „Zentrum“ der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg weiter bestehen. Warum hat die kanonische Geschichte der Kunst Städte wie São Paulo, Mexiko-Stadt und Buenos Aires nicht berücksichtigt?
Ich möchte nicht über Geschichte als das große Ganze sprechen, sondern Geschichten erzählen. Diese Herangehensweise erlaubt es uns, die Idee von einem Kanon aufzulösen, von einer Kunst, die wertvoll ist und einer anderen, die es nicht ist. Wenn wir natürlich den Wert der Kunstwerke auf dem internationalen Markt beobachten, verliert diese Beobachtung an Gewicht. Wenn wir aber die Kultur als den Fluss von Wissen betrachten, der in Bezug auf die Gemeinschaft an Bedeutung gewinnt, haben die Geschichten einen anderen Wert, eine andere Dichte.
Alle Gesellschaften bringen eine künstlerische Kultur hervor, die in einem internationalen Dialog steht, Netzwerke, Austausch und neue Fragen aktiviert. Und die Zentren schreiben diese Geschichten nicht auf. Ich glaube, dass in den letzten 20 Jahren an vielen Orten der Welt Kunstgeschichte gemacht wurde. Mehr noch als an die Macht des Geldes und der Vermarktung zu denken, müssen wir uns der Macht des Wissens bewusst sein.
Wie nehmen nun diese neuen Kunstzentren in Lateinamerika Gestalt an, meistens sogar ganz ohne institutionelle oder finanzielle Unterstützung?
Die Dinge haben sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. In Lateinamerika, Afrika, Osteuropa und Asien sind viele neue Museen entstanden. Die Politik der Restitution afrikanischer Kulturgüter, die die Europäer zum Ende des 19. Jahrhunderts entwendet hatten, ist dank der Vielzahl an Museen in Afrika möglich, die über exzellente Bedingungen zur Erhaltung und Ausstellung der Objekte verfügen. Dasselbe gilt für die Partenon-Metope, die Großbritannien an das neue Akropolis-Museum in Griechenland zurückgeben wird. Es fehlt Unterstützung, aber Unterstützung fehlt überall. Und es ist nicht nötig, aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus zu idealisieren, was in den großen Museen der Welt geschieht.
Die Konservierung, Museografie und kulturelle Produktion erhalten immer mehr regionale Unterstützung: Künstlerresidenzen, Subventionen und Ausstellungsprogramme werden mehr und mehr erweitert, vor allem dann, wenn die zuständige Regierung der Kultur einen hohen Wert beimisst. Es sollte auch hervorgehoben werden, inwieweit die lokalen Bedingungen nach und nach geschaffen werden, um über den patriarchalischen weißen Kanon der lateinamerikanischen Kunst hinauszugehen, indem afro-lateinamerikanische und indigene Künstler und Künstlerinnen, sowie Kunstschaffende mit nicht-normativen Identitäten bewusst miteinbezogen werden. Wir befinden uns in einem Moment der tiefen Transformation.
Welche Chancen bietet Ihr Ansatz für das Verständnis und die Wertschätzung lateinamerikanischer Kunst?
Ich schlage eine Lesart vor, die sich an die kritischen Studien zu Lateinamerika anlehnt, etwa an die Werke von Mario Pedrosa oder Nelly Richard, aber auch an Autoren wie Benjamin Buchloh oder Hal Foster. Dies ermöglicht es uns, eine Haltung einzunehmen, die die kritische Theorie der Zentren zwar nicht ignoriert, aber eine Perspektive ermöglicht, die es erlaubt, eine regionale Epistemologie sichtbar zu machen und wertzuschätzen und eine Analyse der lokalen kulturellen Produktion vorzunehmen.
In diesem Sinne z.B. analysiere ich die Kunstszene während der Unidad Popular in Chile [d.h. während der Präsidentschaft Salvador Allendes zwischen 1970 und 1973] als eine kulturelle Produktion, die es uns ermöglicht zu verstehen, warum Joan Miró ein Bild für Chile und das Museum der Solidarität malte, das die Regierung Salvador Allendes in Auftrag gegeben hatte.
Ich rekonstruiere ein Netz von Bedeutungen, aber nicht ausgehend von der Frage, wie ein Stil, in diesem Fall Mirós Abstraktion, die chilenische Kunst beeinflusst hat – was auch gar nicht so geschehen ist –, sondern ausgehend von einem gemeinsamen kulturellen Gefüge zwischen Spanien und Chile. Und all das ist in einem Kontext entstanden, der als innovativ verstanden wurde.
Kann man sich etwas Einzigartigeres, Spezifischeres und Innovativeres vorstellen als ein „Museum der Solidarität“? Dieses Museum hat einen Raum eröffnet, in dem Wissen und einzigartige Erfahrungen entstehen, zeitgleich, sogar früher als das Centre Pompidou in Paris, das Museum Reina Sofia in Madrid oder Tate Museum in London. Es ist ein Museum, das internationale und lateinamerikanische Sammlungen beherbergt und das Poetik, Politik und historische Verbindungen verknüpft und späteren Initiativen eine neue Bedeutung verleiht – wie etwa der Gründung eines Museums der Erinnerung während der ersten Amtszeit Michelle Bachelets als Präsidentin von Chile.
Welche Rolle spielen die digitalen Technologien für das Ende der kanonischen Kunstzentren?
Ich interessiere mich sehr für den vordigitalen Horizont der 1970er und 80er Jahre, die Kunst des Faxes, der Fotokopie, die Briefkunst. Diese Formate, die Netzwerke und enge Verbundenheit zwischen Künstlern aus Lateinamerika und Osteuropa hervorbrachten, nahmen vorweg, was heute mit der digitalen Technologie passiert. Das ist ein expandierendes Forschungsgebiet. Die digitale Wende beschleunigt die Kontakte, multipliziert die Vernetzungen und entwirft ein neues Format der Weltoffenheit. Das hat jedoch die regionalen Handlungen und Sinne nicht vernebelt. Denken wir an die afrikanische Diaspora und den weiten Bogen, in dem sie mit 500 Jahren von der Sklaverei geprägter Geschichte und den Ausmaßen der aktuellen Diaspora zu verstehen ist. In der Kunst kann so eine Diaspora verschiedene lokale Bedeutungen annehmen. Es ist nicht dasselbe, eine von Rassismus betroffene Künstlerin mit mosambiquanischen Wurzeln in Berlin zu sein oder in Lateinamerika. Bis vor kurzer Zeit hatten Afro-lateinamerikanische Künstler praktisch keine regionale Sichtbarkeit.
Andererseits ermöglicht die Digitalisierung von Kunst eine intensive Verbreitung, indem Zollschranken und Transportkosten übersprungen werden. Kulturelle Produktion und deren Verbreitung sollten wir aus einer innovativen und mit dem Zustand des Planeten adäquaten Perspektive denken. Wir haben die Möglichkeit, andere Formen der internationalen Verbindung über die großen Wanderausstellungen hinaus zu entwickeln. Das bedeutet nicht, den Kontakt zu den traditionellen Kunstobjekten zu verlieren, ein Kontakt, den die regionalen Sammlungen stetig ermöglichen. Die technologische Wende erlaubt eine Öffnung der Sammlungen in den Museen und erweitert die Möglichkeiten von Bildungsstrategien.