Seit über zwei Jahrzehnten hat Wissam Hassan Al-Kawafi eine unzerbrechliche Verbindung zum Hafen von Benghazi aufgebaut – einem Ort, der zu seinem zweiten Zuhause geworden ist. Jeden Morgen um 7 Uhr wird er von vertrauten Gesichtern und den rhythmischen Klängen des geschäftigen Hafens begrüßt, wo er das Auf und Ab des maritimen Lebens überwacht. Vom Chaos vergangener Schlachten bis zu den ruhigen Momenten der Besinnung war seine Reise voller Triumphe und Traumata. Wissam erzählt intime Geschichten und tiefgreifende Veränderungen, die seine Verbindung zu diesem pulsierenden Zentrum des Lebens und des Handels geformt haben, und enthüllt das Herz eines Ortes, der oft übersehen wird und dennoch reich an Erinnerungen und Bedeutung ist.
Der Hafen von Benghazi ist mein zweites Zuhause. Im Laufe von zwanzig Jahren ist eine starke Bindung zwischen uns entstanden. Welch ein Glück, dass wir einander nach all diesen Jahren noch nicht überdrüssig geworden sind©Canva
Ich bin Wissam Hassan Alkawafi, 45 Jahre alt, Junggeselle. Meine Freunde spotten oft, meine einzige Bindung sei, die zum Hafen und deswegen gebe es für mich weder Zeit noch Notwendigkeit von Stabilität und Familiengründung. Und ein wenig haben sie damit auch recht, bin ich doch höchst zufrieden mit meinem Leben und seinem Rhythmus. Der Hafen nimmt darin so viel Raum ein, dass ich kein anderes Leben benötige.
Seit 2003 bin ich in der Abteilung für Schifffahrtsüberwachung im Hafen von Benghazi tätig. Im Laufe der Jahre hat sich eine unkomplizierte und stabile Beziehung entwickelt und ich habe den Hafen im Großen wie im Kleinen kennen und schätzen gelernt. Vom Dröhnen der Kräne und dem Rauschen der Wellen bis hin zu den Schreien der Möwen und dem Geplapper der Arbeiter in der Mittagspause. Aber auch die relative Stille, in letzter Zeit oft herrschte.
Meine Beziehung zum Hafen war jedoch nicht immer so friedlich. Vor 2003 war ich Offizier an Bord eines Handelsschiffs, der Ibn Hawqal. 2002 sank das Schiff in der Nähe der algerischen Küste und ich entging nur durch ein Wunder dem Tod durch Ertrinken. Von den 34 Besatzungsmitgliedern überlebten neben mir zehn weitere Personen.
Viele Monate lang fühlte ich mich von jener Umgebung betrogen, die ich so gut zu kennen geglaubt hatte: vom Hafen, dem Meer und den Schiffen. Viele Monate lang dachte ich ständig an unsere Havarie, den Tod meiner Freunde und die Rettungsversuche. Ich dachte nicht, dass ich je wieder im Hafen arbeiten könnte.
Aber dann wich dieses Trauma einem besseren und tieferen Verständnis für das Leben, für mich selbst und mein Arbeitsumfeld. Es entstand andere Beziehung zwischen mir und dem Hafen, eine Beziehung des gegenseitigen Respekts. Ich nahm den Hafen nicht mehr als selbstverständlich gegeben wahr wie früher. Ich lernte die diesen großartigen Ort mit allem, was dazugehört auf eine Art und Weise schätzen, wie ich es vorher nie getan hatte. Während dieser ganzen Zeit der Veränderung war der Hafen für mich da, wenn ich zurückkehrte, wie ein treuer Freund und lebenslanger Gefährte.
Und so begann eine neue Reise mit diesem Hafen, eine Reise, die die meisten Menschen in Libyen nicht wertschätzen können.
Oft werden Flughäfen als jene Orte wahrgenommen, an denen Menschen sich trennen oder geliebte Menschen wiedersehen, an dem ein neue Kapitel beginnen und alte zu Ende gehen. Die Häfen werden nicht als solche Orte wahrgenommen, obwohl dort viele Dinge enden und Anfänge ihren Gang nehmen.
Einige dieser Anfänge und Enden habe ich selbst erlebt. Nach meiner langjährigen Tätigkeit in der Meeresüberwachung, stelle ich fest, dass das, was ich inspiziere, sich stark verändert hat. Denn die Schiffe, die im Hafen halt machen, sind nicht mehr dieselben.
Ich stand neben meinen Offizierskameraden in der Nähe des Offiziersaals im Hafen, trug stolz die weiße Militäruniform und meine mit dem Goldadler verzierte Mütze, das Symbol der libyschen Marine. Wir lauschten den Unterhaltungen der Passagiere in zahlreichen Sprachen. Wir fingen sogar an, einige Wörter dieser Sprachen zu lernen. Wir genossen den Anblick der Menschen, die das Gebäude erkundeten. Viele von ihnen hatten Libyen noch nie zu vor Betreten. Ich liebte es zu sehen, wie unser Hafen für diese Fremden zum Tor nach Libyen wurde. Manchmal war er auch der einzige Berührungspunkt zwischen ihnen und Libyen.
Wir beobachteten sie, wie sie angespannt warteten und nicht wussten, wohin sie gehen sollten, und boten ihnen unsere Hilfe an. Die Frauen nahmen ihre unruhigen Kinder fest an die Hand, damit sie nicht stürzten oder nah am Rand des Kais spielten. Wir sahen junge Frauen in kurzen Kleidern, die die libysche Sonne genossen und begeistert auf das Meer blickten.
All das waren die Gesichter des Hafens wie ich ihn liebte.
Im Jahr 2014 begann dann ein völlig neuer Abschnitt. Der Hafen und die am Meer gelegenen Gebiete Benghazis wie auch Sabari, Jaliana, Lethama und Qanfouda und auch die anderen Stadtviertel erlebten schwere Kämpfe zwischen der Nationalen Armee und den bewaffneten Gruppierungen. Die bewaffneten Gruppierungen schmuggelten über den Hafen mit kleinen Booten Waffen, Munition sowie arabische, afrikanische und ausländische Söldner in die Stadt, sodass diese maritimen Grenzübergänge in den Fokus gerieten und geschlossen wurden.
Das waren sehr schwere Tage für uns alle. Die tiefen Narben der Kämpfe prägen den Hafen bis heute, trotz der andauernden Reparaturarbeiten. Im Ostteil des Hafens kann man noch die Schäden durch die schwere Artillerie an der Mauer sehen. Einige zentrale Einrichtungen des Hafens wurden durch den Raketenbeschuss vollständig zerstört.
Während dieser Jahre erlitt der Hafen große Schäden und selbst wenn einige davon behoben werden können, so ist der Hafen nicht mehr das, was er vorher war. Der Schiffsverkehr kam während dieser Zeit vollständig zum Erliegen, abgesehen von den ankommenden Schiffen mit Hilfslieferungen. Nach der Befreiung Benghazis im Jahr 2017 begannen die Instandsetzungsarbeiten. Aber die Touristenschiffe meiden den Hafen bis heute. Aktuell liegt hier nur ein einziges Passagierschiff vor Anker, das die stark ausgedünnte Linie Benghazi-Misrata-Türkei bedient und nur wenige Passagiere befördert.
Der übrige Schiffsverkehr besteht aus über und über mit Containern und Waren beladenen Schiffen und geht in voller Stärke weiter. So wie die Wellen, die auch immer weiter fließen. Die mit Containern beladenen Handelsschiffe haben es im Gegensatz zu den Passagierschiffen nicht eilig. Die gewaltigen Frachter liegen manchmal wochenlang am Hafeneingang Richtung Mittelmeer und warten auf die Einfahrgenehmigung.
Ich bin derjenige, der diesen Verkehr und die Durchfahrt steuert. Ich kontrolliere alles an Bord der Schiffe: die Sicherheitsausrüstung, die Papiere, die Rettungsbote, Fracht und Angestellte. Sobald die Kontrollen abgeschlossen sind, kommen die Schiffe an den Kai und damit wird eine ganze Reaktionskette in Gang gesetzt: Arbeiter beginnen mit dem Löschen der Ladung, Lastwagen strömen zum Anleger und warten darauf, beladen zu werden, Gabelstapler und Kräne heben die Container an und ordnen sie. Sogar die Hafenkantine erwacht zum Leben, um die Schiffsbesatzungen aus aller Herren Länder in Empfang zu nehmen, die hier eine leichte Mahlzeit und ein Getränk zu sich nehmen.
Einen so großen Einfluss auf so eine gewaltige Institution und die darin ablaufenden Prozesse und Maßnahmen zu haben – das verleiht mir Autorität und Bescheidenheit zugleich. Ohne meine Unterschrift müssen die Schiffe tagelang warten. Mit meiner Unterschrift beginnt das Leben in vielen Dinge in meinem zweiten Zuhause zu pulsieren.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Egab publiziert.
Oktober 2024