Visuelle Künste   Erinnerungen, die das Wasser bewahrt

Brücken über den Abgrund, 2017
Brücken über den Abgrund, 2017 Aline Motta

Wasser als Element der Verbindung zwischen Zeiten, Räumen und Geografien ist Thema der Werke brasilianischer Künstlerinnen wie Aline Motta und Laís Machado.

Die Titel der Arbeiten der brasilianischen Künstlerin Aline Motta haben etwas Architektonisches, als kündigten sie Strukturen an, die den plötzlichen Bruch eines linearen Zyklus dessen vorwegnehmen, was wir erst später erkennen. Ihre Geschichten erzählt sie in unkonventionellen, durch unerwartete Logiken verbundenen Zeitarrangements. „Ich bin mit meiner Mutter schwanger. Nun bin ich damit an der Reihe, dich im Bauch zu tragen“, schreib sie zum Einstieg ihres Gedichtbandes A Água é uma máquina do tempo (dt.: Das Wasser ist eine Zeitmaschine; 2020), dessen Texte sie in der gleichnamigen Videoinstallation auf der 35. Biennale São Paulo (2023) aus dem Off liest.

Gleich in der ersten Szene sehen wir die Guanabara-Bucht mit der Rio-Niterói-Brücke im Hintergrund. Niterói ist die Geburtsstadt der Künstlerin, wo sie auch einen beträchtlichen Teil ihres Lebens verbrachte und täglich mit der Fähre über die Bucht nach Rio pendelte. „Das Wasser war lang mein wichtigster Transportweg. Bei dieser Überfahrt über das Meer habe ich schon so manches gesehen“, erinnert sie sich.

Kritisches Fabulieren

Ihre Kindheitserinnerungen, als sie der Vater zur Schwimmstunde am Icaraí-Strand vor der Stadt brachte, werden im zweiten Teil des Films als Text und Bild evoziert. In einer der schönsten Passagen sehen wir Privatfotos von ihr auf die Pfeiler der Rio-Niterói-Brücke projiziert und im Wasser gespiegelt. Das Meer dient auch als Metapher, um über Rassismus zu sprechen – beziehungsweise in diesem Fall über das Schweigen darüber: „In meiner Familie Rassismus zu thematisieren, war wie so weit hinauszugehen ins Meer, dass kein Grund mehr unter den Füßen ist. Ihn direkt zu benennen, hätte bedeutet, das familiäre Gleichgewicht zu zerbrechen, und die Strömung hätte uns haltlos davongerissen“, schreibt die Künstlerin.

In A Água é uma máquina do tempo verquickt Aline Motta unterschiedliche Erzählungen aus ihrer Familiengeschichte, wirkliche und erdachte. Der Begriff des „Kritischen Fabulierens“ der US-amerikanischen Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Saidiya Harman ist wichtigster Referenzrahmen für ihren künstlerischen Ansatz, in dem sich Archivmaterial, insbesondere Zeitungen und Dokumente, mit anderen Erinnerungspraktiken aus dem privaten Bereich verbinden. Ausschnitte aus dem Tagebuch ihrer Mutter, auf die sie gleich nach ihrem Tod stieß, werden eingebunden in eine Erzählung, die spekulativer Fiktion ähnelt. Die bis dahin der Familie völlig unbekannte Stimme wird 30 Jahre später in der Stimme der Tochter wiedergegeben und gewinnt nun in der Gegenwart eine neue Bedeutung.

Atlantische Verbindungen der Familiengeschichte

Der Titel der Arbeit beschließt einen Gedanken, den die Künstlerin schon in früheren Werken bearbeitete. Seit Pontes sobre abismo (dt.: Brücken über den Abgrund; 2017), ein Werk, das auch auf eine Art gebrochener Struktur anspielt, sieht sie Wasser als Medium zeitlicher und räumlicher Verbindung. Ein Gedanke, der auch in Se o mar tivesse varandas (dt.: Hätte das Meer Balkone; 2017) eine Rolle spielt, das Fotos ihrer Vorfahren auf Stoff gedruckt und in Meer- und Flusswasser getränkt zeigt, sowie in (Outros) Fundamentos (dt.: (Andere) Fundamente), dem Abschluss einer Trilogie von Videoinstallationen mit Ausflügen der Künstlerin nach Lagos (Nigeria) und Cachoeira (Bahia), sowie Rio de Janeiro – Orte, die in der Investigation ihrer Familiengeschichte atlantische Verbindungen herstellen.  In allen drei Arbeiten war bereits eine literarische Stimme der Künstlerin erkennbar, die sich nun in A Água é uma máquina do tempo, ihrem ersten offiziellen Einstieg in die Literatur, konsolidiert.

In einem in einer akademischen Zeitschrift veröffentlichen Aufsatz über diese Arbeit schreibt Aline Motta darüber, wie ihr der Einfluss zentralafrikanischer und afrobrasilianischer Weltsichten geholfen habe, den Gedanken vom Wasser als Kommunikationsmittel durch die Zeiten zu formulieren. Eine dieser Kosmologien ist ein als Bakongo-Kosmogramm bezeichnetes System, in dem Lebenszyklen in Analogie zu den Naturzyklen symbolisch zusammengefasst im Verlauf eines Tages gesehen werden. Um sechs Uhr morgens wird man nach dieser Logik geboren, ist mittags erwachsen, am Abend alt und geht um Mitternacht in das Stadium der Vorfahren ein. Die Verbindung dieser unterschiedlichen Zeitphasen ist eine Kalunga genannte dünne Wasserschicht. „In dieser Art, die Welt zu betrachten, bewahrt das Wasser Erinnerung und wird als Kommunikationsmittel gesehen, als Zeitmaschine. Eine Initiation“, schreibt die Künstlerin.

Umweltverbrechen

Laís Machado ist eine weitere Akteurin der aktuellen Kunstszene, die sich ebenfalls aus der Perspektive ihrer Herkunft mit Wasser beschäftigt. In Salvador da Bahia geboren, verbrachte sie ihre Kindheit in der Gemeinschaft von Amaralina, wo ihr Großvater Fischer war. Eine entscheidende Erfahrung: „Ich bin eine Schwarze Person aus Salvador da Bahia, habe also schon immer ein inniges Verhältnis zum Meer. Als Kind war es für mich das Selbstverständlichste am Wochenende am Strand zu sein. Als ich Künstlerin wurde, begann ich dieser Dimension meines Lebens weitere Bedeutungen beizumessen, auch auf politischer und spiritueller Ebene“, erzählt sie.

Beides spielt eine Rolle in Elegia das filhas das águas (dt.: Elegie der Töchter des Wassers; 2019), Teil einer vom Goethe-Institut Salvador präsentierten Ausstellung mit dem Titel „Magia Negra“. Mit dem melancholisch belegten poetischen Genre im Titel zeigt das Video eine Tonschüssel, die als quartinha  bei afrikanisch geprägten religiösen Ritualen die Verbindung zwischen der materiellen und der spirituellen Welt herstellt. Die Schüssel ist mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt als Anspielung auf ein inzwischen fast vergessenes Umweltverbrechen: 2019 verseuchte ein Ölteppich mehr als 3000 Kilometer brasilianischer Küste vor allem im Nordosten.

Am Rand des Zusammenbruchs

Ein Jahr später, während der Pandemie, war Laís Machado Gast des digitalen Festivals Latitude des Goethe-Instituts. In dieser Zeit ist Canção das filhas das águas (dt.: Gesang der Töchter des Wassers; 2020) entstanden, das seitdem in mehreren Ausstellungen und auf Festivals gezeigt wurde. „Diesmal versuchte ich aus der Perspektive des Wassers über das Ende der Welt zu sprechen, ausgehend von den materiellen Gegebenheiten, die uns an den Rand des Zusammenbruchs gebracht haben“, sagt die Künstlerin, die derzeit an ihrem dritten Video arbeitet, dem Abschluss der gedachten Trilogie.

So sehr auch das Interesse der Künstlerin Laís Machado am Wasser mit dem Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn politischer wurde – beeinflusst vor allem von Autorinnen wie Beatriz Nascimento (1942-1995), indem sie den Atlantik für die afrikanische Diaspora eher als Ort der Freiheit und der Verbindung  begreift – so ist ihre emotionale und persönliche Verbindung zum Meer, in dessen Umgebung sie aufwuchs, nicht zu übersehen.
 
Still aus dem Video „Jubarte“

Still aus dem Video „Jubarte“ | Laís Machado, 2023

Und in diese Verbindung hinein spielt in ihrem Fall auch die Leidenschaft für und ihre profunde Kenntnis der Buckelwale, die jedes Jahr im Winter an der Küste Bahias zu beobachten sind. Just in dieser Jahreszeit kam es 2019 auch zu der bis heute nicht geahndeten Ölpest. „Viele Aspekte meiner Verbindung zu den Walen waren schon in meinem Werk präsent: die Sorge vor einem ökologischen Kollaps, ihre Beziehung zu Kommunikation, Tanz und Musik. Selbst zu Reisewegen und Migration“, stellt sie fest. Und erinnert daran, dass Wale von der angolanischen Küste vor Bahia gesichtet wurden und umgekehrt. 2019 wurde ein Buckelwal vor Salvador wiedererkannt, der 21 Jahre zuvor nahe der angolanischen Stadt Cabinda fotografiert wurde. 

Derweil werden in einer anderen für die Geschichte der afroatlantischen Routen wichtigen Region Werke von Aline Mota seit Mai am Hafen der senegalesischen Insel Gorée gezeigt, als Teil eines von der Fondation Dapper ausgerichteten Projekts. Vom Strand aus, wo die Boote landen, ist ein Banner mit einem Vers aus Se o mar tivesse varandas in französischer Übersetzung zu lesen:

„Hätte das Meer Balkone
sammelten Wellen dort die Erfahrungen ein
und die Erinnerung einer Küste
würde an die gegenüberliegende Küste getragen
und dort an die Klippen schlagen.“

Die atlantischen Verbindungen erzählen in der Gegenwart allerdings andere Geschichten.

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