Der Immobilienmarkt und die Bebauung der Städte versperren häufig den Zugang zu Wasserläufen und auch zur Geschichte dahinter. Zivilgesellschaftliche Bewegungen versuchen, dies wieder ans Licht zu bringen. Allein in São Paulo gibt es 300 verborgene Flüsse.
Wie andere Städte überall auf der Welt, wurde auch São Paulo am Wasser gegründet, auf einem Hügel zwischen den Flüssen Tamanduateí und Anhangabaú, deren Wasser bereits die dort lebenden indigenen Menschen als Schutz, für den Fischfang und zur Erholung nutzten. Mitten in der Großstadt werden diese zwei wichtigen Flussläufe noch durch weitere kleinere Wasserläufe und Bäche gespeist, die heute ebenfalls kanalisiert unter den Straßen verschwunden sind.„São Paulo hat 300 Flüsse unter der Stadt versteckt. Tausende Kilometer, über die niemand redete“, sagt der Architekt und Stadtplaner José Bueno. Im Jahr 2010 hörte Bueno von dem Geografen und Pädagogen Luiz Campos, der über die verborgene Hydrografie São Paulos forscht, dass es kaum möglich sei, auch nur fünf Minuten irgendwo in der Stadt unterwegs zu sein, ohne einen Wasserlauf zu überqueren. Bueno wollte dies überprüfen und entdeckte bei Streifzügen in seinem Viertel Butantã sogar Wasser unter einer Mauer der Universität von São Paulo hervorkommen: die Quelle des Flüsschens, das früher einmal Iquiririm hieß – TupiGuarani für „stiller Fluss“.
„Flüsse und Straßen“
Mit dem Instituto Harmonia, einer kleinen Firma für Bildung in Nachhaltigkeit, schufen der Architekt und der Geograf das Projekt „Rios e Ruas“ (Flüsse und Straßen), das die Bevölkerung auf die noch unter der Stadt lebenden Flüsse aufmerksam machen soll. „Die Nachricht fand großen Widerhall. Irgendwie berührt das die Menschen in einer Stadt, die Wasserläufe nur als ein zu kontrollierendes Problem betrachtet“, sagt Bueno. Mit kartografischen Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und Spaziergängen versucht „Rios e Ruas“ die Bewohnerinnen und Bewohner für die unter ihrer Stadt verborgene Natur zu sensibilisieren: „Woraus besteht eine Stadtlandschaft? Nur aus Beton? Man erkennt die Wasserläufe, wenn man dem Landschaftsverlauf folgt und die Vegetation betrachtet“, sagt Bueno.Wissenschaftler*innen , Künstler*innen und Aktivist*innen aus São Paulo haben Aktionen zum Schutz von Quellen angestoßen ...
Rettung des Rio Bixiga
Jüngst erkämpfte sich das Ensemble des Teatro Oficina im Stadtviertel Bixiga, nach 40 Jahren hartnäckigem Streit mit der Stadtverwaltung São Paulo und gegen die Ansprüche einer Unternehmensgruppe, ein Gelände neben dem emblematischen, von der Architektin Lina Bo Bardi entworfenen Theatergebäude für einen Park. Unter dem Gelände, auf dem sich zur Zeit noch ein Parkplatz befindet, verläuft der frühere Rio Bixiga. Geplant ist, ihn wieder ans Licht zu befördern. Die Öffnung dieses Flusses im Zentrum der Stadt soll auch zur Senkung der örtlichen Temperaturen beitragen – angesichts dessen, dass dieses Viertel eine der größten Hitzeinseln der Stadt darstellt und eine der Regionen mit am wenigsten Grün pro Einwohnerin oder Einwohner.Im Jahr 2022 konzipierte ein Projekt von Studierenden der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Universität von São Paulo (FAU-USP) eine landschaftsplanerische Lösung für einen Abschnitt des Baches, die in Zusammenarbeit mit dem Bildungs-, Kultur- und Kunstkollektiv São Mateus em Movimento umgesetzt wurde, das dort auch eine Graffiti-Galerie betreibt. Der heutige Anblick des Cangueiras lässt allerdings wieder dringenden Sanierungsbedarf erkennen: Das Abwasserrohr ist geborsten, im Wasserlauf sammelt sich Abfall, und neue Baumaßnahmen der Stadt mit Betonwänden an anderer Stelle haben das ursprüngliche Vorhaben, dem Fluss sein natürliches Bett wiederzugeben, konterkariert.
Sanierungsfachleute setzen sich dafür ein, die Wasserläufe als Lebensadern offen zu halten ...
„Zwischen Flüssen und Straßen“
Isabela Prado, Kunstprofessorin an der Universidade Federal de Minas Gerais, ist die Mentorin des Projekts „Entre Rios e Ruas“ (Zwischen Flüssen und Straßen, 2006) in Belo Horizonte. Dazu gehört die öffentlich geförderte Intervention „Sobre o rio“ (Über den Fluss), die auf 230 Schildern unterirdische Wasserläufe in der Stadt markiert. Sämtliche Hinweise, wie z.B. der mit der Bennenung des Baches namens Acaba-Mundo (Ende der Welt), und all die anderen Schilder, die auf Wasser unter dem städtischen Raum verweisen, erzählen den Passantinnen und Passanten etwas von der Geografie und Geschichte der einst als Planstadt angelegten Hauptstadt des Bundesstaats Minas Gerais.Der Wissenschaftler und Geograf Alessandro Borsagli, Verfasser von drei Büchern über die Hydrografie Belo Horizontes, koordiniert auch eine Website mit zahlreichen Fotografien der Stadt. Borsagli übernimmt den vom südafrikanischen Umweltaktivisten und Denker Rob Nixon konzipierten Begriff der „schleichenden Gewalt“, um den Zerstörungsverlauf der Flüsse in der Stadt zu beschreiben – ein allmählicher und dadurch fast unmerklicher Prozess.
Riesige Infrastrukturmaßnahmen sind weit lukrativer für gewisse Branchen, als die Renaturierung eines Wasserlaufs ...
„Dieser Fluss gehört mir“
Gleiches lässt sich über zahlreiche Wasserläufe in Rio de Janeiro erzählen, einschließlich des Rio Papa Couve unter der Avenida Marquês de Sapucaí, Schauplatz der großen Karnevalsumzüge, oder des Rio Carioca, der im Tijuca-Wald entspringt und am Strand von Flamengo in die Guanabara-Bucht mündet. Unter den Straßen begraben und in den offenen Abschnitten extrem geschunden, brachte der Carioca die Journalistin Silvana Gontijo dazu, 2014 die Bewegung „O rio do Rio“ (Der Fluss der Stadt Rio) zu gründen, um Schulen, die Zivilgesellschaft und auch die öffentliche Hand für die Rettung des [für die Stadt namensgebenden] Flusses zu mobilisieren.Die Umweltbildungsaktionen, Reinigungseinsätze und Monitoring des Einzugsbereichs des Carioca führten inzwischen zur Kanalisierung der Abwässer, die bis dahin in den Fluss geleitet wurden. Durch die Denkmalschutzbehörde des Bundesstaats Rio de Janeiro (INEPAC) wurde der Carioca im Jahr 2019 zum Kulturerbe erhoben. Das Projekt zur Rettung des Flusses wurde schnell populär und läuft inzwischen an mehr als 1500 städtischen Schulen unter dem Namen „Este Rio é Meu“ – eine Kooperation der Umwelt- und Bildungsdezernate von Rio de Janeiro. Finanziert von den lokalen Wasser- und Abwasserwerken umfasst das Projekt mittlerweile 267 Flüsse, Bäche und Kanäle der Stadt.
Das Bewusstsein für diese Landschaft als Kulturerbe könnte den Druck der Immobilienwirtschaft und der Industrie mildern ...
Als Kenner des Kanalsystems der Region setzt sich Pimenta für dessen Ausweisung als Kulturerbe ein und hält das Programm „Este Rio é Meu“ für eine gute Möglichkeit einer Aufwertung des Gebiets. „Das Bewusstsein für das Kulturerbe dieser Landschaft könnte den Druck der Immobilienwirtschaft und der Industrie auf die Städte und ihre Wasserressourcen mildern“, sagt er. Insofern verstärken zivilgesellschaftliche Bewegungen zur Rehabilitierung der Flüsse in der Stadt auch die Dringlichkeit und den Wunsch, in naturnäheren Städten zu leben.