Kultur unter Kriegsbedingungen  Ohne Boden

Max Nowotarski Foto: © privat

Jeder Krieg, der dich direkt betrifft, ist ein totaler Krieg, sagt der Theatermacher Max Nowotarski. In seinem Essay reflektiert er das Leben und Schaffen unter Kriegsbedingungen – und warum seine Eltern gerade jetzt während des Krieges ein Haus bauen.

Das wichtigste Merkmal, das den Krieg, der dich direkt betrifft, von den vielen Kriegen, die die Menschheit „irgendwo weit weg“ führt, oder von denen, die in Geschichtsbüchern beschrieben sind, unterscheidet, liegt darin, dass dieser Krieg in dein ohnehin schon gar nicht so einfaches sterbliches Leben eindringt.

Der Unterschied ist, dass nun alles im Kriegsmodus getan wird: Man macht Frühstück während des Krieges, trinkt Kaffee während des Krieges, arbeitet während des Krieges, liebt während des Krieges.

Jeder Krieg, der dich direkt betrifft, umfasst dich gänzlich. Er nimmt dir das gewohnte kriegslose Alltagsleben weg und gibt stattdessen ein neues Leben, oder besser gesagt, man muss selber lernen, neu zu leben, denn während dieser Umstellung hängt man über dem Abgrund, man schlägt mit den Armen, als wären das Flügel, und versucht dabei, nicht abzustürzen. Man muss alles neu lernen – Frühstück zu machen, Kaffee zu trinken, zu arbeiten, sich auszuruhen, Leute zu treffen, zu lieben. Mit dem einzigen Unterschied, dass nun alles im Kriegsmodus getan wird; im Kriegsmodus macht man Frühstück, trinkt Kaffee, arbeitet, liebt.

Schrecken des Krieges

Der Krieg, der dich direkt betrifft, besteht nicht nur aus heroischen Bildern (wenn du nicht an der Front ist) oder aus den Schrecken des Krieges von Goya (wenn man kein Opfer des russischen Völkermords ist). Krieg ist ein unsichtbarer Vorhang, der zwischen dir und der Welt entsteht und der überall bei und mit dir ist. Vor allem aber ist Krieg unser Alltag. Dein ganzes Leben ist jeden Tag davon durchdrungen.

In seinem berühmten Roman Ohne Boden (1948), einem Musterbeispiel ukrainischer intellektueller Prosa des 20. Jahrhunderts, beschreibt der ukrainische Schriftsteller Wiktor Domontowytsch (1884-1969) seine Geburtsstadt Dnipro nach den Schrecken des Bürgerkriegs und nachdem die sowjetisch-moskauer Besatzung, Terror und Hinrichtungen endgültig das Rückgrat der zivilisierten Gesellschaft gebrochen haben:
 
„Die neuen Bewohner, die die früheren ersetzten, haben weder den Wunsch noch die Initiative, die kaputten Veranden zu reparieren, die Gärten zu pflegen, Zäune instand zu setzen und die durch Maschinengewehrkugeln entstandenen Löcher in den Wänden zu beseitigen. Die Menschen haben ihren Sinn für Beständigkeit verloren. Sie gewöhnen sich daran, in Ruinen und zwischen Ruinen zu leben, als würden sie auf eine neue Katastrophe, eine neue Zerstörung warten, noch schrecklicher, noch zerstörerischer als die vorherige. Sie verwandeln ihre Wohnungen in zufällige Unterkünfte, ihre Häuser in Höhlen, ihre Städte in Übergangslager.“

Den Krieg verdrängen

Man kann heute mit Sicherheit sagen, dass sich die ukrainische Gesellschaft seit der im Roman von Domontowytsch beschriebenen Zeit stark verändert hat. In den Jahren der Unabhängigkeit gelang es der Gesellschaft, zu heilen und wieder einen dauerhaften Zugang zu den kreativen Quellen zu finden, welche die sowjetische Besatzung, die fast das gesamte 20. Jahrhundert in den meisten Gebieten der Ukraine andauerte, unerbittlich, aber erfolglos auszutrocknen versuchte.

Als ich 2018 zum ersten Mal mit einem Theaterprojekt im Osten der Ukraine war und Sewerodonetzk sowie Charkiw, Kramatorsk und Slowjansk (im April 2014 vom russischen Militär eingenommen, später von ukrainischen Streitkräften zurückerobert) besuchte, war ich überrascht, keine Spuren zu sehen, die auf die seit 2014 andauernden brutalen Kämpfe und russischen Beschuss hindeuten würden. Damit meine ich nicht nur zerstörte Gebäude. Die Einwohner*innen dieser Städte versteckten schnell und sorgfältig alles, was auf den Krieg hindeuten könnte, der einige Dutzend Kilometer entfernt tobte. Bewusst und unbewusst wollten sie den Krieg aus ihrem Leben verdrängen, sie wollten ohne ihn leben.

Damals bemerkte ich nicht nur die sichtbaren Einschusslöcher in den Wänden, sondern auch die tiefen unsichtbaren Spuren unter den Menschen. Diese zeigten sich in der allgegenwärtigen leichten Angst ihrer Blicke, sowie der besonderen Ruhe, mit der sie über die Besatzung oder die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit dieses Krieges sprachen. Ich verstand, dass sich in ihren Augen etwas spiegelte, das ich niemals würde begreifen können, ohne ein direkter Zeuge davon gewesen zu sein. Ihr Leben und ihr Alltag schienen von einem für mich unsichtbaren Licht erleuchtet zu sein.

Dieses Traumhaus, das meine Eltern während des Krieges bauen, ist für mich nicht nur ein Symbol der neuen Ukraine.

Kontakt mit Grund und Boden

Mein 53-jähriger Vater trat der ukrainischen Armee bei. Während seinen wenigen Wochenenden, an denen er nach Hause kommen durfte, beschäftigt er sich mit dem Bau eines Hauses. Es ist unglaublich: Meine Eltern bauen ein Haus während des Krieges! Das war ihr langjähriger Traum – im Alter ins Dorf zu ziehen, nahe am Grund und Boden zu sein sowie ihren eigenen Platz zu haben. Im vergangenen Jahr haben sie ein Grundstück gekauft und begannen mit der Bauplanung. Die russische Invasion verstärkte seltsamerweise den Wunsch, diesen Traum zu verwirklichen. Zweifellos wurde diese Entscheidung aus materieller Hinsicht beeinflusst: Nach dem Sieg und dem Wiederaufbau der Ukraine würden Baumaterialien viel teurer sein. Aber ich betrachte dies nicht aus pragmatischer Hinsicht, denn es ist wohl wenig sinnvoll, ein Haus zu bauen, wenn ein Terrorstaat seine Nuklearwaffen einsetzen könnte. Dieses Traumhaus, das meine Eltern während des Krieges bauen, ist für mich nicht nur ein Symbol der neuen Ukraine. Diese Hingabe an den eigenen Traum und diese Sturheit sagt meiner Meinung nach etwas sehr Wichtiges über den ukrainischen nationalen Charakter aus.

Den historischen Umbrüchen folgten in der Regel depressive Perioden in der Politik und im Alltag der Ukraine, wie zum Beispiel diejenige Zeitperiode, die von Domontowytsch beschrieben wurde. In ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte erlebte die Ukraine als der einzige unter allen anderen europäischen Staaten die meisten Umbrüche dieser Art: ein Ödland nach der ersten mongolischen Invasion, ständige tatarisch-mongolische Überfälle zwecks Sklavenjagd, imperialistische Kriege, Aufstände und Revolutionen, Weltkriege mit großen Armeen, die das Gebiet der Ukraine mehrmals in verschiedenen Richtungen durchquerten, weitere Besatzungen, die sich hinter der Maske einer vermeintlichen Befreiung versteckten, sowie die von Moskau verursachten Hungersnöte und die von Moskau ermöglichte Tschernobyl-Katastrophe.

Doch die produktive Quelle in der Ukraine fand immer wieder ihre Grundlagen. Das sind eben die ukrainische Sturheit, Verzweiflung und Hartnäckigkeit. Aber auch die Liebe und Fürsorge für den eigenen Grund und Boden, für die Welt um uns herum. Die Ukrainer*innen erneuern etwas, was andere längst aufgaben, bauen dort, wo sich andere zurückzogen, setzen den Kampf um ein vollständiges und würdiges Leben unter jeglichen Umständen fort. Dies äußert sich bereits jetzt und birgt ein großes Potential, nach dem Sieg noch stärker zum Vorschein zu treten, weil die Ukrainer*innen selbst teils überrascht sind, wie sehr sie ihr eigenes Land lieben.

Erneuerung der ukrainischen Kultur

Selbstverständlich beeinflusst der Krieg nicht nur die materiellen Aspekte, sondern greift auch über in den kulturellen Bereich. Die Wiedererneuerung ukrainischer Kultur ist zu einer alltäglichen, unerbittlichen Mission vieler ukrainischer Künstler*innen und Forscher*innen geworden. Es geht nicht nur darum, dass die ukrainische Kultur, die – meiner persönlichen Meinung nach – kurz vor der Invasion eine weitere Blütezeit erlebte, in Luftschutzbunker getrieben wurde. Sicherlich haben wir alle schon Nachrichten über die durch das russische Militär gezielte Zerstörung ukrainischer Kulturdenkmäler gelesen, wie zum Beispiel das Skoworoda-Museum in der Nähe von Charkiw.

Ukrainische Künstler*innen streben danach, im Ausland zu zeigen, dass die Ukrainer*innen lebendige Menschen mit einer lebendigen Kultur sind und nicht bloß leblose Zahlen in den Tagesnachrichten.

Die Wiedererneuerung besteht auch darin, dass es eine – mal durch langwierige schmerzhafte leidenschaftliche Diskussionen, mal durch eine überraschende Wiederentdeckung – Rehabilitierung von Künstlern der Vergangenheit gibt, die mit der Ukraine, ihrer Kultur oder Geschichte verbunden sind – der Avantgardist Kasimir Malewitsch, Theaterregisseur Aleksander Tairow, Komponist Pjotr Tschaikowsky sowie Michail Bulgakow, Iwan Aiwasowski und viele andere, die sich die Moskauer Propaganda und/oder das zaristische Russland angeeignet hatten, und so der Ukraine jahrhundertelang Blut und Talente wegnahmen. Die seit 2014 andauernde Wiedereingliederung findet nun mit umso größerer Entschlossenheit statt.

Natürlich geht es bei der gründlichen Umbewertung der Kultur nicht nur um die Vergangenheit. Viele moderne Künstler wollen Europa und der Welt vom Chauvinismus und der Gefühlslosigkeit der der russischen Nation und den Verbrechen ihrer Soldaten erzählen. Zu lange hat sich Europa von der imperialen Kunst Moskaus ernährt, die dank der Gelder für Öl und Gas geschaffen wurde. Dies sind die gleichen Gelder, die Moskau leider immer noch aus Europa erhält und für die Herstellung von Raketen ausgibt, die dann auf unschuldige Menschen abgeschossen werden. Deshalb streben ukrainische Künstler*innen durch diverse Ausstellungen, Aufführungen und Konzerte danach, diese Situation im Ausland zu ändern und zu zeigen, dass die Ukrainer*innen lebendige Menschen mit einer lebendigen Kultur sind und nicht bloß leblose Zahlen in den Tagesnachrichten.

All diese Kriegserfahrung und Kriegserlebnisse führen schlussendlich zu der Anstrengung, sich selbst, seine Welt und die nächste Umgebung vor einer Zerstörung zu schützen. Darin liegt wahrscheinlich der Hauptunterschied zwischen ukrainischen und moskowitischen nationalen Charakteren. Es ist anzunehmen, dass gerade der fehlende Boden unter den Füßen, die schmerzhafte Vernachlässigung und der existentielle Abgrund, so farbenfroh beschrieben in der russischen Literatur, sie zur Zerstörung zwingt. Die westliche Zivilisation, zu der die Ukraine zweifelsohne gehört, wird immer von denen verabscheut werden, die trotz der neu eroberten Gebiete keinen eigenen Grund und Boden finden können.

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