Ukrainisches Ensemble in Berlin  Das Theater gibt Geflüchteten eine Stimme

Olha Bohachevska, Schauspielerin aus der Ukraine. Vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine lebte und arbeitete sie in Kyjiw.
Olha Bohachevska, Schauspielerin aus der Ukraine. Vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine lebte und arbeitete sie in Kyjiw. Foto: © Rusya Abrosimova

Unzählige ukrainische Künstler*innen sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges aus ihrer Heimat geflohen. Dennoch haben sie ihre kreative Arbeit nicht aufgegeben und erzählen der Welt die Wahrheit über die russische Aggression. Wie die unabhängige ukrainische Theatergruppe Motankas, die auf Berliner Bühnen das Stück „Vartova“ („Die Hüterin“) aufführt.

Das Ensemble besteht aus zehn Personen. Sie nennen sich Motankas, denn die Schminke der Schauspielerinnen ähnelt dem Band, mit dem die Motanka umwickelt wird. [Motankas sind traditionelle ukrainische Puppen, die mit einer Wickeltechnik aus Stoffstücken, Bändern und Fäden hergestellt werden und oft als Amulett dienen. Anm.d.Red.]. Das Theater hat sie zusammengebracht, ihre Lebensschicksale haben sich seit dem Beginn der großangelegten Invasion Russlands sehr unterschiedlich entwickelt und überbieten an Dramatik jedes Theaterstück.

Die meisten Schauspielerinnen kennen einander persönlich seit vorigem Jahr, als sie gemeinsam an einer Theatervorführung über die Tragödie von Babyn Jar gearbeitet haben. Es handelte sich um eine Koproduktion des dokumentartheaters berlin mit dem Theaterstudio 11 aus Kyjiw. Die Vorführung fand in Kyjiw und Berlin statt. Ein neues Stück hat sie nun mehr wieder zusammengeführt: Die Hüterin. In dem einstündigen Theaterstück werden Geschichte und Kultur der Ukraine anhand der wichtigsten Meilensteine dargestellt und mit den Mitteln des physischen Theaters erzählt.

Die Hüterin ist eine Personifikation der Ukraine, eine Frauengestalt, die bereits seit Jahrhunderten ihre Grenzen zu bewachen weiß, die Grenzen, die man fortwährend zu verletzen versucht hat, um die Frau gewaltsam in neue Bündnisse zu ziehen. Nun ist eine Zeit herangebrochen, in der sie die Ostgrenzen Europas verteidigen muss, und darüber hinaus die Demokratie.
  Vier Schauspielerinnen und eine Sängerin stehen gemeinsam auf der Bühne. In dem Stück treten Personifikationen von Stimme, Körper und Seele auf. Die Stimme verkörpert die deutsche Schauspielerin Katharina Dietze. Die Sprache der Vorführung ist Deutsch. Die ukrainischen Schauspielerinnen bringen die Hauptideen des Stückes durch Lieder und die Physis des Körpers zur Geltung. Die Seele verkörpert die Sängerin Daryna Dehtiarova aus Charkiw. Der Körper – die Hüterin selbst – wird von Olha Bohachevska gespielt. Sie ist ukrainische Journalistin, Autorin und war bis vor kurzem Moderatorin der Talk-Show Bochka (Fass), in der ukrainische Intellektuelle, Künstler*innen und politische Gefangene zu Gast waren. Heute engagiert sie sich jedoch vor allem im Bereich der Schauspielerei. Nach Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, wurden alle ihre Projekte in der Ukraine eingestellt. Dank des Theaters konnte sie weiterarbeiten und ihre Ideen einem europäischen Publikum vermitteln.

Europa und das Böse. Über die Inszenierung

„Die meisten Historiker sind der Meinung, die Ukraine sei ein Grenzland zwischen zwei Welten. Heute sehen wir diese beiden Welten klar vor Augen: Europa und das Böse. Grenzen ändern sich stets, man muss sie schützen, hüten, zurückgewinnen. Heute sind sie ein Schild, der Europa vor dem Bösen schützt. Wir haben darin die Geschichte einer Frau gesehen“, erzählt die Hauptdarstellerin und Mitautorin Olha Bohachevska.

Die Idee zum Stück hatte die deutsche Schauspielerin und Theatermacherin Xenia Wolfgramm. Als Olha nach der zweiten Bombardierung ihrer Heimatstadt aus der Ukraine nach Deutschland kam, fand sie bei Xenia Wolfgramm eine Unterkunft. Eine Woche lang wohnte sie bei ihr. Olha erinnert sich: „Ehrlich gesagt, kennt hier niemand die ukrainische Geschichte. Xenia hat sich mit ihr jedoch auseinandergesetzt. Hinzu kommt, dass ihre Großmutter aus der Region Riwne in der Nordwestukraine stammt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde ihre Großmutter – damals noch ein Kind – von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Xenia kränkte die Tatsache, dass Russland die Kyjiwer Rus für sich vereinnahmt hatte. Sie wollte in einem Theaterstück davon erzählen. Gemeinsam haben wir diese Idee weiterentwickelt.“

Die Ukraine ist mehr, als man denkt.“

Im Theaterstück geht es um die Ukraine, ihre Kultur, ihre Traditionen und eine Reihe von „schlechten Heiratsbündnissen“. Olha Bohachevska: „Ständig wird um die Ukraine gekämpft. Sie war ein schönes Land, in dem es immer Brot auf dem Tisch gab. Dreimal zeigen wir das Erntefest. Nach dem dritten Erntefest folgt die Hungersnot. Es spielen bei uns nur Frauen mit: die Stimme, der Körper und die Seele. Wir betrachten sie als eine Dreifaltigkeit. Stehen die drei gemeinsam auf der Bühne, stehen die lichten Momente der ukrainischen Geschichte im Mittelpunkt. Sind sie aber getrennt, folgen Krieg oder Besatzung. Es entsteht ein Ungleichgewicht; ganz wie bei einem Menschen, der nicht auf seine Seele und seinen Körper hört.“
 
Die Schauspielerin Katharina Dietze erzählt auf Deutsch, was in den verschiedenen Zeitabschnitten mit der Ukraine geschehen ist. Die Schauspielerin Katharina Dietze erzählt auf Deutsch, was in den verschiedenen Zeitabschnitten mit der Ukraine geschehen ist. | Foto: © Rusya Abrosimova
„In einer Stunde ist es unmöglich, die ganze Geschichte der Ukraine zu zeigen“, erklärt Olha Bohachevska. „Es ist jedoch durchaus möglich, einen Gedanken zu vermitteln, nämlich den, dass die Ukraine mehr bedeutet, als man denkt. Ein Junge hat uns nach der Vorführung gesagt: ‚Viele Ukrainer haben mir erzählt, Russland und die Ukraine seien Brüder.‘ Daraufhin haben wir erwidert, dass dies Propaganda sei, die seit vielen Jahren verkündet werde. Und überhaupt: Was bedeutet das eigentlich – ‚Brüderʼ?‘“, sagt Olha seufzend.

„Das Wort ‚Flüchtling‘ gefällt uns nicht. Theater als Gemeinschaft zur gegenseitigen Unterstützung“

Die Schauspielerinnen haben die Ukraine wegen des Kriegs verlassen. Das Theater ist für sie zu einem Ort der Integration, zu einem Handlungsraum, zum Boden unter den Füßen geworden.
 
„Meine Geschichte ist eigentlich ziemlich harmlos“, erzählt Olha weiter. „Anastasia Malysheva, der Autorin unserer Szenographie, ist es da ganz anders ergangen: Sie hat mit ihrer Familie die Besetzung von Butscha überlebt. Die Schauspielerin Iryna Sopilniak hat mit ihren Freunden drei Wochen in einem Keller zugebracht, als ihr Ort Mychajliwtsi-Rubezhinwtsi – ein Dorf zwischen Butscha und Irpin – eingekesselt worden ist. Sie alle hatten Angst, aber es ist ihnen gelungen aus dem Kessel auszubrechen und auszureisen. Sie haben nichts zu essen gehabt, bis auf etwas Brot, das sie untereinander aufgeteilt haben. Im Grunde genommen haben sie ähnliche Erfahrungen gemacht, wie die Menschen im Zweiten Weltkrieg.
 
Die Schauspielerin Iryna Sopilniak (rechts im Bild) Die Schauspielerin Iryna Sopilniak (rechts im Bild) | Foto: © Rusya Abrosimova
Unsere Geschichten sind unterschiedlich. Zusammengebracht hat uns die Regisseurin Marina Schubarth. Sie hat viele Leute hierher nach Deutschland geholt. Marina Schubarth ist eine Ukrainerin aus Kyjiw mit Schweizer Staatsbürgerschaft, die in Deutschland lebt. Sie setzt sich mit komplexen Themen auseinander. Sie hat bereits Inszenierungen zu den Themen Holodomor [Die erzwungene Hungersnot in den 1930er Jahren in der Ukraine, Anm. d. Red.] und Tschornobyl auf die Bühne gebracht.

Wenn die stark gestiegenen Gasrechnungen kommen, werden sich die Menschen fragen, warum sie die Ukraine unterstützen sollten.“

Das Theaterumfeld hilft. Du fühlst dich nicht alleine, sondern unter deinesgleichen. Du weißt, dass dir geholfen wird, und du immer eine Übernachtungsmöglichkeit finden kannst. Deutschland unterstützt die ukrainischen Geflüchteten mit großem Engagement. Es werden Versorgungs- und Sozialleistungen angeboten sowie Deutschkurse. Danach geht es an die Arbeitssuche.
 
Anna Mrachkovska, Schauspielerin aus Kyjiw, ist im März 2022 nach Berlin gekommen. Sie verkörpert im Stück die Erntehelfer*innen, die schwedischen Seeleute und Moskau, das immer wieder versucht, die Ukraine zu „heiraten“. Anna Mrachkovska, Schauspielerin aus Kyjiw, ist im März 2022 nach Berlin gekommen. Sie verkörpert im Stück die Erntehelfer*innen, die schwedischen Seeleute und Moskau, das immer wieder versucht, die Ukraine zu „heiraten“. | Foto: © Rusya Abrosimova
Einmal haben uns fünfzehnjährige Zuschauerinnen aus der Schweiz angesprochen. Sie bedankten sich, denn sie hatten vorher keine Ahnung. Die Sprache des Theaters macht es möglich, Emotionen mitzunehmen, zu begeistern, und man liest hinterher vielleicht mehr zum Thema. Bei der Aufführung war eine Regisseurin aus der Balkanregion anwesend. Sie sagte, dass dieses Stück ihre Meinung über den Krieg geändert habe; denn vorher habe sie gedacht, es handele sich in der Ukraine um einen internen Konflikt.

Wir haben zwar keine Zeit, unsere Traumata zu verarbeiten, aber wir sind ständig in Bewegung. Am Anfang war es sehr schwer, Schuldgefühle, Zukunftssorgen und das Unverständnis über das Geschehene zu unterdrückten. Es wird einem jedoch leichter, wenn man etwas tut und sieht, dass das nützlich ist. Man begreift, dass jedes Geschenk, das man seinen deutschen Freunden mitbringt, wichtig ist. Ich brachte ‚meiner‘ deutschen Familie zum Beispiel Wein oder auch gesunde ukrainische Süßigkeiten aus Pastila mit. Ich habe ihnen erzählt, dass der Wein aus Cherson stammt, einer Region, die jetzt besetzt ist. Mit solchen kleinen Taten erzählen wir den Menschen von unserem Land. Es ist wichtig, bei den Deutschen um Empathie für die Ukraine zu werben. Keiner weiß jedoch, wie das am besten zu bewerkstelligen ist. Denn wenn einmal die stark gestiegenen Gasrechnungen kommen, werden sich die Menschen fragen, warum sie die Ukraine unterstützen sollten.“

Es ist wichtig in Deutschland von der Ukraine zu erzählen. Dort gibt es eine große russische Lobby.“

„Ich hatte nur einen Rucksack dabei“

Anfang April kam Olha in Berlin an. Die Probenarbeit begann im Juni, Premiere war im Herbst.

„Mir ist es unangenehm von mir selbst zu erzählen, schließlich ist mir ja nichts passiert“, bekennt die Schauspielerin. Die Nachricht vom Einmarsch Russlands ereilte sie in der Westukraine, im vergleichsweise sicheren Lwiw. Sie war von Kyjiw angereist, um dort ihren Geburtstag (23. Februar) zu feiern. Am nächsten Tag wurde die Ukraine von russischen Raketen beschossen.
 
„Ich hatte so ein Gefühl, dass etwas passieren würde. Ich war mit Freunden bei einem Konzert. Wir hatten vor, so zu feiern, als wäre es das letzte Mal, denn morgen würde der Krieg beginnen. Und so kam es dann auch. Ich hatte nur einen Rucksack nach Lwiw mitgenommen. Für alle Fälle hatte ich alle meine Diplome und den Computer eingepackt, außerdem Geld und Anziehsachen für das Wochenende. Ich hatte auch zwei Kleider mit dabei, wegen des Geburtstages. Mit diesem Rucksack bin ich dann drei Monate umhergezogen.

Als ich am Morgen des 24. Februar aufwachte, traf es mich wie ein Schlag. Alle sprachen vom Krieg. Lwiw war jedoch nicht bombardiert worden. Als ich mich auf den Weg machte, bemerkte ich, dass meine Hände zitterten. Ich fuhr zu meinen Eltern nach Luzk, schloss mich Freiwilligengruppen an und half den Freunden an der Front. Schließlich wurde Luzk bombardiert. Damals war viel davon die Rede, dass bald die Belarusen einmarschieren würden. In einem okkupierten Land zu leben war für mich keine Option.

Ich versuchte herauszufinden, wo ich mich am besten nützlich machen könnte. Ich hatte in der Ukraine keinen Job und keine Möglichkeit, mich selbst oder meine Eltern finanziell über Wasser zu halten. Also fuhr ich mit meiner Tante nach Tschechien; sie hatte Freunde dort. Danach ging es weiter nach Berlin.
 
Olha Bohachevska auf der Theaterbühne in Berlin Olha Bohachevska auf der Theaterbühne in Berlin | Foto: © Rusya Abrosimova
Ich erinnere mich an das Gefühl, als wir die Grenze überquerten. Mich hat eine solche Panik erfasst. Ein Gedanke jagte den nächsten: Wird die Ukraine besetzt, wird niemand ihr helfen wollen. Uns wird nur dann geholfen werden, wenn wir gewinnen und Russland entschlossenen Widerstand entgegensetzen. Kann es etwa sein, dass es in der Welt keine Gerechtigkeit gibt? Gerechtigkeit gibt es nur, wenn du der gesamten Welt beweist, dass du ein Recht zu leben hast.

Daher ist es so wichtig in Deutschland von der Ukraine zu erzählen. Dort gibt es eine große russische Lobby. Als wir zeigten, dass wir kein schwaches Opfer sind, sondern bereit sind, für unsere Freiheit zu kämpfen, begann man auch, uns zu helfen“, meint Olha Bohachevska.

Das Theater kann zu einer weiteren Plattform werden, auf der diejenigen, die ihre Heimat wegen des Krieges verlassen mussten, ihre Geschichte erzählen können. Das Finale des Theaterstücks steht derweil noch aus. Niemand weiß, wie dieser Krieg enden wird, aber die Ukrainer*innen glauben an den Sieg. Es ist wichtig, die ukrainische Kultur nicht aufzugeben, denn Russland hat die seine ebenfalls nicht aufgegeben.

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