Zu Beginn des großangelegten russischen Angriffs, der alle seine Pläne durchkreuzte, war der Bohemist und Übersetzer Oleksandr Stukalo gerade zu Besuch bei seiner Mutter in seiner ukrainischen Heimatstadt Snowsk. Er begann ein Tagebuch zu schreiben über etwas, wovon er bisher zwar viel gehört, aber es noch nicht erlebt hatte – über Krieg.
Diese Reportage erschien in der Anthologie Brot aus dem Minenfeld (Original: Chleba z minového pole, Slovart 2O22). Die Veröffentlichung auf JÁDU geschieht mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Anfang
Am dritten Tag nach dem großangelegten russischen Angriff, am Samstagmorgen, sollte ich von meinem Heimatort Snowsk nördlich von Tschernihiw, wo ich meine Mutter besucht hatte, nach Kyjiw fahren. Ich hatte bereits ein Flugticket in die tschechische Stadt Pardubice und eine Fahrkarte für den Zug, der mich in einer Stunde von Pardubice nach Prag bringen sollte. In Prag wartete auf mich meine Freundin, in Brno die wissenschaftliche Betreuerin einer kaum begonnenen Diplomarbeit.Drei Tage zuvor, als Putin die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Oster der Ukraine anerkannte, begann sich meine Freundin Sorgen zu machen, ich hingegen blieb optimistisch.
„Falls ein großer Krieg stattfindet“, schrieb sie mir, „wann und wie treffen wir uns dann?“
„Es wird keinen Krieg geben“, antwortete ich. „Du kannst einen Tisch in unserem Lieblings-Burgerrestaurant reservieren, ich bin seit einer Ewigkeit nicht mehr dort gewesen“, schrieb ich ihr zuversichtlich.
Der Kellner des Restaurants Želva (deutsch: Schildkröte) hat glücklichere Menschen auf unsere bereits reservierten Plätze gesetzt, die wahrscheinlich beim Essen auf ihren Smartphones Nachrichten über den Krieg in der Ukraine lasen. Das taten auch wir, aber weit entfernt voneinander. Eines unserer Handys war nur 30 Kilometer von der russischen und belarusischen Grenze entfernt. In ein paar Wochen wird es kein Signal mehr empfangen können, und ich werde drei Tage lang nicht erreichbar sein. Und meine einzige Sorge wird dann sein, dass diejenigen, die sich Sorgen um mich machen, sich halt weniger Sorgen machen sollen.
Am Vorabend des Krieges hatte ich eine weitere Ladung erschreckender Nachrichten und Warnungen des amerikanischen Geheimdienstes gelesen und anschließend mit meinem fünfjährigen Neffen gespielt. Am folgenden Tag wird er an einen Ort mit einem Schutzkeller gebracht. Er wollte Krieg spielen – Autos gegen Panzer. Er hat sich den Krieg anders vorgestellt als wir, und wir haben ihn uns, wie es sich später herausstellte, auch anders vorgestellt, als er tatsächlich aussieht.
Am 24. Februar um sechs Uhr morgens weckte mich meine Mutter mit einem kurzen aber schrecklichen Satz: „Sascha, steh auf! Es ist Krieg! Russische Panzer sind bereits in Hirsk!“ Hirsk ist ein Dorf an der Grenze zu Russland, nur 30 Kilometer nördlich von uns. Wie das ganze Land später erfuhr, griff die feindliche Armee ab vier bis sechs Uhr morgens die nördlichen und östlichen Grenzübergänge der Ukraine an und schoss Raketen auf die Großstädte Kyjiw und Charkiw.
Zeit
Die Zeit dehnte sich sofort aus und wurde nichtlinear. Obwohl unsere Stadt nicht besetzt wurde, war der Krieg überall. Er schmuggelte sich in die morgendlichen Brotwarteschlangen hinein, versteckte sich zwischen den leeren Regalen der Geschäfte, die bald schließen würden, schleichte sich in die Ohren der Einwohner durch entfernte Explosionen, ließ die Fensterscheiben klappern beim unsichtbaren Vorbeiflug feindlicher Flugzeuge, die Tschernihiw bombardieren sollten. Der Krieg veränderte vehement die urbanen Landschaften und die damit verbundenen Emotionen. Da die Zeit in der neuen Realität anders verläuft, habe ich mein Bestes versucht, sie zu zähmen. Ich suchte nach logischen Verbindungen zwischen verschiedenen Ereignissen und schrieb ein virtuelles Tagebuch.Regale in einem örtlichen Geschäft Anfang März 2022: Die Lebensmittel sind ausgegangen, neue Lebensmittel werden wegen der fehlenden Brücken noch nicht wieder geliefert. Quinoa ist ein Ladenhüter, weil es selten ist und Misstrauen erregt. | Foto: © Oleksandr Stukalo
Geld
Am 24. Februar bereits um halb sieben morgens herrscht auf dem zentralen Platz unserer Stadt recht lebhaftes Treiben. Die Einheimischen, von der Nachricht früh geweckt, heben hastig Bargeld ab und eilen in den rund um die Uhr geöffneten Supermarkt. Niemand versteht etwas, aber jeder weiß es mit Sicherheit: Es müssen Vorräte gemacht werden.Ich stelle mich dreimal an und hebe 6.000 Hrywnja (damals ca. 220 Euro) ab. In einer Woche wird es nur noch in einigen Geschäften der Stadt möglich sein, mit Karte zu bezahlen. Noch eine Woche später gehen in den Läden die Waren aus, denn wir werden von der Zivilisation abgeschnitten: Die ukrainische Armee sprengt alle umliegenden Brücken in die Luft.
„Hey! Für wen hast du deine Karte hier gelassen?“, erschreckte mich eine Frauenstimme von hinten.
„Putin“, wollte der noch schläfrige Verstand sofort lossschiessen.
Wenig später schickte mir mein Bruder ein Video, in dem eine Kolonne russischer Militärfahrzeuge zu sehen war, während sie durch den Wald auf der Umgehungsstraße an unserer Stadt vorbeifährt. Diese Straße führt von der russischen und belarusischen Grenze in Richtung Tschernihiw. Sie fuhren an uns vorbei, weil wir abseits von jeglicher wichtiger Strassen waren.
Speiseeis war das letzte, was in der Stadt ausging. Niemand hatte dafür in Warteschlangen gestanden.“
Die bescheidene Unattraktivität von Snowsk
Schlussendlich wurden wir weder besetzt noch bombardiert, denn in der Stadt gab es nichts strategisch Bedeutendes. Weder wichtige Straßen noch Unternehmen oder Militäreinheiten – nur Eisenbahngleise nach Belarus, auf denen seit 2014 lediglich ein Dieselzug verkehrte anstelle von 15 internationalen Zügen, die wir noch von der sowjetischen Infrastruktur geerbt hatten und die einst das Baltikum und Russland mit verschiedenen Ecken der Ukraine verbindeten. In Snowsk gibt es nur Eisenbahngleise und ein Eisenbahndepot, und zwar eines von zweien im ganzen Land, wo bis heute noch Lokomotiven repariert werden.Durch die benachbarte Bezirksstadt Horodnya verläuft die Autobahn aus Belarus nach Tschernihiw, deshalb wurde diese Stadt besetzt. Die Besatzer verhängten eine nächtliche Ausgangssperre und versuchten zwei Monate lang, den Bürgermeister zur Zusammenarbeit zu bewegen. Aber jegliche Anstrengungen blieben erfolglos.
Zum ersten Mal bin ich dafür dankbar, dass Snowsk bis 2022 einfach vor sich hin existierte – ein ruhiges, unauffälliges Städchen und, wie es sich nun herausstellte, total uninteressant für die Besatzer. Eine ideale Stadt mitten in der Grauzone, in der wir uns auf einmal wiederfanden.
Wo früher eine Brücke war, ist jetzt ein Loch. Das Foto entstand im Frühjahr 2022, nachdem sich die Russen bereits aus dem Norden zurückgezogen hatten. | Foto: © Oleksandr Stukalo
Kesselwagen
Am Nachmittag des 24. Februar kaufte ich eine Zugfahrkarte nach Przemyśl, mit der Absicht per Zug nach Tschechien zu gelangen.Eine Stunde später verhängte der Präsident das Kriegsrecht und verbot allen Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise.
Noch eine Stunde später erfuhr meine Mutter, die bei der Bahn arbeitet, dass es nicht mehr möglich ist, unseren Bahnhof per Zug zu verlassen, weil hinter der Ortschaft Makoschyn auf der Brücke über den Fluss Desna ein Kesselwagen an die Gleise geschweißt wurde, um den feindlichen Zügen den Weg zu versperren.
Die Stadt Tschernihiw wurde bereits beschossen. Minütlich schrumpfte die Anzahl befahrbarer Strassenbrücken in unserer Region.
Letztendlich habe ich das Zugticket zurückgegeben. Ich werde die nächsten zwei Monate zu Hause verbringen.
„Es wäre besser gewesen, du wärst schon vor zwei Wochen weggefahren, als bei euch auf der Arbeit über Evakuierung gesprochen wurde“, seufzte meine Mutter später. „Aber vielleicht sollte es auch so kommen: Wenn du nicht hier wärst, wäre ich in diesem Krieg ganz alleine!“
Meine Mama hat es schwer, sich an Veränderungen zu gewöhnen. Ständig zu Hause ohne Arbeit langweilt sie sich und versucht, mir eine grüne Mütze zu stricken. „Hätte ich Arbeitseifer, wäre die Mütze in zwei Tagen fertig! Aber jetzt wollen meine Hände einfach keine Arbeit machen, verstehst du?“
Medien
Alle, die Telegram noch nicht auf ihrem Handy installiert hatten, taten es nun endlich. Dutzende verschiedene Gruppen berichten über aktuelle Ereignisse. Fotos von feindlicher Militärtechnik in Aktion. Fotos von Raketenanschlägen. Die Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Der Flughafen Hostomel. Russische Truppen im Kyjiwer Stadtbezirk Obolon. Straßenkämpfe. Abgeschossene Helikopter. Titelseiten ausländischer Zeitschriften.„Sohn, was soll ich lesen?“, fragte meine Mutter schon am zweiten Angriffstag. Ich empfehle ihr wahrheitsgemäße und ermutigende Informationsquellen, suche Artikel zur Stressbewältigung und versichere ihr, dass Apathie und Durst normal sind. Ich bitte sie, nicht zu vergessen, Wasser zu trinken.
Ich erfuhr zum ersten Mal, wie unser Bürgermeister heißt. Zum ersten Mal sah ich, wie das Oberhaupt der Gebietsverwaltung und der Bürgermeister von Tschernihiw überhaupt aussehen. Der Krieg vermenschlichte die Beamten. Einer schrieb Texte, ein anderer war besser darin, kurze Videos zu machen, und noch ein anderer war fotogen und machte Bilder von seinen schönen Socken.
„Unser Bürgermeister versteckte sich drei Tage lang, wartete auf die Russen, aber jetzt… hast du gesehen, hast du gesehen? Jetzt geht er jeden Morgen in den Schutzkeller der Stadtverwaltung, trinkt dort mit seinen Freunden Schnaps und kehrt dann angetrunken nach Hause zurück“, erzählt mir mein Bruder.
Die Fernsehnachrichten ähneln nun den sozialen Netzwerken, schreibt mir ein virtueller Bekannter. „Hier werden Memes vom Smartphone vorgelesen, Nachrichten aus dem Internet erzählt, und obszöne Sprache wird dabei nicht ausgepiepst.“
Wie einst der große Marshall McLuhan vorhergesagt hatte: „Sag mir, woher du die Nachrichten erfährst, und ich sage dir, was das für Nachrichten sind.“
Veränderungen
Wenn man sich von den Nachrichten losreißt und versucht, das Herzrasen zu verlangsamen, stellt man verblüfft fest, dass sich in der Stadt fast nichts geändert hat. Es gibt drei Hauptunterschiede zu Friedenszeiten. Erstens wurde eine nächtliche Ausgangssperre und Verdunkelung verordnet. Je später die Ausgangssperre beginnt, desto näher ist der Frühling. Zweitens lernten wir den Ton der Alarmsirenen kennen. In der Stadt gibt es zwei davon und wir stellten fest, dass sie durch ein PVC-Fenster nicht zu hören sind. Drittens wurden die Waren in den Geschäften knapp, denn die erste größere Lebensmittellieferung trifft in der Stadt erst Anfang April ein.Eine Karierte Notfalltasche
Gleich am ersten Tag räumte ich zusammen mit der Mutter den Keller in der Scheune aus und wir packten das Notfallgepäck in eine große karierte Tasche. Darin lagen eine Taschenlampe, Medikamente, Wasser, hartgekochte Eier und Brot, warme Kleidung, Toilettenpapier und eine Flasche Alkohol. Der nächste Luftschutzbunker war im Kulturzentrum.„Ich habe gesehen, wie der Bunker Ende der Achtziger gebaut wurde, und mich kriegt da keiner rein“, sagte meine Mutter entschlossen. „Aber unser Keller hat schon 2006 einen Brand überstanden.“
Deshalb haben wir einstimmig unserem Keller den Vorzug gegeben, aber lange konnten wir es dort nicht aushalten, niemals länger als eine halbe Stunde.
Sirenen
Die Sirenen von Snowsk singen zu leise, aber als sie zum ersten Mal ertönten, war das für alle ein Novum. Wir haben Angst, rennen aus dem Haus mitsamt dem Notfallrucksack, stehen in der Nähe des Kellers, lauschen und sprechen mit den Nachbarn. Viktor, ein Schuster und Schuhmacher, der über uns wohnt, kommt raus mit seiner Frau Yuliya, die in einer Lebensmittelfabrik arbeitet.„Die Fabrik wurde geschlossen, und der Besitzer schrieb aus Deutschland: ‚Warum macht ihr keinen Gewinn?‘ Hat er denn keine Ahnung, dass es Krieg ist?! Derzeit behält er noch die für den Export fertige Produktion, aber bald wird er wohl die Lage verstehen und anordnen, alles zu verkaufen.“
Viktor kann nicht mehr arbeiten, genauso wie meine Mutter.
„Die Hände sind nicht arbeitsfähig. Arbeit gibt es, aber die Hände kriegen sie nicht hin. Es gibt viele Aufträge, und es wird noch mehr geben, denn neue Schuhe gibt es nirgends zu kaufen, also müssen die alten repariert werden.“
Von uns allen hat er am meisten Angst. Er kann nicht schlafen, läuft nachts im Hof herum und passt auf, dass kein Fremder hereinkommt.
Warteschlangen
Das Bargeld in den Taschen der Bürger schwindet genauso schnell wie die Ware in den Läden. Geldautomaten funktionieren schon lange nicht mehr, mit Karten kann man fast nirgends zahlen. Deshalb steht es jeden Morgen eine Schlange von etwa hundert Menschen vor der staatlichen Sparkasse: Dort werden pro Person nur 500 Hrywnja (ca. 15 Euro) ausgezahlt. Eine Woche später kommt eine weitere Schlange hinzu, am anderen Ende des Platzes, vor einer anderen Bank. Auch dort soll es angeblich Bargeld geben. Eigentlich können alle, die gerade nichts in der Stadt zu tun haben, einen halben Tag in Warteschlangen verbringen. Neben Schlangen für Geld gibt es auch solche für Medikamente, Milch, Öl und andere Lebensmittel. Eine Warteschlange für jeden Geschmack.In einer der Schlangen treffe ich meine frühere Klassenlehrerin Natalia Mykolajiwna. Sie unterrichtete an unserer Schule russische Sprache und Weltliteratur. Jetzt ist sie schon alt, aber sie hält sich gut.
„Sascha“, sagt sie, „als ob ich es gewusst hatte: Ich habe in den ersten Kriegstagen meine gesamte Rente abgehoben! Jetzt haben die Leute kein Bargeld, aber ich werde nicht in der Schlange stehen müssen. Gut, dass ich es rechtzeitig abgehoben habe! Die Lehrerrente ist klein, aber zumindest habe ich sie! Warum bist du nicht weggefahren? Jetzt wirst du hier bleiben müssen.“
Speiseeis war das letzte, was in der Stadt ausging. Niemand hatte dafür in Warteschlangen gestanden.
Alltag an einem Ort, wo zwar kein direkter Krieg herrscht, aber der Supermarkt bereits keine Lebensmittel mehr hat: Die Menschen haben nichts zu essen und stehen Schlange für Graupen, Öl und Mehl. | Foto: © Oleksandr Stukalo
Oma
Meine Oma wohnt 25 Kilometer entfernt im Dorf Stara Rudnya. Die ganze erste Woche haben wir keinen Kontakt zu ihr, genauso wenig wie zur Schwester meiner Mutter im besetzten Städchen Horodnya. Im Omas Dorf war schon zu Friedenszeiten der Empfang sehr schwach, daher ist es wenig überraschend, in Horodnya jedoch war das Netzsignal normalerweise gut, aber die Besatzer blockierten es und errichten ihre eigenen Mobilnetze. Jeman erzählte, dass hinter der Brücke über den Fluss Snow die Telefone Signal bekommen und deren Besitzer zurück in der Ukraine begrüßen.Als ich Oma glücklicherweise letztendlich erreichte, erzählte sie mir, wie sie russische Militärtechnik zählt.
„Den ganz Tag fahren und Fahren sie: Panzer, Lastwagen und andere gepanzerte Fahrzeuge. Alles in eine Richtung. Ein paar Tage später fuhren drei Autos in die andere Richtung. Ein Fahrer hielt an und bat um Wasser, da fragte ich ihn: Warum fährt ihr zurück? Er antwortete: ‚Ich bringe die Leichen zurück nach Russland.‘“
Omas Fenster blicken auf die zentrale Dorfstraße.
Mein Gehirn will diese schrecklichen Bilder nicht zulassen, aber ich bahne ihnen den Weg ins Bewusstsein und denke immer wieder daran.“
Umzug
Nach ein paar Tagen hatte die Oma die Panzer satt und wir fanden einen Nachbarn aus ihrem Dorf, der sich über Umwege ins Bezirksstädtchen traute, um dort die geschlossene Lebensmittelfabrik zu bewachen. Er fuhr über die Wege, auf denen noch keine russischen Checkpoints errichtet worden waren; in Stara Rudnya wurde ein Checkpoint am Tag nach der Omas Evakuierung errichtet.Bei ihrer Tochter angekommen, beginnt die Oma, fünf Jahre alte Zeitungen zu lesen, die ihr die Nachbarin ständig bringt. Deshalb lebt sie in ihrer eigenen, etwas älteren Version der Realität und reagiert auf den Krieg nur mit einem Seufzen: „Wie können wir dem widerstehen, wir sind so klein.“
„Putin wurde in der Erde begraben“, liest sie eine Schlagzeile aus dem Blatt Tschernihiwer Nachrichten, dass früher mal sehr anschaulich und interessant über Chupacabras geschrieben hatte (weswegen es mir in Erinnerung geblieben war).
„Leider wurde er wohl nicht besonders tief begraben“, antwortet meine Mutter lachend.
Allein auf dem Schlachtfeld
Eines Tages hörten wir verschiedene Kriegsgeräusche. Zuerst gab es weit entfernte Explosionen, später kamen sie näher, und noch später waren mehrere Maschinengewehrsalven zu hören.„Im Dorf Zaimyschtschi hat ein Anwohner einen Molotow-Cocktail auf feindliche Fahrzeuge mit Munition geworfen, woraufhin diese explodierten. Die Russen schossen auf den Mann“, erzählte uns später die Milchfrau.
Behördensprache
Im März verirrt sich ein russischer Panzer und tauchte plötzlich in Snowsk auf.„Feindliche schwere Ausrüstung in der Anzahl von einem Stück drang in die Stadt ein“, schrieb ein unbekannter Moderator des Telegram-Kanals „Snowsk Stadtrat“, der die Bevölkerung hauptsächlich darüber informierte, wo am nächsten Tag Milch verkauft wird.
Die Behördensprache ist so unpraktisch, dachte ich mir dabei.
Arbeitsschutz
„Feindliche Ausrüstung“ drang erneut in unsere Stadt ein, aber diesmal keine schwere. Die Russen kamen mit mehreren Geländewagen und entführten gezielt sieben Anwohner. Zuerst dachten wir, dass es sich nur um zwei Personen handelt – den Bürgermeister und den wichtigsten Geschäftsmann der Stadt. Dann stellte sich heraus, dass auch einige Kämpfer an die Russen verraten wurden. „Sie wurden an einen unbekannten Ort gebracht“, schrieb der Moderator der städtischen Telegram-Gruppe.Später hieß es, dass man nach den Gefangenen suche, diese aber nicht gefunden werden können, und schließlich lasen wir, dass fast alle von ihnen wieder zurück sind. Ohne zusätzliche Details.
Ein paar Wochen später erzählte mir meine Mutter, was ihr jemand anderes erzählt hatte: Einer der Gefangenen, ein Mitarbeiter der Eisenbahn, den sie kannte, wurde „für jedes ukrainische Wort geschlagen“. Und besonders für das Wort „Arbeitsschutz“, weil es für seine Peiniger wohl wie „Schutzeinheit“ klang. (Na ja, solche Geschichten erscheinen sogar mir zu dumm und zu unwahrscheinlich, aber die Kriterien der Unwahrscheinlichkeit sind in letzter Zeit ziemlich stark verwischt.)
Tschernihiw
Einen Monat nach Kriegsbeginn verschwanden Brotschlangen in der Stadt, aber das nächtliche Brummen der Flugzeuge, unsichtbar hinter den Frühlingswolken, war noch lange zu hören. Die Flugzeuge flogen sehr tief und jedem von uns war klar: Sie flogen nach Tschernihiw.In Tschernihiw haben alle hier viele Bekannte oder Verwandte – Freunde, Familienmitglieder, Eltern. Die ältere Tochter einer Freundin meiner Mutter lebt dort. Die jüngere wiederum in Charkiw. Eins schlimmer wie das andere. Lange hören wir nichts von ihnen. Wenn man die Tagesberichte des Leiters der Oblastverwaltung liest, versteht man auch warum. Manche Stadteinwohner kommen gar nicht aus den Kellern raus, andere haben zerbrochene Fensterscheiben bei der noch winterlichen Temperatur von lediglich zwei Grad plus, andere wiederrum haben überhaupt keine Behausung mehr. Als sich die Russen zwei Wochen später zurückziehen und die Straße nach Tschernihiw frei wird, wollen mein Bruder und seine Freunde überprüfen, ob ihre Häuser noch stehen. Später wird er erzählen, dass er es nicht glauben konnte, dass der einst prosperierende Vorort Nowoseliwka nun völlig in Trümmern liegt.
Als ich einen Monat später zum ersten Mal durch die Innenstadt von Tschernihiw fahre, werde ich mir bewusst, dass das Gehirn die Realität zu filtern scheint. Es akzeptiert weder das durch den Raketenangriff verursachte Loch in der Fassade des Hotels Ukraine, von wo immer Kleinbusse nach Kyjiw abfuhren, noch das von Bomben zerstörte Historische Museum oder die vom Feuer geschwärzte Polizeizentrale und das von den Bürgern selbst niedergebrannte Gebäude des Sicherheitsdienstes der Ukraine. Mein Gehirn will diese schrecklichen Bilder nicht zulassen, aber ich bahne ihnen den Weg ins Bewusstsein und denke immer wieder daran.
Fladenbrot
Erst während des Krieges begann man Lavash, armenisches Fladenbrot, in der Stadt zu backen und an mehreren Stellen zu verkaufen. Falls der lokale armenische Unternehmer mit dem Nachnamen Gzyrbalyan überhaupt dieses Brot überhaupt vorher backte, so hat er es ziemlich unauffällig verkauft. In Friedenszeiten hatte ich nie frisches Fladenbrot mit duftendem Leinöl auf dem Tisch. Jetzt wird dieses Aroma als Geschmack meiner heimatlichen grauen Zone für immer mit mir bleiben.Gedichte
Nach der Befreiung der umliegenden Territorien ist einer der beiden Supermärkte der Stadt immer noch aufgrund des Warenmangels geschlossen, aber am Süßwarenstand im Park gibt es bereits frische runde Lebkuchen und im Kiosk auf dem Hauptplatz Tintenfischringe. Ich gehe dort überall vorbei während meines Sonntagnachmittagsspazierganges.Hinter der Stadt biege ich zur Brücke ab. Ich blicke auf die noch winterlich verschlafenen Bäume, drehe mich um, gehe am Brunnen vorbei und bemerke die alte Botschaft eines lokalen Quasidichters, der einst in seinen Versen Politiker beschimpfte. Jetzt ruft er zu Gebeten für den ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel und den ukrainischen Präsidenten Selenskyj auf. Er spürt dezent den Puls der Zeit, wahrhaftig ein Dichter.
Quasipoesie auf der Straße | Foto: © Oleksandr Stukalo
Trostyanets
Die bei einer alten Oma auf dem kleinen Markt gekaufte Kaugummipackung Dirol wurde in der Türkei noch in der Vorkriegszeit hergestellt und über Trostyanets, einer Bezirkshauptstadt in der Oblast Sumy importiert. Der kalte Kaugummi knistert auf den Zähnen wie Glasscherben auf den Fotos von der zerstörten Süsswarenfabrik von Trostyanets. [Trostyanets ist eine Stadt in Nordosten der Ukraine, die ca. einen Monat lang besetzt war. Dort befindet sich die während der Besatzung stark zerstörte Süßwarenfabrik Mondelez Ukraine. Anm.d.Ü.]Minus zwei
Am 31. März beträgt die Temperatur in der Stadt minus zwei Brücken. Eine vollständig, die andere nur teilweise. Die Russen haben sich in Horodnya isoliert, jetzt haben sie von dort nur noch Zugang nach Tschernihiw oder nach Belarus. Zu uns können sie nur noch direkt aus Russland kommen. Es heißt, sie ziehen sich zurück. Aber in der Nacht zuvor waren wir alle sehr veränstigt: Elf Panzer waren auf dem Weg in unsere Richtung, aber sie drehten wieder um.Störche
Ein weiterer Spaß in der grauen Zone: Sechs Kilometer zusammen mit der Mutter zu einem nahe gelegenen Dorf zu spazieren, um sich die in die Luft gesprengte Brücke anzuschauen. Wir bemerken auch die Fahrspuren einer Panzerkolonne, die es nie schaffte, den Fluss Snow zu überqueren. Wir betrachten die Störche auf den Feldern und in ihren Nestern. Und wir denken darüber nach, wie beängstigend und unangenehm es für sie war, in ihr Heimatland mit den gut bekannten Stromleitungsmasten zurückzukehren. Einige der Masten gibt es nicht mehr.Der Fluss ist breit, eine Pontonbrücke kann nicht gebaut werden, also können auch keine Panzer den Fluss überqueren, hurra. | Foto: © Oleksandr Stukalo
Weidenkätzchen und Gerippe
Wir sammelten Weidenruten. Diese Weidenkätzchen sind weich, wie sie eben sein sollten und unanagenehm nass und kalt, so wie es halt ist, wenn die Weiden in der Nähe eines großen Gewässers in unserer Region Polesien wachsen.Alle Einheimischen machen ihre Promenade zu der gesprengten Brücke. Sie gehen, sinnieren, schaudern. Auf der Brücke ist ein Loch mit den herausragenden Stäben des Gerippes. Dies ist eine Ersatzbrücke für die frühere breite Hauptbrücke, die den Beschluss fasste, letzten Sommer endgültig in den Ruhestand zu gehen; sie wurde durch gelbe Tafeln, die für das staatliche Programm „Großer Bau“ werben, abgezäunt. [„Großer Bau“ (Велике будівництво) ist ein von Präsident Wolodymyr Selenskyj ins Leben gerufene Programm, das die Erneuerung oder den Neubau von Lehranstalten, medizinischen Einrichtungen, Strassen und Brücken in der Ukraine vorsah. Anm.d.Ü.].
Ein Panzer kann definitiv nicht über die neue Brücke fahren. Ein kleiner Lastwagen mit Brot schon, aber ein Panzer nicht.
Ein Panzer wird den Fluss nicht überqueren können. Denn eine Pontonbrücke zu errichten ist hier auch nicht möglich. Der Fluss Snow ist durch das jährliche Tauwasser breiter geworden und so verteidigt er seine verschlafene Stadt Snowsk.
Der Neffe versteht nicht, warum man überhaupt kämpfen muss, hat aber das russische Panzerspiel vom Telefon gelöscht.“
Spielzeug
Der fünfjährige Myron und sein Großvater kommen mir entgegen.„Ich gehe in die Fahrschule, da gibt es einen Keller, ich muss dort endlich Spielzeuge vorbeibringen. Falls sie uns bombardieren werden. Mit dem Spielzeug macht es mehr Spass. “
Die gelb-blaue Flagge weht. Auf den Strassen liegen die Autoreifen Arm in Arm mit den Panzerabwehr-Igeln. Alles wartet auf den Frühling.
Kriegskinder
In den Zeiten der grauen Zone leben vier Generationen in unserer Wohnung: Großmutter, Mutter, ich und manchmal mein Neffe, der Enkel meiner Mutter. Die Großmutter wurde 1941 geboren, der Neffe 2016. Beide sind Kriegskinder. Großmutter glaubt nicht allzu sehr an unseren Sieg und beobachtet einfach die Realität. Der Neffe versteht nicht, wozu man überhaupt kämpfen soll, hat aber das russische Panzerspiel vom Telefon gelöscht, weil er bereits weiß, dass Russland unser Feind ist.Befreiung
Die Befreiung des Nordens geschah unerwartet: Erst gestern hat der Feind neue Ausrüstung an die belarusische Grenze gebracht, und heute ruft die Schwester meiner Mutter an und sagt mit freudiger und zugleich müder Stimme:„Tanya, sie sind wirklich gegangen. Sie sind weg!“
Daraufhin hat mir meine Mutter die grüne Mütze schnell zu Ende gestrickt. Wie versprochen, innerhalb von zwei Tagen.
Oktober 2022