Zerstörung des Kachowka-Staudamms  Geschichte unter Wasser

Geschichte unter Wasser Foto: © Polina Raiko Charitable Foundation

Die ukrainische Dichterin Julia Stakhivska ist empört, wie der Diskurs über die Zerstörung des Kachowka-Staudamms in den globalen Medien geführt wird. Und außer den Menschen, die zu Geiseln des Wassers wurden, möchte sie auf die so genannten Randnotizen aufmerksam machen. So sind in den Fluten des Dnipro auch einzigartige Kunstwerke untergegangen, wie etwa das paradiesische Haus von Polina Raiko, ein herausragendes Beispiel der ukrainischen naiven Kunst.

Die Gedanken steigen wie das Wasser des Flusses Dnipro, nachdem die Russen den Kachowka-Staudamm gesprengt haben. Erst siehst du, wie in der Gesellschaft eine Welle der Wut, in manchen Fällen vielleicht auch des Schocks, aufsteigt: Sie haben es wirklich getan! Dann, als die Informationen über die Katastrophe allmählich hochschwappten – Kommentare, Erklärungen, Berichte, Fotos, Social media-Beiträge, Hilferufe und so weiter – bestürzt dich der „Diskurs der Uneindeutigkeit“ über die Verantwortlichen in den globalen Medien. Das ist doch keine „Uneindeutigkeit“, sondern eine gezielte Taktik der verbrannten Erde!

In Gefangenschaft des Wassers

Vor allem aber bemitleidet man die Menschen, die zu Geiseln wurden, in Gefangenschaft des Wassers. Viele konnten nicht gerettet werden, weil die Russen die Evakuierung der Zivilist*innen auf der ukrainisch kontrollierten Seite beschießen. Und in den besetzten Gebieten kann man kaum von „Hilfe“ sprechen. Viele Siedlungen sind überflutet, es mangelt an Trinkwasser und an humanitärer Grundversorgung. Flucht erlauben die Besatzer nicht, und ihre „Hilfe“ beschränkt sich darauf, denjenigen, die bereits einen russischen Personalausweis „bekommen“ haben, eine Umsiedlung zu empfehlen – irgendwohin „nach Tscheljabinsk“. Sie begehren das ukrainische Land so sehr, koste es, was es wolle. Und die Menschen, die die „brüderlichen Absichten“ erstaunlicherweise nicht zu schätzen wissen, muss man besser vernichten.

Ein Opfer dieser Katastrophe ist die Natur: ein riesiges Ökosystem samt Flora und Fauna wurde zerstört. Die Auswirkungen dieser Katastrophe, die „Flutwelle“ wird im globalen Süden zu spüren sein, wenn die Getreidelieferungen noch stärker zurückgehen. Denn ohne Wasser werden sich die Ackerfelder im Süden der Ukraine allmählich in Wüste verwandeln.

Der Fisch, der im seichten Wasser stirbt, ist ein bekanntes eschatologisches Motiv, eine Todesmahnung. Gefahr für die Reaktoren des Atomkraftwerks Saporischschja. Mangel an Trinkwasser. Sind das nicht die Gefahren, auf die globale Umweltaktivist*innen in ihren Kampagnen aufmerksam machen? Oder täusche ich mich, und diese Gefahren betreffen die Ukraine nur indirekt? Dabei spreche ich nicht einmal vom Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo auf der Welt, sondern von einem Ereignis genau hier, in Europa, in der Ukraine. Hier findet heute ein „Happening“ statt, bei dem ein einzigartiges Haus im seit eineinhalb Jahren besetzten Oleshky untergeht: das Haus der Künstlerin Polina Raiko, die ihre Wände mit phantastischen Bildern und Tieren bemalt hat – ein wunderschönes Beispiel ukrainischer naiver Kunst.
 

Ein paradiesisches Haus

Polina Raiko war eine autodidaktische Künstlerin, die ein ungewöhnliches Haus geschaffen hat – ihr eigenes Paradies. Sie wurde 1928 in Oleshky geboren, wo sie ihr ganzes Leben mit harter Arbeit und einer schwierigen Familiensituation verbrachte. Im Alter von 69 Jahren griff sie zum Pinsel und malte eine weiße Taube auf das Tor. Von da an malte sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2004. Sie dekorierte das gesamte Anwesen.

Erst später wurden Kunsthistoriker*innen und Kenner*innen der ukrainischen naiven Kunst auf ihr Werk aufmerksam. (Wenn euch dieses Thema interessiert, empfehle ich die Werke von Mariia Prymatschenko oder auch von Kateryna Bilokur.) Die Zerstörung eines derartigen Kunstwerks wie dieses Hauses von Polina Raiko ist ein weiteres Detail, eine Randnotiz dieses Krieges, der in gewissem Sinne (sic!) schon Hunderte von Jahren andauert.
   

Unter der Wasseroberfläche

Der Kachowka-Stausee wurde ebenso wie das Saporischschja-Wasserkraftwerk im Zuge der sowjetischen Landgewinnungsmanie in den Weiten des historischen Landes der ukrainischen Kosaken und der Saporischschja Sitsch, also in Welykij Luh (das heißt auf Deutsch „Große Wiese“), errichtet. Um die Bedeutung dieser Region für die Ukraine herauszuheben, empfehle ich Ihnen, unter dem Stichwort „Kiewer Höhlenkloster“ oder „Heilige Sophia von Kiew“ nachzuschlagen. Sie werden die beeindruckende Architektur des ukrainischen Barock sehen, entstanden während der Herrschaft des ukrainischen Hetmans Iwan Masepa und von verschiedenen Mäzenen finanziert: ein bedeutender Beitrag von Wissenschaft und Kultur, zugleich auch einer der Ursprünge der ukrainischen Identität.

Im Jahr 1775 zerstörte die russische Kaiserin Katharina II. die Saporischschja Sitsch. Einige der überlebenden Kosaken blieben in diesem Gebiet, andere zogen ans Schwarze Meer oder in die Region Kuban. Und nun steht wieder einmal die Geschichte unter Wasser. Aber halt! – Das ist doch nicht „Geschichte“: Das ist Gegenwart und das ist das Leben heutiger Menschen.
Wer die Polina Raiko Charitable Foundation finanziell unterstützen möchte, findet auf den Webseiten der Stiftung entsprechende Kontonummern: polinaraiko.com/found/

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