Wie Millionen andere Menschen haben auch ukrainische Künstler*innen und Kulturschaffende ihre Heimat verlassen. Manche sind mittlerweile zurückgekehrt, manche sind in der Ferne geblieben, manche denken gerade erst über eine Flucht nach. Doch alle bemühen sie sich, der Welt die Kultur der Ukraine nahezubringen und die alltägliche Kriegsrealität, in der sie stattfindet – so wie die Kuratorin Oksana Shchur, die darüber reflektiert, was es in dieser Welt bedeutet, „Geflüchtete“ zu sein.
Sie hatten genug Fernsehnachrichten gesehen und waren gekommen, um Gedichte zu hören. Eine ukrainische Dichterin saß neben mir auf der Bühne, hübsch wie eine Pflaumenblüte. Und ich sprach über die Bedeutung des kulturellen Austausches, darüber, wie wir seit einem Jahr an Lesungen und Übersetzungen gearbeitet und geplant hatten, hierher zu kommen. Es hätten mehr von uns hier sein sollen, sagte ich. Wir haben es sogar geschafft, britische Einreisevisen zu bekommen.
In ihren Köpfen – damals habe ich aber noch nicht darüber nachgedacht – gab es irgendein anderes Bild von Geflüchteten, ein Brandzeichen, und das konnte nicht auf mich zutreffen. Ich bin eine weiße Frau aus Osteuropa. Ich habe eine Staatsbürgerschaft und einen Reisepass. Ich habe einen Universitätsabschluss. Ich kann mich über Doris Lessing und Ishiguro unterhalten, ich erkenne einige Zitate aus der Bibel, ich habe Shakespeare in der Schule gelernt, J.K. Rowling gelesen und nicht nur Harry Potter. Ich besitze eine Eigentumswohnung (in einem Land, in dem Krieg herrscht). Ich habe einen tollen Arbeitsvertrag (in einem Land, in dem Krieg herrscht), ich arbeite in internationalen Projekten, beschäftige mich mit der Literatur, und ich bin eigentlich aus diesem Anlass hierhergekommen, und meine Reisekosten wurden durch einen Zuschuss der Europäischen Union bezahlt, den ich vor einem Jahr erhalten habe. Bin ich wirklich jemand auf der Flucht?
Ich bin eine Geflüchtete. Ich bin eine Kuratorin literarischer Projekte. Ich bin eine Geflüchtete.
Ich verschloss die Tür meiner Wohnung mit dem Gefühl, dass es für immer ist. Mein Haus war zu der Zeit fast leer, geblieben waren nur Rentnerinnen, die jedes Mal, wenn der Luftalarm erklang, diszipliniert versuchten, in den Keller zu gehen. Der Keller war aber feucht und ungemütlich, also hockten sie meist auf dem Spielplatz wie große müde Vögel. Jede von ihnen hatte einen Plastikbeutel mit Papieren und Medikamenten dabei. Sie hielten Ausschau nach feindlichen Flugzeugen am Himmel, aber die kamen und kamen nicht, stattdessen hörte man ständig Explosionen.Mein Lebenslauf war gut genug, damit ich um einen kurzen Residenz-Aufenthalt ersuchen konnte. „Ich werde in der Bibliothek arbeiten“, tippte ich in einen Projektantrag während der Fahrt in einem Evakuierungswaggon. Ich bräuchte es wirklich, so schnell wie möglich. Als ich das Land verließ, hatte ich bereits einen kurzen Künstleraufenthalt in Wien sicher. Das bedeutete, dass ich eine Zeit lang ein Dach über dem Kopf haben würde. Das heißt, ich hatte einen Ankunftsort. Ich wurde von jemandem erwartet. Es war mir peinlich, das den erschöpften Frauen zu sagen, die im Vorraum des Vorortzuges nach Schytomyr standen, weil es im Abteil für sie keinen Platz mehr gab.
Ich konnte es den erschöpften Menschen auf dem Bahnsteig des Bahnhofs in Lwiw nicht verraten, die aussichtslos versuchten, in die geschlossenen Waggons in Richtung Uschhorod zu gelangen: Es gab nicht genügend Plätze, und niemand durfte rein; es schneite in der Morgendämmerung, die Gefahr lag schon weit zurück, und die Züge wurden wieder ordentlich, verloren ihre Dramatik und ihr Mitgefühl. Und doch war ich eine Geflüchtete.
Denn in Wirklichkeit befand ich mich in der gleichen Ungewissheit wie die weinende Frau mit der Bommelmütze, die von Saporischschja nach Sofia zu ihren Verwandten reiste und nicht wusste, was sie dort mehr als zwei Wochen lang tun sollte; wie die wohlhabenden Frauen aus Charkiw, die alles, was sie besaßen, und auch ihre Ehemänner zu Hause ließen, und sich auf dem Weg nach Deutschland zwischendurch kurz in ungarischen Bädern erholen wollten; wie eine junge Frau aus Chmelnyzkyj – sie hatte die größten Koffer, weil sie ohne Eile gepackt hatte, überzeugt, dass man rechtzeitig fliehen muss.
Wir fliegen nach Edinburgh
Meine Geschäftsreise nach Schottland war schon lange geplant, und obwohl die Flüge in meinem Land gestrichen waren, erschien es mir unpassend und feige, die Reise abzusagen. Man muss darüber sprechen, was in meinem Land gerade passiert. Ich arbeitete immer noch in einer nationalen Kultureinrichtung, und wie durch ein Wunder überwies mir der Staat mein Gehalt auf mein Konto. Ich schrieb meine dienstlichen Mails, begleitet von Explosionen, in Vorortzügen, auf Flughäfen. Meine ausländischen Gesprächspartner, einschließlich derer, die mich retteten, konnten nicht verstehen, was wirklich geschah, aber sie wollten tatsächlich helfen.Wir hatten das ukrainisch-schottische Literaturprojekt Beyond Any Curtain (Jenseits aller Vorhänge) genannt und bezogen uns dabei sowohl auf Begriffe aus dem Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts als auch auf den Brexit, der die Bewegungsfreiheit zwischen der Ukraine, dem Schengen-Raum und dem Vereinigten Königreich kompliziert machte. Darüber hinaus wurde der Grenzübertritt durch die Pandemie, Quarantänebeschränkungen und die Angst der Menschen vor dem Tod erschwert. In der Praxis bedeutete dies letztendlich, dass schottische Dichter nicht in die Ukraine kommen konnten. Es war für sie schwieriger, über ganz Europa zu fliegen und zurückzukehren.
Der großangelegte Krieg in der Ukraine führte nicht zur Schließung der Grenzen, und umkommen konnten wir nicht nur unterwegs, aber die Reise nach Schottland dauerte länger – bis zu zwei Tage, vorausgesetzt, man hatte bereits das Visum in seinem Pass. Männliche Dichter im Alter zwischen 18 und 60 Jahren durften nicht ins Ausland reisen, weshalb unsere Delegation zwei Mitglieder verlor. Eine weitere Dichterin arbeitete beim Radio und verzichtete selbst auf die Reise: Sie las täglich die Nachrichten live vor und verließ den Bunker nur zum Schlafen… im Keller statt in ihrem eigenen Bett. Ljuba hingegen, die sich zuvor stets geweigert hatte, Kyjiw zu verlassen, stimmte der Reise zu: Man muss sprechen!
Sie gelangte in überfüllten Regionalzügen irgendwie zum Warschauer Chopin-Flughafen, von wo aus wir nach Edinburgh flogen. Es schien uns eine äußerst wichtige Mission zu sein. In St. Andrews am Ufer eines kalten Meeres fand gerade ein Poesiefestival statt, das Intellektuelle und Künstler zusammenbrachte, und ukrainische Literaturlesungen waren für sie plötzlich interessanter als je zuvor.
Seid ihr sicher, dass ihr zurückkehren wollt, fragten uns Menschen in verschiedenen Uniformen – auch einer der Polizei – am Flughafen von Edinburgh. Wir wollen nicht in Schottland bleiben, wir haben Tickets nach Paris, hier sind sie, die Tickets nach Paris. Wir wollen nach Paris. Glauben Sie, dass es besser ist, in Paris Asyl zu suchen als an der Nordsee, wo man nur Austern essen kann? Die französischen Austern sind nicht schlechter, das Klima ist besser. Wir sind keine Whiskytrinker. Wir haben einen Zwischenstopp in Paris, und dann, hier ist ein Ticket nach Warschau. Ljuba fährt zurück nach Kyjiw, und ich... ich fahre nach Wien, vorerst. Sie konnten nicht verstehen, warum wir so unterschiedlich reisen, warum nicht zusammen. Wir haben nichts dagegen, dass Sie hierbleiben, sagten die Uniformierten. Wir wollen Sie nicht unter russische Raketen zurückschicken. Aber seid ehrlich, sagt uns einfach die Wahrheit… Schließlich ließen sie uns rein.
Preise, Preise, Preise…
Die Literaturveranstaltung war erfolgreich. Es waren sogar Journalisten da. Die schottischen Teilnehmer*innen haben ihre Reden auf ein Minimum reduziert, damit wir mehr sagen konnten. Ljuba las ihre Gedichte vor und erzählte uns dann, wie sie sich auf den Krieg vorbereitet, sich mit Vorräten eingedeckt, wie sie gelernt hatte, Molotow-Cocktails zu mixen, an Nothilfe-Schulungen teilnahm. Und wie sich am Ende herausstellte, hatte all das Sinn. Und dass sie vorhat, zurückzukehren und bis zum Ende in ihrer Heimat zu bleiben, obwohl die Schlacht um Kyjiw noch andauert. In meiner kurzen Rede nahm ich Partei für die Menschen, die gerade erst im gastfreundlichen Schottland ankamen und um Asyl baten. Auch diese Menschen nannten sich Geflüchtete, aber später wurden sie anders bezeichnet. Neu angekommene Ukrainer. Asylbewerber. Kriegsgeflüchtete. Sie unterschieden sich zu sehr von den Geflüchteten, die früher ins Land gekommen waren. Aus Trägheit bezeichnen sich einige von ihnen immer noch als „Flüchtlinge“. Was sollte ich also dem verehrten Publikum in der Aula der Universität St. Andrews sagen?Ich bin eine Geflüchtete. Seitdem, seit März 2022, habe ich diese Worte viele Male wiederholt, in verschiedenen Sprachen. Ich hatte meinen Reisepass bei mir und einen Stempel drin. Ich wusste also genau, an welchem Tag ich die Grenze überquert hatte. Das Datum habe ich viele Male in verschiedene Fragebögen und Formulare eingetragen. Zuerst wunderte man sich, aber dann wurde man gleichgültig. So war es auch mit Fernsehnachrichten. Aber nein, mein Land konnte nicht einfach so von Bildschirmen, Zeitungen und Radiowellen verschwinden. Zu viel war damit verbunden, die Preise in den Supermärkten, die Energietarife; wie sich herausstellte, war es nicht nur das letzte große Gebiet vor der Westgrenze, in das man nicht einfach einfallen und alle auf einmal umbringen konnte. Doch gerade das machte kaum jemandem zu schaffen. Aber Erdöl und Erdgas, die durch dieses Land flossen, Schiffe mit dem Getreide, das hier für die ganze Welt angebaut wurde, der drohende globale Hunger und vor allem Preise, Preise, Preise für einfache Bürger mit guten Pässen, Brandbriefe und das Schreckgespenst eines kalten Winters ließen ihnen keine Ruhe.
Ich habe das schon oft gehört. Wir zahlen aus unserer eigenen Tasche, damit ihr weiterkämpft. Wir unterstützen euch mit unseren eigenen Steuern. Ihr werdet getötet, weil ihr nicht um Versöhnung bittet. Warum tut ihr das? Ihr seid Helden, aber vielleicht sollten wir euch mit den Farben eurer Fahne auf unseren Plätzen unterstützen und nicht mit den steigernden Heizungskosten. Wir verurteilen Putin persönlich, seinetwegen gibt es weniger Touristen. Das geht schon seit der Pandemie so, als die Russen ihren eigenen Impfstoff hatten. Die Welt hat ihn nicht anerkannt, und auch Urlaubsorte hatten Probleme damit. Aber in den ersten Wochen des Krieges meldete man sich als Freiwillige, bot man uns eigene Häuser an, damit wir uns dort vor Bombardierungen schützen konnten, sammelte man Geld für Medikamente, Schutzwesten und Waffen. Ich werde nie aufhören, ihnen dafür dankbar zu sein.
Schließlich hätte ich auch früher ausreisen können. Mit dem Flugzeug. Mit einem großen Koffer. Man hatyte mir ein paar Wochen zuvor eine Unterkunft angeboten. Du kannst bei mir wohnen, schrieben viele. Ich wünschte, man hätte mir einen Arbeitsvertrag angeboten, dachte ich damals. Ich habe mich auch darüber geärgert, dass meine Bekannten so ein Angebot häufiger als ich bekamen. Mag man mich etwa weniger?
„Weil du dein Zeug wirklich zusammenpacken und einfach fahren kannst“, sagte meine Kollegin Solomiia und schnippte mit ihrem Feuerzeug. An einem Januarmorgen 2022 standen wir beide vor dem Büro unserer Galerie in Kyjiw, und ich jammerte vor mich hin. Solomiia arbeitete seit zwanzig Jahren im Bereich zeitgenössischer Kunst und kannte sich im Leben aus. „Deshalb wirst du nicht eingeladen“.
Ich glaube, alle dachten damals, es sei eine Geschichte für zwei Wochen. Deshalb wunderen sie sich über meine Frage: Was werde ich bei euch tun? „In Museen gehen“, ist ihnen fast von der Zunge gerutscht. Jetzt kann ich sie verstehen. Ich habe mir auch nicht vorgestellt, dass es ernst ist. Dass mir das alles passieren könnte.
August 2023