Sprechen und Schreiben gegen den Krieg  „Die Menschen wollen ihre Geschichten und Gefühle loswerden“

Junge Frau steht vor einem blau-gelben Zugwaggon
Die ukrainische Studentin Anna Siedykh kam nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine zurück nach Trnava. Zuvor hatte sie dort bereits ein Bachelorstudium absolviert. Foto: © Polina Goch

Die 23-jährige Ukrainerin Anna Siedykh muss fern ihrer Heimat mit den Folgen des Krieges fertig werden. In der Slowakei organisiert sie ukrainische Kulturveranstaltungen, liest dazu auch aus ihrem eigenen literarischen Schaffen und versucht engagiert, die Zusammenhänge des Krieges zu erklären. Außer Unterstützung und Solidarität erntet sie dafür aber auch Anfeindungen und Hass.

Anna Siedykh kam in die Slowakei, um in Trnava ihren Bachelor-Abschluss in Medienkommunikation zu machen. Anschließend ging sie nach Kiew zurück, wo sie an der renommierten Kiew-Mohyla-Akademie Literaturwissenschaft studiert. Nach dem Russland im Februar 2022 die ganze Ukraine mit dem Angriffskrieg überzog, kehrte Anna in die Slowakei zurück, setzt aber ihr Studium fort. „Ich bin jetzt im zweiten Jahr meines Masterstudiums. Meine Lehrveranstaltungen finden online immer noch statt, aber es ist traurig, dass wir eigentlich noch nie offline zusammen waren. Erst kam Corona, dann fing der großangelegte Krieg an“, erzählt die 23-Jährige in bestem Slowakisch den Anfang ihrer Geschichte.

„Wer würde im 21. Jahrhundert so etwas tun?“

Sie erinnert sich, dass sie zunächst noch naiv war und ihren Vater, der nach dem Ausbruch des Krieges sehr nervös und gestresst war, nicht wirklich ernst nahm. „Mein Vater ist so ein Mensch, der seine Gefühle unterdrückt, nach außen hin immer gleichgültig und hart wirkt, aber damals sah ich, dass etwas in ihm zerbrochen war. Er war ganz rot, seine Hände zitterten und er lief ständig auf und ab. Er sagte uns immer wieder, dass wir gehen müssten, denn wenn die Russen hierher kämen, würden sie uns vergewaltigen, töten, unsere Sachen stehlen, unser Auto zerstören, und dann könnten wir nicht mehr entkommen.“ Damals versuchten die russischen Truppen, Kyjiw einzunehmen. Anna erträgt es nur schwer, dass sie ihren Vater damals fast auslachte und entgegnete, dass niemand im 21. Jahrhundert Zivilist*innen solche Gräueltaten antun würde. „Er sagte immer wieder, dass sie uns in Filtrationslager bringen und foltern würden.“ Später verließ Anna die Ukraine, und einige Wochen später befreite die ukrainische Armee die Stadt Butscha, wo die schrecklichen Spuren der russischen Aggression in ihrer schlimmsten Form vorgefunden wurden. „Mein Vater hatte Recht und ich kann mich seither gar nicht oft genug entschuldigen. Das ist eine Sache, mit der ich absolut nicht klarkommen kann. Ich kann es nicht verstehen oder darauf reagieren. Wir alle lernen allmählich, damit zu leben.“

Derzeit ist Annas Familie noch immer in der Nähe von Kyjiw. Im Winter waren die Lebensbedingungen sehr schlecht, es gab kein Licht, der Strom funktionierte immer nur für ein paar Stunden. Seit Anfang Mai wird Kyjiw regelmäßig mit Drohnen und Raketen angegriffen. Wie erlebt Annas Familie diese Situation? „Natürlich lügen sie mich ein bisschen an. Sie sagen, es sei alles in Ordnung und dass es ihnen gut geht. Das ist lieb gemeint, aber ich verfolge auch die Nachrichten und bekomme sofort mit, wenn dort etwas vor sich geht. Ich weiß, dass es in ihrer Nähe Einschläge gegeben hat, und sie sagen, nein, es gab keine Einschläge, es ist nichts passiert“, erzählt Anna.

Noch etwas schlechter dran als sie war ihre jüngere Schwester. Während ihres Abiturschuljahres ging sie zum Lernen an die Tankstelle, denn nur dort gab es Licht und Internet. Im Winter kam sie jedoch zu Anna in die Slowakei, denn es sei sehr schwierig gewesen, längere Zeit so zu leben und völlig isoliert zu sein. „Die Leute haben dort im Winter gefroren und konnten nicht einmal etwas kochen. Ich kann das mental nicht verarbeiten, dass so etwas überhaupt passiert. Ich mag es nicht, wenn Leute sagen, dass das, was die Besatzer tun, ‚nicht menschlich‘ sei. In ihrem Buch They Would Never Hurt a Fly: War Criminals on Trial in the Hague (Sie würden keiner Fliege etwas zuleide tun: Kriegsverbrecher vor Gericht in Den Haag) schreibt die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakulić, dass es nicht wirklich korrekt ist, die Verbrechen der Besatzer als ‚unmenschlich‘ zu bezeichnen. Damit distanzieren wir uns und vereinfachen die Situation. Es ist viel schwieriger zu akzeptieren, dass diese schrecklichen Verbrechen von Menschen begangen werden, und gleichzeitig diese dunkle Seite der Menschheit zu verstehen.“

Die richtigen Worte wählen und Desinformation bekämpfen

Mit Meinungen, die den Krieg verharmlosen oder gar leugnen, kommt auch Anna in Kontakt. In solchen Momenten ist es für sie emotional sehr schwierig, das Gespräch überhaupt weiterzuführen. „Das sind perfekte Bedingungen für Propaganda und Fehlinformationen, denn man möchte wirklich nicht gern glauben, dass jemand solche Verbrechen begeht. Wenn ich mit den Lügen einer pro-russischen Person konfrontiert wäre, könnte ich wahrscheinlich nicht damit umgehen, ich würde erstarren und einfach nicht glauben, dass die Person das tatsächlich sagt.“

Sie beobachtet auch die politische Situation in der Slowakei und bekommt mit, dass einige Politiker*innen Lügen verbreiten und Menschen zum Hass aufstacheln. „Dagegen sollte man vorgehen. Wir hatten 2013 / 2014 eine ähnliche Situation, aber als dann der großangelegte Krieg begann, war die Ukraine viel besser vorbereitet, was die Bekämpfung von Desinformation und Propaganda angeht. Wir begannen sofort, russische und prorussische Internetseiten, Kanäle und Medien zu sperren. Es gibt viele Organisationen, die sich damit befassen. Eine meiner Lieblingsorganisationen ist StopFake, die aus einer Gruppe von Freiwilligen entstanden ist und heute mit Facebook und Ministerien in der Ukraine zusammenarbeitet. Es ist sehr wichtig, auf staatlicher Ebene Maßnahmen zu ergreifen und gleichzeitig die Bevölkerung ständig darüber aufzuklären.“

Ich muss die Leute immer wieder daran erinnern, dass Krieg ist. Und ich muss das auf eine Art und Weise tun, die niemandem auf die Nerven geht.“

Vor einiger Zeit teilte Anna in den sozialen Medien eine negative Erfahrung mit einem Arzt in Trnava, der sich weigerte, sie zu behandeln. Die Reaktionen, die auf die Veröffentlichung folgten, ähneln denen, die wir als slowakische Gesellschaft nach dem Beginn des großangelegten Krieges durchlaufen haben. „Leute haben sich bei mir dafür entschuldigt, obwohl sie absolut nichts damit zu tun hatten. Das ist ein interessanter Moment der gemeinsamen kollektiven Verantwortung.“ Doch nach der Welle der Solidarität und Unterstützung, schlug die Stimmung allmählich um. Anna musste massive Anfeindungen erleben. „So massiv, dass ich in den nächsten zwei Tagen Angst hatte, auf die Straße zu gehen, weil ich befürchtete, dass der Arzt mich irgendwo verprügeln würde. Die Leute bedrohten mich und schrieben furchtbare Kommentare.“ Der Post wurde schließlich auch von einer Desinformations-Webseite missbraucht und der Facebook-Beitrag schließlich von Trollen gekapert. „Das war absolut nicht mehr aufzuhalten und geriet außer Kontrolle, so dass ich es schließlich blockiert habe.“

Negative Meinungen gegenüber Geflüchteten oder über die Hilfe für die Ukraine ist auch außerhalb des Internets nicht zu übersehen. Auch Anna ist damit konfrontiert : „Meiner Meinung nach ist das auch logisch und verständlich, weil diese Menschen nicht dort in der Ukraine sind. Auch für mich ist das immer noch ein Thema, denn ich bin jetzt im Ausland und muss die Leute immer wieder daran erinnern, dass Krieg ist. Und ich muss das auf eine Art und Weise tun, die niemandem auf die Nerven geht, und neue Wege finden, mich auszudrücken.“

Sie selbst kann sogar die Haltung von Menschen, die wütend sind, nachvollziehen. „Die Leute merken jetzt, wie die Preise steigen, und sie haben Angst. Ich war vor kurzem in Berlin und auch dort wird Energie gespart und die ganze Stadt viel weniger beleuchtet. Es ist doch völlig klar, dass sich das auf unsere Alltagserfahrung auswirkt und die Menschen wütend sind. Aber es ist wichtig, immer nach Wegen zu suchen, um über den Krieg zu sprechen.“ Genau hierbei spielen ihrer Meinung nach auch die Medien und deren Einfluss auf die öffentliche Meinung eine wichtige Rolle. „Ich sehe die Schlagzeilen, dass etwas wegen der Situation in der Ukraine oder wegen der Ukraine passiert, aber das ist furchtbar manipulativ. Es ist absolut nicht wegen der Ukraine und es ist nicht wegen der Ukraine, dass es schlimme Auswirkungen auf die Slowakei und andere europäische Länder gibt. Es liegt an Russland und an der russischen Aggression. Es ist sehr wichtig, die richtigen Worte zu wählen.“

Zwei Frauen auf einer erleuchteten Bühne Anna (links) während einer Veranstaltung im Kulturzentrum Malý Berlín in Trnava. Sie ist dort für das literarische und das ukrainische Programm zuständig. | Foto: © privat

Gespräche und Literatur gegen den Krieg

Lassen sich noch neue Wege finden, um über den Krieg zu sprechen? Anna hält es für wichtig, die Ursachen und Folgen des Krieges mittels Literatur zu erklären und aufzuarbeiten. Für ihre Arbeit im Kulturbereich erhielt sie den Ehrenpreis der ukrainischen Botschaft in der Slowakischen Republik. Heute arbeitet sie im Kulturzentrum Malý Berlín (Kleines Berlin) in Trnava, wo sie für das ukrainische und das literarische Programm verantwortlich ist. Neben Kunst und Literatur beschäftigt sie sich dort auch mit sozialen und politischen Themen, Diskussionen über den Krieg und Vorträgen. Im November 2022 war sie Mitorganisatorin des Literaturfestivals Ypsalon. „Im Rahmen der Bildungsgespräche war Jurij Andruchowytsch zu Gast, eine Ikone der ukrainischen Literatur. Er ist ein Mann, der die gesamte ukrainische Literatur stark beeinflusst hat, aber seine Bücher waren hier nicht erhältlich, da ukrainische Literatur in der Slowakei kaum veröffentlicht wird. Zu Gast war auch Olesya Yaremchuk, eine Journalistin und Reporterin, deren Buch Naši iní (Unsere Anderen) kürzlich im slowakischen Verlag Absynt erschienen ist. Wir haben auch mit Volodymyr Yermolenko diskutiert, ein bekannter und angesehener ukrainischer Intellektueller, Philosoph und Kolumnist.“

Um schwierige Themen und Zusammenhänge zu verstehen, hält Anna das Gespräch mit solchen Persönlichkeiten für ausschlaggebend. „Dieser Krieg dauert nicht seit einem Jahr oder seit neun Jahren, sondern seit Jahrhunderten. Es ist sehr wichtig, über den russischen Imperialismus zu sprechen und darüber, wie er sich auf alles auswirkt, und dabei auch die Traumata zu verarbeiten. Deutschland hat das Thema Holocaust jahrzehntelang aufgearbeitet, die europäischen Länder wiederum den Nationalsozialismus und dessen Folgen. Ich denke, dass wir weit davon entfernt sind, das zu verarbeiten, was die Sowjetunion uns angetan hat, und auch die postsowjetische Vergangenheit haben wir noch lange nicht aufgearbeitet.“

Der Krieg ist so sehr ein Teil von mir, dass ich ohne ihn nicht existiere. Er beeinflusst, wie ich fühle, denke und überhaupt mein ganzes Handeln.“

Um Vorurteile zu überwinden und uns einander anzunähern, müssen wir miteinander reden. Anna lächelt, als sie beschreibt, wie sie eine Vortragsreihe ukrainischer Autor*innen und slowakischer Intellektueller in der Stadtbibliothek in Bratislava mitorganisierte, wo sie ebenfalls die Sammlung an ukrainischen Büchern aufstockte. „Das Hauptziel war, dass sie miteinander in Interaktion treten, sich kennenlernen und Kontakte knüpfen. Alle Mitwirkenden auf slowakischer Seite haben sich hinterher bei mir bedankt, sie sagten, sie hätten gar nicht gewusst, dass es solche jungen ukrainischen Intellektuellen gibt, die so über schwierige Themen sprechen können.“

Manche von uns haben jedoch Angst, sind irgendwie blockiert und wissen nicht, wie sie ein Gespräch mit jemandem beginnen sollen, der vor dem Krieg geflohen ist und vielleicht verschiedene Traumata zu verarbeiten hat. „Ich hätte überhaupt keine Angst, über den Krieg zu sprechen, denn er ist so sehr ein Teil von mir, dass ich ohne den Krieg nicht existiere. Er beeinflusst, wie ich fühle, denke und überhaupt mein ganzes Handeln.“ Sie kennt aber derartige Probleme aus ihrer eigenen Erfahrung. „Ich merke, dass die Leute vor mir Angst haben. Als am 10. Oktober wieder die Innenstadt von Kyjiw beschossen wurde, saß ich allein in meiner Wohnung und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich kann sehr schlecht mit Stress umgehen, ich habe Probleme mit Panik und Angstzuständen. Ich habe mir die Nachrichten angesehen und versucht, mich zu beruhigen, aber das ist mir nicht gelungen, also bin ich zu Freunden gegangen. Ich konnte sehen, dass sie Angst hatten, mich darauf anzusprechen. Meiner Meinung nach ist das aber nicht der richtige Weg. Vielmehr sollte man auf die Person zugehen und sie fragen, was sie durchmacht, wie man ihr helfen kann oder ob sie darüber reden möchte. Oft wollen die Menschen reden und ihre Geschichten und Gefühle loswerden.“ Sie gibt zu, dass auch sie manchmal Schwierigkeiten hat, Kontakte zu Ukrainer*innen zu knüpfen, aber im Kulturzentrum Malý Berlín beteiligt sie sich daran, sie in die slowakische Gesellschaft zu integrieren, denn dort organisiert sie jeden Monat einen ukrainischen Club, ein offenes Treffen für Ukrainer*innen. „Das Wichtigste ist, Empathie zu zeigen, menschlich zu sein und wahrzunehmen, wie eine Person reagiert.“

Was der Krieg mit der Psyche eines Menschen anrichtet

„Als der Krieg kam, begann ich, so viel zu fühlen und auch Dinge zu fühlen, die ich noch nie zuvor gefühlt hatte, und ich wusste nicht, wie ich das benennen sollte“, sagt Anna. „Ich begann darüber zu schreiben und hatte keine Ahnung, wohin mich das führen würde. Ich bekam ein Stipendium und so schrieb ich eine Reihe slowakisch-ukrainischer Gedichte. Es geht mehr um meine Gefühle und darum, was Menschen im Exil fühlen, wenn sie sich in einer neuen Umgebung befinden und irgendwie damit zurechtkommen müssen. In der Ukraine werden derzeit viele Gedichte geschrieben. Menschen, die noch nie Gedichte geschrieben haben, fangen jetzt damit an, weil es eine kurze, prägnante Form ist und man alles, was man fühlt, hineinlegen kann.“

Der Krieg hat mich gelehrt, keine Pläne zu machen.“

Sie beschäftigt sich schon seit langem mit Literatur und hat auf verschiedenen Festivals regelmäßig aus ihren eigenen Gedichten gelesen. „Vor fünf Jahren habe ich in einer Bar in Kyjiw Poesie vorgetragen und wir haben Geld für die Armee gesammelt. Jetzt werde ich wieder lesen und wir sammeln auch Geld für die Armee, aber diesmal in einem anderen Rahmen.“

Anna war fest entschlossen, im Dezember nach Hause zurückzukehren. Am Ende kam alles anders. „Der Krieg hat mich gelehrt, keine Pläne zu machen. Ich weiß nicht, was der nächste Tag bringen wird. Ich hatte geplant, nach Hause zurückzukehren und damit habe ich gelebt. Alle haben mir abgeraten, aber ich war sicher, dass ich gehen würde. Was ist daran falsch, sagte ich mir, wenn alle dort frieren, warum dann nicht auch ich? Dann kam alles anders und jetzt bin ich für meine Schwester verantwortlich, ich möchte für ihre psychische Gesundheit sorgen. Ich will immer alles unter Kontrolle haben, und jetzt ist mir klar geworden, dass ich fast nichts mehr unter Kontrolle haben kann.“

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