Die Sonne scheint, Blumen blühen, Vögel zwitschern. Sommergewitter sind kaum von Russlands allnächtlichem Beschussterror zu unterscheiden. Die Ukraine erlebt den zweiten Sommer seit Beginn des russischen Angriffskrieges. Der Krieg ist überall: an der Front, über Getreidelagern und Stromwerken, zwischen und in den Menschen. Und doch gibt es einen zuversichtlichen Alltag − vom frontnahen Charkiw über das zentrale Kyjiw bis zur westlichen Kaffee-Metropole Lwiw.
Seit mehr als 500 Tagen versucht Russland mit aller militärischen Kraft, die Ukraine und ihre Bevölkerung zu zerstören. Eineinhalb Jahre. Seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 sind Millionen Menschen geflohen, einige wiedergekommen. Zehntausende sind in diesem Krieg schon getötet worden − viele als Zivilist*innen, mutmaßlich noch mehr als Soldat*innen an der sich verfestigenden Front.
So bestimmen diesen zweiten Kriegssommer − noch stärker als den ersten − Trauer, Verlust und Angst, aber auch wieder drängende Sehnsucht nach Erholung, Auszeit und zuversichtlichen Momenten. Denn klar ist: Die nächste Schocknachricht, die nächste schlaflose Nacht unter Drohnenhagel kommen sicher.
Musik fürs (Über-)Leben
Solange keine Sirenen heulen, tanzen und singen die Straßen. In Lwiw, im Westen der Ukraine, wurde zuletzt am 6. Juli ein Wohnhaus durch russischen Beschuss zerstört, dutzende Menschen wurden getötet oder verletzt. Doch wenige Wochen später hallen schon wieder leidenschaftliche Kosakenlieder durch die engen Gassen der Altstadt. Kurz vor Sperrstunde um Mitternacht tanzt eine beschwingte Menge zu einer Straßenjazzband.
Und auch in Kyjiw ist Freiluftmusik gefragt. Ob Festivals im Museumsdorf oder Straßenmusiker vor beliebten Weinkneipen. Die Stadt ist voll und lebendig und trällert geradezu um ihr Leben. Viele Geflüchtete sind zurückgekehrt, viele Fliehende aus dem Frontgebiet sind in der Hauptstadt. Die berüchtigten Staus sind zurück, die metallenen Panzersperren und Beton-Checkpoints dagegen nahezu verschwunden.
Die im Frühjahr 2022 zerstörten Gebäude sind weitestgehend repariert, auch in den Speckgürtel-Orten Butscha, Hostomel und Irpin, die damals einen Monat lang von russischen Truppen besetzt worden waren. Erst jenseits der Hauptstraßen, in manchen Hinterhöfen kann man noch Spuren von Raketen- und Drohneneinschlägen finden. An den Stadträndern ziehen sich noch Schützengräben durch die Wälder. Und überall im Land wachsen die Friedhöfe, weil wöchentlich hunderte neue Tote beerdigt werden müssen.
Von der Fußgängerbrücke am Fuße des Kyjiwer Klosterhügel stürzen sich indes lachende Bungee-Held*innen dem träge fließenden Dnipro entgegen. Auf dem wichtigsten Fluss der Ukraine ist zwar zivile Schifffahrt in Kriegszeiten verboten, aber ein Planschen am Rand und Segeln in den Buchten ist geduldet. „Wer braucht schon Italien, wir haben unseren Urlaub hier“, ruft eine erfrischte Frauenstimme aus der sanften Flussströmung übermütig ihrem Begleiter am Ufer zu, der ihr Bad im Sonnenuntergang fotografiert.
In Zeiten des Grauens ist jedes positive Erlebnis wertvoll. Umso mehr, seit die Fluten desselben Dnipro hunderte Kilometer südlich im Juni für eine todbringende Flut in Cherson sorgten, nachdem der Kachowka-Staudamm gesprengt worden war. Ukrainische Rettungskräfte und Freiwillige wurden gar während der Evakuierungaktionen von russischer Artillerie beschossen. Als nächste mögliche Steigerungsstufe erscheint nun nur noch Sabotage am aktuell von Russland besetzten Atomkraftwerk Enerhodar bei Saporischschja.
Doch in Kyjiw lockt der gutmütige Dnipro täglich Hunderte an seine weiten Sandstrände und die Flaniermeile Chreschtschatyk an Kaffee-Kiosks und in Modegeschäfte. Unsichtbar bleibt in diesen Momenten, wie dieselben Menschen sonst ihren Kriegsalltag verbringen. Wie sie in sozialen Netzwerken weiter jede Hrywnja sammeln, um zusätzliche Drohnen, Autos oder Gopro-Kameras für Freunde, Verwandte, Bekannte an der Front zu besorgen. Alles Gebrauchsmaterial − so manche Aufklärungsdrohne wird schon bei den ersten Flügen von russischen Truppen abgeschossen, so manches Frontauto verbringt mehr Zeit in der Werkstatt als im Einsatz.
Oder wie sie in Kellerräumen Tarnnetze knüpfen, weil man die neue, wertvolle Militärtechnik aus dem Westen unbedingt vor den Feinden verbergen muss. Die Bestellungen von Armeeeinheiten nehmen zu, doch viele Knüpfende der ersten Kriegsmonate sind nicht mehr dabei. „Manche haben wieder Arbeit, andere haben jetzt im Garten zu tun“, erklärt eine Freiwillige, die wie viele ihrer Mitknüpfenden schon 2014 aus dem Donbas geflohen war. „Aber die Soldaten brauchen handgemachte Netze, weil die Drohnen des Feindes die Muster der Fabriknetze schon scannen können − die chaotische Handarbeit aber nicht.“
Oder wie sie täglich Trauerzüge durch ihre Orte ziehen sehen, die den an der Front Gefallenen ein letztes Geleit von der Kirche durchs Zentrum zum Friedhof geben. Oder wie sie selbst Meldung von getöteten Angehörigen erhalten, selbst zu Beerdigungen gehen und sich dann tagelang mit ihrer Trauer zuhause verkriechen, bis sie Luftalarm und Warnungen vor extrem schnellen Iskander-Raketen wieder aus dem Haus in die U-Bahn-Stationen oder Schutzbunker jagen.
Der Krieg steckt im Kopf, im Handy und in der Nacht. Laut Gesundheitsministerium leidet mindestens ein Drittel der Bevölkerung unter andauerndem Disstress, bis zur Hälfte unter noch schwereren Belastungssymptomen. Dazu kommt: Seit Mai schickt Russland nahezu täglich ganze Raketen- und Drohnenwellen über die Ukraine. Die Flugabwehr fängt die meisten Geschosse zwar ab, aber auch herabstürzende Trümmer können zerstören und töten.
In quirligen Stadtzentren taucht indes zwischen gemusterten Sommerkleidern und bunten Shorts immer mehr Camouflage auf: Soldaten auf Heimaturlaub, Soldatinnen auf dem Weg zur Front. Andere mit Krücken oder Halskrause. Social media-Kanäle informieren, wie man sich gegenüber Kriegsversehrten emphatisch verhält. Und wie Eltern ihre Kinder auf Menschen mit Prothesen vorbereiten können. Im Schnellzug von Kyjiw nach Kramatorsk trägt jeder zweite Fahrgast Tarnfarben und ernstes Gesicht. Es sind die letzten entspannten Stunden bis zum Fronteinsatz.
In diesem zweiten Kriegssommer wird auch in Charkiw wieder spaziert. Viele Geschäfte, Cafés und Eisdielen haben wieder geöffnet. Doch der gefragteste Laden ist mit Abstand der Militärshop. Hier decken sich Soldat*innen und Fronthelfer*innen mit festem Schuhwerk, taktischen Erste-Hilfe-Kästen, Taschenlampen und originell-patriotischen Chevrons ein, den typischen Klett-Stickern für Taschen und Militärjacken. Von martialischen Kampfbildern bis Hello-Kitty-Miez mit Ukraine-Schleife gibt es alles.
Schwere Kriegsschäden sind hier nicht nur im so genannten „Wohnmassiv“ Nord-Saltiwka, einer riesigen Plattenbausiedlung mit einst mehr als 400.000 Bewohner*innen, sondern auch im Zentrum offensichtlich. Doch hunderte Baukräne kämpfen dagegen an. In der zweitgrößten Stadt der Ukraine, gelegen im Osten, kaum 60 Kilometer entfernt von der Grenze zu Russland, warnt die Sirene weiter mehrmals täglich vor russischen Raketen. Meistens kommen die auch, oft werden sie abgefangen. Sodass die Kräne fleißig weiter kurbeln können. Und Hoffnung verbreiten: auf eine lebendige Zukunft, auf ein Kriegsende und baldigen Wiederaufbau des Landes − für diejenigen, die noch da sind oder wiederkommen.
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