Ukrainische Kultur in Venedig  Venezianische Konturen

Iwan Trusch | Venedig, Insel San Giorgio Maggiore (1908)
Iwan Trusch | Venedig, Insel San Giorgio Maggiore (1908, Ausschnitt) Public domain

Die ukrainische Kultur ist ein integraler Bestandteil des gesamteuropäischen Kontexts. Das Verständnis für diese Tatsache ist während des Krieges von besonderer Bedeutung – sowohl für die Ukrainer*innen als auch für die Mitglieder ihrer großen europäischen Familie. Die Schriftstellerin Julia Stakhivska zeigt das am Beispiel Venedigs.

„Wohin fahren Sie? Was führen Sie mit?“ fragt der ukrainische Grenzwächter in Tschop, einer Stadt an der westlichsten Grenze meines Landes, wo sich bereits die pannonische Tiefebene erstreckt und wo mir die Ziegeldächer wie mit rotem Pfeffer bestreut erscheinen. Hier erinnere ich mich immer an die Geschichte der „Ungarischen Anhöhe“ (Uhorske Urotschischtsche) in Kyjiw, wo die Ungarn im 9. Jahrhundert den Dnipro überquerten. Auf dem Grab des Fürsten Askold, in der Nähe der St.-Nikolaus-Kirche, erinnert ein Denkmal an dieses Ereignis. Wie kamen sie voran? Wo schlugen sie ihre Lager auf? Was aßen sie? „Penelopes führen kleine Telemachi zwischen Bahnhofsgaleeren“ – dieses Selbstzitat geht mir nicht aus dem Sinn, weil ich heute sehe, wie sich mein Volk aus bewohnten Orten retten muss... wo findet denn seine Überfahrt ein Ende?

Ich habe Bücher in meinem Rucksack, mehr als Kleidung. Unter dem senffarbenen Kleid, das ich in Uschhorod gekauft habe, liegt das Buch Der Zauber von Venedig verborgen. Der Grenzwächter beschließt, es zu durchzublättern, und zieht die Augenbraue hoch: Es ist darin eigentlich nichts Verborgenes, ganz normale Seiten mit Schwarzweißfotos. Ich lese gerade Erinnerungen und Reisenotizen berühmter Ukrainer*innen über Venedig, die fast alle auch als Porträts auf Banknoten in meiner Brieftasche zu finden sind: Der Historiker Mychajlo Hruschewskyj in lila, der Schriftsteller Iwan Franko in grün, die Dichterin und Dramaturgin Lessja Ukrajinka in rosa.
Einmal hat irgendjemand gesagt, dass es keine kulturelle Front gibt, nur kulturelles Hinterland. Kulturpollen ist flüchtig, instabil, verstreut, so inhärent wehrlos ohne seine Blume.
„Sie reisen also nach Venedig?“ – Das greift tiefer als eine übliche Zollfrage. Die für diesen Mann übliche Intonation verrät mir so viel: Interesse, Ironie, Neid, Müdigkeit. Ich bin eine Frau und habe auch zu Kriegszeiten das Privileg zu reisen, ich kann die Grenze überschreiten, ich habe die Wahl. Es ist mir bewusst, dass diese Wahl nur möglich ist, solange jemand anders sich für etwas anderes entscheidet – für den Schützengraben. Ich weiß das ganz genau, ich denke oft daran.

„Ja“, sage ich schon beim Weggehen. „Ich will so eine Art literarische Karte der ukrainischen Spuren in Venedig machen.“ Und sofort kommt mir die ganze Idee so erbärmlich vor, als ob mir „die schwarze Erde aufgestiegen in die Augen schaut“ [aus einem Gedicht von Pavlo Tytschyna, Anm.d.Red.], während ich mir Mühe gebe, eine Teerose im Pflanzentopf zu züchten. Einmal hat irgendjemand gesagt, dass es keine kulturelle Front gibt, nur kulturelles Hinterland. Kulturpollen ist flüchtig, instabil, verstreut, so inhärent wehrlos ohne seine Blume.
Die „literarische Karte der ukrainischen Spuren in Venedig“ hat die Autorin mithilfe des Tools StoryMapJS des Northwestern University Knight Lab interaktiv gestaltet. (Ukrainisch und Englisch)
Ukrainische Spuren in Venedig Screenshot: © Northwestern University Knight Lab StoryMapJS
Ich puste den Staub von über hundertjährigen Erinnerungen unserer Schriftsteller*innen und fahre nach Venedig mit Hruschewskyj, dem ersten ukrainischen Präsidenten, einem herausragenden Historiker. In dem Buch Rund um die Welt. Aus Reiseeindrücken widmet er Venedig ein Kapitel: „Der Zug biegt vom festen Land ab und läuft dem Meer entgegen durch verhärtete Schlammschichten; dann über eine Brücke durch seichte Lagunenbuchten. Über der dunklen Oberfläche leuchten die Lichter von Venedig immer näher. Venezia! Bei diesem Wort weichen Erschöpfung und Langeweile von uns. Wir steigen zum Bahnhof ab, zu den breiten Treppen, die zum Kanal führen, und in wenigen Minuten gleiten wir durch enge, dunkle, feuchte Gassen, zwischen vergitterten Fenstern, zwischen dunklen Türen, auf deren Schwellen das Kanalwasser plätschert. Hier und da in der Dunkelheit tritt ein helles Fenster hervor, darin ein Frauenkopf mit typischer venezianischer Frisur, über Stirn und Schläfen herabfallenden Wellen von hell-kastanienbraunem Haar.“

Danach gehe ich vielleicht auf eine Tasse Kaffee mit Darija Wikonska, Schriftstellerin und Journalistin, die uns ihre „Skizzchen“ hinterlassen hat: „Später Mittag auf der schmalen Veranda eines Hotels am Eingang des Canale Grande. Die Sonne, weiße Balustrade, Korbstühle an runden Tischen. Die Gäste lesen Zeitungen, manche unterhalten sich, manchen wird Cognac oder Likör zum schwarzen Kaffee serviert. Man hört Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch. Durch die verzierten Pfosten der Balustrade dringt aufgeregtes Licht der Lagune.“

Ich schaue mir die Studie des Markusdoms von Oleksandr Muraschko an, die er 1909 während seiner Hochzeitsreise an die Adria machte, und das Gemälde von der Insel San Giorgio Maggiore von Iwan Trusch. Vielleicht greife ich nach den Perlen des ukrainischen Barocks, Wanderungen zu heiligen Stätten des Ostens von 1723 bis 1747 von Hryhorowytsch-Barskyj, einem der berühmtesten ukrainischen Pilgerreisenden. Und dann höre ich noch die Oper von Dmytro Bortnianskyj, einem Komponisten aus Hluchiw, der bei Baldassare Galuppi auf der venezianischen Insel Burano lebte und studierte und seine Opern im Theater San Benedetto aufführte. Oder etwas von der Opernsängerin Solomija Kruschelnytska, die die italienische Szene faszinierte. Oder ich denke an alle unseren Künstler und Künstlerinnen, die einst in den sowjetischen Pavillons auf der Biennale ausstellten, und an diejenigen, die jetzt das Glück haben, das im Namen ihres Landes zu machen.

So präsentierte die Ukraine im Jahr 2022 ein Kunstprojekt des Künstlers aus Charkiw Pawlo Makow Der Brunnen der Erschöpfung. Hochwasser. Das zentrale Objekt des Projekts ist die Installation von zwölf Reihen von Kupfertrichtern, durch die (kein) Wasser zirkuliert. Die Gemälde von Marija Pryjmatschenko, die wie durch ein Wunder vor einem Museumsbrand gerettet werden konnten, waren Juwelen der Ausstellung, die in der Scuola Grande della Misericordia stattfand. Und das PinchukArtCentre organisierte die Ausstellung This is Ukraine: Defending Freedom mit Werken der ukrainischen Künstler Jewhenija Belorussets (Kriegstagebuch), Mykyta Kadan (für seine Installation verwendete er Teile einer russischen Rakete, die in der Nähe der U-Bahn-Station Lukjaniwska in Kyjiw eingeschlagen war) und Lessja Chomenko (Porträts ukrainischer Soldaten, darunter ihres Mannes).

Und wenn wir weiter vom literarischen Text sprechen, habe ich beinahe den duftenden Pollen des Buches Perversion vergessen, eines postmodernen Romans von Jurij Andruchowytsch, in dem der Protagonist für das Seminar „Der Weltwahnsinn nach dem Karneval: Was kommt auf uns zu?“ nach Venedig kam, nur um nach all den Abenteuern, Vergnügungen und Erkenntnissen im dortigen Nebel zu verschwinden: „Ich bin in Venedig gelandet. In einem antiken Bett aufgewacht zwischen bunten Laken, die nach Quitten und getrockneten Aprikosenblüten riechen. Über mir ist eine hohe, saubere Decke mit einem Ornament, das mich an nichts erinnert. Um mich herum eine Sammlung schöner Gegenstände aus Silber, Nussbaum, Ebenholz, Sandelholz, Elfenbein, Bronze, Terrakotta, Spitze und Samt. Und vor mir liegen fünf Tage und fünf Nächte in dieser Realität, die vielmehr einer Halluzination gleicht.“

So treten für mich nicht nur die Grenzen, sondern auch die Konturen der ukrainischen Kultur klar hervor.

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