Der ukrainische Dichter Maksym Krywzow, Codename „Dali“, und sein rothaariger Frontkater, der ihn in den letzten Augenblicken seines Lebens begleitete, wurden am 7. Januar durch einen russischen Angriff getötet. Ein Nachruf der Dichterin Julia Stakhivska.
„Hier noch ein Gedicht von Wassyl Stus, vielleicht mein Lieblingsgedicht von ihm: Am Vorabend des Feiertags. Das ist Poesie über die Heldentat einer realen Person, Wassyl Makuch. Dieser Mann hat sich selbst verbrannt. Mit seiner Tat versuchte er, auf die Lage in der Ukraine und die Aggression der UdSSR in der damaligen Tschechoslowakei aufmerksam zu machen. ‚Nieder mit den Kolonisatoren! Lang lebe die freie Ukraine‘, rief er noch während er brannte.“
Dies ist einer der letzten Facebook-Beiträge des ukrainischen Dichters und Soldaten Maksym Krywzow. Er starb am 7. Januar 2024 an der Front. Eine Verdichtung von Inhalten, die sich scheinbar überlappen und gegenseitig durchscheinen: In dem Video liest Maksym in einem Unterstand ein Gedicht des Dissidentendichters Stus über Wassyl Makuch. Beide, Stus und Makuch, kostete ihre Kritik am sowjetischen System das Leben. Doch während der Tscheche Jan Palach, der sich am 16. Januar 1969 auf dem Wenzelsplatz in Prag selbst verbrannte, zu einem lebendigen Symbol des Widerstandes wurde, ist die ähnliche Tat von Wassyl Makuch, der sich am 5. November 1968 auf der Hauptstraße Chreschtschatyk in Kyjiw selbst entzündete, sicherlich weniger bekannt.
Der Tod von Krywzow erinnerte mich an die Worte des polnischen Dichters und Soldaten der Armia Krajowa (Polnische Heimatarmee), Krzysztof Kamil Baczyński, der während des Warschauer Aufstands 1944 starb. Baczyński sprach von Menschen, die Diamanten auf den Feind schossen. Ich deute diese Worte ohne Pathos, denn Pathos bläht nur die Form auf und lässt den Inhalt verschwinden. Ich halte diesen Satz für einen absolut realen Sachstand. Die Ukraine verlor während des Krieges viele Künstlerinnen und Künstler. So griffen die Russen Ende Juni 2023 eine Pizzeria in Kramatorsk mit einer Rakete an, und unter den Toten befand sich auch Victoria Amelina, eine ukrainische Schriftstellerin (mehr über sie, ihre Arbeit und ihren Roman Ein Haus für Dom in diesem Video). Seit Beginn des großen Krieges war Victoria nicht nur aktiv auf verschiedenen internationalen Plattformen präsent, sondern sammelte auch kontinuierlich Kriegszeugnisse für ein Buch über die Ereignisse in der Ukraine, das sie im Rahmen eines Stipendiums in Paris schreiben sollte. Nach ihrem Tod ging das Stipendium an eine „liberale“ Russin. Es schmerzt mich, dies zu schreiben – Vikas Tod wurde selbst zu einem der größten Zeugnisse der Kriegsverbrechen.
Maksym Krywzow wurde am 22. Januar 1990 in Riwne geboren und war Absolvent der Nationalen Universität für Technologie und Design Kyjiw, wo er Schuhdesign studierte. Nach seiner aktiven Teilnahme an der Revolution der Würde [auch bekannt als Euromaidan, Anm. d. Red.], ging er 2014 als Freiwilliger an die Front. Nach seinem Einsatz arbeitete er als Texter in verschiedenen Projekten, zog ein Jahr vor dem großen Krieg nach Butscha, doch im Februar 2022 sah er sich erneut veranlasst, zu den Waffen zu greifen. Die ukrainische Band Yurcash singt Lieder, die auf Krywzows Gedichten basieren, wobei eines davon im Film Our Kitties (Наші Котики) zu hören ist. Im Jahr 2023 veröffentlichte er das Buch Gedichte aus der Schießscharte (Вірші з бійниці), das vom ukrainischen PEN Klub als einer der besten Gedichtbände des Jahres gelistet wurde. „Sollen wir ein Spiel spielen? Ihr nennt die Seitennummer und die Zeile (von oben oder von unten), und ich schicke euch das Foto dieser Zeile. Das soll aber keine Wahrsagerei sein, sondern einfach nur ein kurzweiliger Zeitvertreib. Denn 90 Prozent der Gedichte hier handeln vom Tod“, schrieb Maksym Krywzow auf seiner Facebook-Seite.
mein Kopf walzt über Baumlinien
wie ein Steppenläufer
wie ein Ball
meine Arme, herausgerissen,
sprießen im Frühjahr mit Veilchen
meine Beine
werden von Hunden und Katzen verstreut
mein Blut
färbt die Welt in ein neues Rot
Pantone Human Blood
mein Gebein
versinkt in die Erde
und formt ein Gerüst
mein MG
armes Ding
rostet vor sich hin
meine Ersatzklamotten und Ausrüstung
werden den Neulingen übergeben
ach wäre es doch schon Frühling
um endlich
in ein Veilchen
aufzublühen
wie ein Steppenläufer
wie ein Ball
meine Arme, herausgerissen,
sprießen im Frühjahr mit Veilchen
meine Beine
werden von Hunden und Katzen verstreut
mein Blut
färbt die Welt in ein neues Rot
Pantone Human Blood
mein Gebein
versinkt in die Erde
und formt ein Gerüst
mein MG
armes Ding
rostet vor sich hin
meine Ersatzklamotten und Ausrüstung
werden den Neulingen übergeben
ach wäre es doch schon Frühling
um endlich
in ein Veilchen
aufzublühen
Gedichte sind immer frei, sie blicken über die Grenzen hinaus, sie wissen mehr über das Leben der Autoren, sie schreiben den Raum aus, und natürlich hätte Maksym mit seinem Talent über alles Erdenkliche schreiben können, doch dann kam der Krieg. Also traf er, wie alle, die „nicht für den Krieg geboren“ sind, seine Wahl. Die Art und Weise, wie darüber gesprochen wird, lässt mich oft nur Mitgefühl für die Position des Opfers empfinden, was grundlegend falsch ist. Schließlich hätte Vika Amelina, die Englisch in Wort und Schrift fließend beherrschte, weiterhin in der IT-Branche arbeiten und in jedem sicheren Land der Welt leben können. So hätte auch Maksym auf all die Ereignisse anders reagieren können. Die Art und Weise, wie sie Widerstand leisteten, sowohl militärisch als auch zivil (denn in der Ukraine sind alle Menschen Ziele Russlands, unabhängig von ihrem Status in diesem Krieg), waren bedeutungsvoll und von Würde erfüllt.
„Der Krieg schärft Gefühle und Bewusstsein. Gedichte über den Krieg treten wie Kugeln tödlich tief ein und bleiben für immer im Herzen. Dies sind die Schnittpunkte zwischen denen, die an der Front stehen, und denen, die im Hinterland sind. Die Brücken zum gegenseitigen Verständnis. Die Schlüssel zum Selbstverständnis.“ Und: „Diese Schießscharte ist groß. Und sie gehört nur dir. Schau einmal hinein. Keine Angst“, heißt es im Klappentext zum Band Gedichte aus der Schießscharte. Und diese Gedichte sind wirklich unglaublich sensibel, sie liegen offen wie ein Nerv. Geschrieben als res privata und offenbar völlig realistisch, werden sie, ohne dass es ihre Absicht war, Teil des Mythos, wie er nun entsteht. Erklingt im Gedicht über das Veilchen nicht ein Epos?
In einem Interview versuchte Maksym Krywzow, nachvollziehbare Erklärungen und Vergleiche für das Surreale zu finden, das sich abspielt. Er, der Soldat mit dem Codenamen „Dali“, bietet in seinen Reflexionen wie in seinen Gedichten sehr bildhafte Definitionen:
„... Gott ist Wasser, das man mit in den Einsatz nimmt, und davon gibt es nie genug. Einmal waren wir kurz davor, aus einer Pfütze zu trinken. Gott ist ein Proteinriegel, den man im Schützengräben kaut, während man darauf wartet, dass der Beschuss endet. Gott ist schwarze, trockene Sonnenblumen, hinter denen man dich kaum erblickt. Und am meisten ist Gott die Rückkehr.“
Ich möchte zu seinen Texten zurückkehren, zu dem, was er geschaffen hat.
ich will euch eine Geschichte erzählen
von einem riesigen Kater
rot
wie abgemähte trockene Augustfelder
nur sein Brustlatz weiß
traurig grün
wie grüne Butter
sind seine Augen
er runzelt oft die Brauen,
als studiere er einen Fachartikel
denn die Sonne scheint hier kaum
wann habt ihr zuletzt die Sonne gesehen
zu seiner Zeit
im Frühherbst
war er ein Schrecken für alle hiesigen Mäuse
pst
das ist der Unterstand des riesigen roten Katers
huscht an ihm einfach
so schnell wie möglich vorbei
flüsterten sie sich zu
von einem riesigen Kater
rot
wie abgemähte trockene Augustfelder
nur sein Brustlatz weiß
traurig grün
wie grüne Butter
sind seine Augen
er runzelt oft die Brauen,
als studiere er einen Fachartikel
denn die Sonne scheint hier kaum
wann habt ihr zuletzt die Sonne gesehen
zu seiner Zeit
im Frühherbst
war er ein Schrecken für alle hiesigen Mäuse
pst
das ist der Unterstand des riesigen roten Katers
huscht an ihm einfach
so schnell wie möglich vorbei
flüsterten sie sich zu
So beginnt eines seiner Gedichte über den Kater, seinen Freund, der mit ihm gestorben ist. Danke für all die Worte, die du uns hinterlassen hast.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Januar 2024