Aus Polen in den Krieg  „Was für ein Ukrainer wärst du ohne die Ukraine?“

Wjatscheslaw Samojlenko mit seiner Frau Switlana und seinem zehnjährigen Sohn Oleksamdr während des Urlaubs in Polen.
Wjatscheslaw Samojlenko mit seiner Frau Switlana und seinem zehnjährigen Sohn Oleksamdr während des Urlaubs in Polen. Foto: © privat

Wie hält ein Mann, der an der Front kämpft, die zweijährige Trennung von seiner Familie aus, und wie geht die Familie damit um? Wie ist es um die ukrainische Armee bestellt, wer ist der Feind, und wie können Ukrainer*innen und Pol*innen einander besser verstehen? Wjatscheslaw Samojlenko, Soldat einer der ukrainischen Armeebrigaden, und seine Frau Switlana erzählen davon.

Zu Beginn der großangelegten russischen Invasion kam Wjatscheslaw aus dem Ausland in die Ukraine, um zu den Waffen zu greifen. An der Front war er zunächst Artillerist, seit kurzem gehört er einer Verbindungseinheit an. Seine Frau Switlana und sein zehnjähriger Sohn Oleksandr blieben in der polnischen Stadt Wałbrzych bei Breslau, wo die Samojlenkos seit sieben Jahren leben. In der Ukraine lebten sie in Dnipro. Wir arrangieren ein Treffen während Wjatscheslaws Urlaub: Zum ersten Mal seit zwei Jahren ist er nach Polen gekommen, um seine Familie zu besuchen.

Die Samojlenkos wohnen in ihrer Eigentumswohnung im Erdgeschoss eines Hochhauses. Als erstes begrüßt uns eine schwarze Katze, gefolgt von Wjatscheslaw, der aus dem Schlafzimmer kommt und uns die Hand zur Begrüßung entgegenstreckt. Mir fällt sein blau-gelbes Armband auf.

„Mein ältester Sohn, der in der Ukraine lebt, hat es selbst geflochten und mir geschenkt, als ich zur Armee ging. Er hat mir auch dieses schöne Stück geschenkt“, sagt er und zeigt mir einen kleinen metallenen Dreizack, der an der Uniform befestigt ist, die seine Frau gerade bringt. „Meine Waffenbrüder versuchen immer, ihn mir abzutrotzen“, lächelt der Mann. Er hat blonde Haare und ein rundes Gesicht, seine Wangen sind immer leicht rosig. Seine Augen wirken freundlich. Switlana und er sind heute den ganzen Tag zu Hause. Sie lassen ihren Sohn draußen spielen und laden mich in die Wohnküche ein. Sie verwöhnen mich mit Süßigkeiten und Tee. Für sich selbst kochen sie Kaffee. „Zu Silvester habe ich meiner Frau eine Kaffeemaschine geschenkt. Es war eine Überraschung für sie, als der Kurier den Karton brachte. Ich versuche, meiner Familie eine Freude zu machen, auch wenn es aus der Ferne ist“, sagt Wjatscheslaw und nimmt den ersten Schluck Kaffee.
 

In den Schützengräben an der Frontlinie. In den Schützengräben an der Frontlinie. | Foto: © privat

Das Leben vor dem Krieg

Wjatscheslaw: In der Ukraine hatten wir gute Jobs und Positionen: Switlana war Managerin, zuständig für mehrere Supermärkte, und ich war Handelsvertreter in einer Firma, die Schutzkleidung und -ausrüstung lieferte: Masken, Schutzanzüge, Atemschutzgeräte und so weiter. Aber wir wollten mehr Geld verdienen und beschlossen, es in Polen zu versuchen.

Switlana: Dank einer Freundin haben wir eine gute Vermittlungsagentur gefunden und ein Visum bekommen. Der Ehemann dieser Freundin hat auch auf diesem Weg Arbeit gefunden, so dass wir sicher sein konnten, dass alles gut gehen würde. Unser Ziel war es, sechs Monate zu arbeiten und dann zu entscheiden, ob das Leben im Ausland das Richtige für uns ist. Wenn ja, würden wir unseren Sohn mitnehmen und uns hier ein neues Leben aufbauen, so dachten wir damals.

Wir bekamen einen Job in einer Fabrik in Wałbrzych, die Kopfstützen und Armlehnen für Autositze herstellt. Ich wollte keine Arbeit, bei der ich nähen musste, aber ich bekam genauso eine Arbeit. Meine Aufgabe war es, die Bezüge zu nähen, und mein Mann hat sie auf die Rahmen gesteckt.

Die Arbeit war hart, ich nähte 1.100 Bezüge pro Schicht. Wir wohnten in einer Herberge, machten Überstunden und spürten unsere Arme und Beine nicht mehr, als würden wir in einem Steinbruch arbeiten. Aber es hat sich gelohnt, denn wir haben viel Geld gespart. Wir konnten unsere Schulden bezahlen, die wir gemacht hatten, um hierher zu kommen, unseren Sohn aus der Ukraine mitnehmen, Urlaub am Meer machen, nach Wałbrzych zurückkehren und eine Wohnung mieten. Wir arbeiteten wieder in derselben Fabrik, und nach einiger Zeit erhielten wir eine Aufenthaltskarte [karta pobytu – ein Dokument, das den Aufenthalt von Ausländern in Polen legalisiert – Anm. d. Red.] und nahmen sofort eine Hypothek für eine Wohnung auf.

Wjatscheslaw: Alles lief gut. Bis die große Invasion begann.

Ein Strohhalm ist leicht zu brechen, aber wenn es ein ganzes Bündel ist, ist es unmöglich.“

Wie haben Sie den Ausbruch des Krieges erlebt und was hat Sie dazu bewogen, an die Front zu gehen?

Wjatscheslaw: Ich bin an diesem Tag früh aufgewacht, weil ich zur Frühschicht musste. Mein ukrainischer Kollege Mykyta schickte mir eine Nachricht über die Explosionen in Dnipro. Dann habe ich gelesen, dass der Krieg begonnen hat. Den ganzen Tag in der Fabrik zitterten meine Hände und ich war hin und her gerissen. Mykyta und ich vereinbarten, nach der Arbeit über die Situation zu sprechen. Da fiel mir ein ehemaliger Kollege ein, mit dem ich in der Ukraine in derselben Firma gearbeitet hatte. Er war ein ATO-Veteran [ATO – Anti-Terror-Operation, so hieß der Krieg in der Ukraine in den Jahren 2014-2022 – Anm. d. Red.] und fragte uns bei der Arbeit oft: „Jungs, warum geht ihr nicht zur ATO?“ Eines Tages sagte ich ihm, dass ich kein großer Krieger sei, weil ich nur einmal in meinem Leben ein Gewehr in der Hand hatte, als ich den Eid beim Militärdienst ablegte. Da sagte mein Kollege: „Weißt du, wie viele Leute man braucht, um einen Sturmgewehrschützen zu versorgen? Etwa ein Dutzend. Denn du musst Schützengräben ausheben, putzen, Wache halten, kochen, reparieren und so weiter. An der Front gibt es immer Arbeit. Diese Erinnerung brachte mich zu einem Entschluss: Ich muss meinen Landsleuten helfen. Denn ein Strohhalm ist leicht zu brechen, aber wenn es ein ganzes Bündel ist, ist es unmöglich.

Wir waren sieben Männer aus Wałbrzych, die an die Front gingen. Wir sind den Frauen der örtlichen ukrainischen Gemeinschaft bis heute dankbar, die uns mit Batterien, Rucksäcken, Schlafsäcken, Kleidung und anderen Dingen geholfen haben. Sie gaben uns auch Geld. Wir waren zu viert in meinem Auto: ich, Mykyta, unser älterer Kamerad Walentyn und Arthur, ein Mann mit militärischer Erfahrung, der bei der ATO war.

Switlana, wie haben Sie die Entscheidung Ihres Mannes aufgenommen?

Switlana: Am 26. Februar versammelte sich unsere Diaspora in Wałbrzych, um die Ukraine zu unterstützen. Als ich nach Hause kam, spürte ich, dass mein Mann etwas vorhatte. Das war das erste Mal, dass er mir seine Entscheidung mitteilte. Ich wollte nicht, dass er geht, aber ich durfte ihn nicht aufhalten. Sonst wäre er unglücklich gewesen, weil er seine männliche Pflicht nicht erfüllt hätte, und ich hätte mir Vorwürfe gemacht, weil ich ihn zurückgehalten habe. Meine Hauptaufgabe war es, ihn zu unterstützen und ihm auf jede erdenkliche Weise zu helfen.
 
Switlana wischt sich mit einer Papierserviette die Tränen ab, die während unseres Gesprächs immer wieder fließen.

Wjatscheslaw: Ich respektiere meine Frau wirklich dafür. Denn mit dieser Haltung hat sie es mir leichter gemacht, zu gehen.

Wjatscheslaw mit seinem zehnjährigen Sohn Oleksandr. Wjatscheslaw mit seinem zehnjährigen Sohn Oleksandr. | Foto: © privat

Der Weg in die Ukraine, die Ausbildung, die Armee

Wjatscheslaw: Das Auto, mit dem wir in die Ukraine fuhren, war nicht beim Konsulat angemeldet, so dass man uns eventuell nicht aus Polen hätte ausreisen lassen. Die Jungs und ich beschlossen, dass wir in diesem Fall das Auto irgendwo abstellen und zu Fuß über die Grenze gehen würden. Die Zöllner waren jedoch verständnisvoll, gaben uns ein Formular zum Ausfüllen und ließen uns die Grenze passieren. Unser Auto war das einzige an der ukrainischen Grenze in Richtung Ukraine. Stattdessen kamen uns lange Konvois entgegen. Die polnischen Polizisten waren überrascht, uns zu sehen: „Leute, wo wollt ihr hin?“ Wohin schon? In den Krieg. Sie wünschten uns viel Glück: „Gebt es den Russen, Kurwa!“

Nachdem wir die Grenze überquert hatten, wollten wir nach Kyjiw, denn dort war gerade die Lage schwierig. Arthur hatte jedoch den Rat bekommen, sich in einem der Musterungsbüros in der Westukraine zu melden. Wir standen zu viert Schlange und wurden verschiedenen Zügen zugeteilt. Ich erinnere mich an die Geschichte der Freiwilligen, die „weiße“ Militärausweise besaßen, aber trotzdem ihre Heimat verteidigen wollten. Es handelte sich um 82 Personen mit Krankheiten, die sie daran hinderten, an die Front zu gehen. Diese Freiwilligen wurden von der Musterungsstelle in ihrer Heimatregion nicht angenommen, also stürmten sie die Musterungsstelle in Kyjiw, aber auch dort wurden sie abgewiesen. Schließlich kamen sie in die Westukraine, wo es ihnen gelang, sich registrieren zu lassen.

Danach begannen wir mit der Ausbildung zu Artilleristen. Dann wurden wir in Brigaden eingeteilt, in denen jeder von uns eine Aufgabe zugeteilt bekam. In dieser Zeit gab es einen schweren Raketenangriff auf die Einheit und den Truppenübungsplatz. Wir schafften es, während des Alarms die Kaserne zu verlassen. Aber nicht allen gelang das. Eine weitere Rakete schlug im Treppenhaus ein, über das die Soldaten die Kaserne verließen.

Die Kriegsfront

Wjatscheslaw: Während des ganzen Krieges arbeiten wir in der Nähe von Saporischschja. Es gab schwere Angriffe. Vor meinen Augen wurde ein Zugkommandant getötet: Er wurde bei der Verteidigung seiner Stellung angeschossen. Wir eroberten einen feindlichen Graben, der leicht zu beschießen war, und der Feind hatte sich noch nicht vollständig zurückgezogen. Zwei Monate lang konnten wir den Leichnam des Kommandanten nicht bergen. Das war unmöglich, denn jede Minute schlugen zwei oder drei Granaten ein.

Bei dieser Wache an der vordersten Front wurden zwei Mann getötet und vier verwundet. Die Evakuierung gestaltete sich schwierig, da der Feind unsere Fahrzeuge, die die Verwundeten abholen und die Kämpfer als Ersatz bringen sollten, mehrmals mit Panzerabwehrlenkraketen beschoss. „Es gelang mir, einen Kameraden aus dem Minenfeld zu ziehen, dem der Fuß weggesprengt worden war. Außerdem fand ich zufällig einen Mann mit einer schweren Gehirnerschütterung im Gras“, und noch einen anderen, der sich wegen einer Rückenverletzung nicht bewegen konnte und die halbe Nacht auf Hilfe wartete.

Der Feind hat alles um uns herum mit Anti-Personen-Minen aus Plastik vermint. Der Metalldetektor reagiert nicht darauf, und in der Dunkelheit kann man überhaupt nichts tun. Durch Zufall fanden wir eine asphaltierte Straße und konnten uns befreien. Außer meinen Habseligkeiten hatte ich drei Sturmgewehre und ein paar Rucksäcke bei mir – sie gehörten meinen toten und verwundeten Kameraden. Einmal trugen wir einen Mann vom Schlachtfeld. Ich schaute ihm in die Augen – und sie wurden weiß, das Leben war aus ihnen gewichen. Das Evakuierungsfahrzeug, das zu uns unterwegs war, fiel in ein Erdloch und überschlug sich, so dass es ihn nicht aufnehmen konnte. Ein anderes Fahrzeug kam und brachte ihn ins Stabilisierungszentrum. Später erfuhr ich, dass er nicht überlebt hatte.

Was ist das Schwierigste im Krieg?

Wjatscheslaw: Wenn man statt zwei oder drei Tagen länger im Einsatz sein muss. Vor allem im Winter, wenn man wegen der Kälte nicht schlafen kann. Nach der Schicht schlafen die Jungs meistens. Wenn sie aufwachen, müssen sie wieder „auf Null“, also an die vordere Frontlinie. Es gibt auch einen schrecklichen Panzer mit Hochgeschwindigkeitsgeschossen. Wenn man in der Schusslinie steht, hört man zuerst die „Ankunft“ der Granate und erst dann den „Abgang“. Das heißt, man hat nicht einmal die Chance rechtzeitig zu fallen. Die Granaten sind so stark, dass sie einem die Ohren zerreißen und taub machen. Ich bekam eine Gehirnerschütterung und atmete jede Menge verbranntes Schießpulver ein.

Eines Tages kamen zwei Jungs aus einer anderen Einheit von einer Schicht zurück, und wir machten uns gerade zum Aufbruch bereit. In der Nähe eines Waldes kreuzten sich unsere Wege. In diesem Moment kam der Schuss von einem Panzer, und einem der Soldaten wurden die Beine weggesprengt, und der andere wurde getötet.

Habt ihr genug Waffen?

Wjatscheslaw: Einige Waffen haben wir, andere fehlen, aber der Bedarf ist immer da. Es ist kein Krieg der Maschinengewehre, es ist ein Krieg der Drohnen und der Artillerie. Die Luftaufklärung ist sehr wichtig. Unsere Artillerie funktioniert gut, präziser als die des Feindes, aber die Artillerie des Feindes ist zahlenmäßig im Vorteil.

Wer sind diese ukrainischen Soldaten?

Wjatscheslaw: Sie sind Kosaken, die dem Ruf ihres Herzens gefolgt sind, um ihre Heimat zu verteidigen.

Und wer sind die Feinde?

Wjatscheslaw: Bei den Gefangenen handelt es sich hauptsächlich um Mobiks [mobilisierte Russen – Anm. d. Red.], die des Kämpfens müde sind und darum bitten, zu uns zu kommen. Von Drohnen aus sehen wir sie auf den Feldern herumirren. Sie können nicht zurück, weil sie von ihren eigenen Leuten erschossen würden. Manche geben zu, dass sie im Krieg Geld verdienen wollen, um zum Beispiel ihre Hypothek abzuzahlen. Oder sie erzählen unseren Kommandanten, dass sie nur gekommen sind, um Schützengräben auszuheben. „Warum lügst du, ‚lieber Freund‘? Du hast doch auf uns geschossen, so lange, bis du gemerkt hast, dass wir die Oberhand haben.“

Es gab auch die „Wagner-Leute“. Eines Tages nahmen unsere Jungs ihre Stellungen ein und fanden dort einen Haufen Lebensmittel: Fleischkonserven, Tee, Zucker, Kaffee in großen Paketen. Die Jungs lebten zwei Monate lang von diesen Lebensmitteln. Und in den Unterständen, die die Russen in den Boden gegraben hatten, fanden unsere Jungs jede Menge Granaten. Als diese „Wagner-Leute“ flüchteten, schnitten sie die Wasserkanister auf, damit wir nichts abbekamen.

Was gibt Ihnen die Kraft, nicht zusammenzubrechen?

Wjatscheslaw: Die Tatsache, dass meine Familie auf mich wartet und ich zu ihr zurückkehren muss. Meine Frau ist meine Stütze. Sie hat eine Spendensammlung für ein Auto organisiert. Die Leute haben 50.000 Hrywen [ca. 1160 Euro, Stand 20. Mai 2024] gespendet, ich habe meine 150.000 Hrywen [ca. 3480 Euro] dazugegeben, und jetzt tut das Auto mir und den Jungs gute Dienste. Und jetzt haben meine Frau und andere Freiwillige über 200.000 [ca. 4650 Euro] für eine Drohne gesammelt. Das ist sehr wertvoll und notwendig an der Front. Ich habe jeden Tag Kontakt zu Switlana und meiner Mutter.

Und ich habe ganz tolle Kameraden. Es gibt unter ihnen auch besondere Menschen, die einem Flügel verleihen. Einmal hat ein Kamerad während des Beschusses in unserem provisorischen Unterstand Kartoffeln gebraten. Er zog seinen Helm und seine Schutzweste an. Und jedes Mal, wenn er den Schuss hörte, ging er in die Hocke, und dann stand er wieder auf und rührte die Kartoffeln.

Wenn man nicht im Dienst ist, führt man dort ein fast normales Leben. Man kann zur Post oder zum Hauptquartier fahren, um Pakete abzuholen, oder in den Laden gehen, um ein paar Leckereien zu kaufen. „Ich liebe Waffelkuchen so sehr, dass ich schon so dick geworden bin [zeigt auf seinen Bauch].

Jetzt trampelt der Feind auf deinem Land herum. Also was für ein Ukrainer wärst du ohne die Ukraine?“

Hat der Krieg Sie verändert?

Wjatscheslaw: Nein, ich glaube nicht. Wenn überhaupt, dann nicht radikal.

Switlana: Ich machte mir Sorgen: Wer würde nach diesen zwei Jahren zu mir kommen? Aber Gott sei Dank sah ich meinen üblichen Slawa. Er ist ein freundlicher Käfer mit einem offenen Herzen. Aber als er Verbindungsmann wurde, fing er an, noch mehr Schmerz für die Jungs zu empfinden, zum Beispiel, wenn er mit seiner Drohne einen Verwundeten auf einem Feld oder im Wald ausmacht, aber nicht in der Lage ist, ihn herauszuziehen.

Natürlich hat sich auch das Familienleben verändert. Nachdem mein Mann weg war, habe ich mich um alles Mögliche gekümmert, um nicht verrückt zu werden. Es gab einen großen Zustrom von Geflüchteten und ich musste Fremden, Freunden und Verwandten helfen. Ich nahm Menschen bei mir zu Hause auf und ging zu meinen Nachbarn, um dort zu übernachten. Ich habe den Flüchtlingen geholfen, Papiere zu bekommen, Wohnungen und Arbeit zu finden. Jetzt vermisst mein Sohn seinen Vater und fühlt sich immer mehr zu mir hingezogen. Eines Tages kam er weinend von der Straße: Er wurde von den Kindern gehänselt, weil er keinen Vater hat. Ich sagte zu ihm: „Mein Sohn, nicht du solltest weinen, sondern sie, denn dein Vater ist ein Held, und wo sind ihre Väter?“

Was denken Sie über die Männer, die die Ukraine verlassen haben?

Wjatscheslaw: Im März spielte die ukrainische Fußballnationalmannschaft in der Qualifikation für die Europameisterschaft 2024 in Breslau gegen Island. Ein Ukrainer schrieb in einer lokalen Facebook-Gruppe, er habe noch eine ukrainische Fahne zu verkaufen, und schlug vor, zum Spiel zu gehen. Ich war angewidert und schrieb einen Kommentar, in dem ich ihm sagte, er solle die Fahne nicht anrühren, er sei sie nicht wert. Jemand antwortete, ich solle den Leuten keine Befehle erteilen. Aber ich bin davon überzeugt, dass es eine Schande sein sollte, die Fahne des Staates in die Hand zu nehmen, vor dem man sich versteckt. Jetzt trampelt der Feind auf deinem Land herum, was für ein Ukrainer wärst du ohne die Ukraine?

Sie sind lange vor dem großen Krieg nach Polen gezogen und haben offensichtlich viele Freunde unter den Einheimischen. Was sagen die zum Krieg in der Ukraine? Denn man hört von Polinnen und Polen immer öfter den Satz: „Das ist nicht unser Krieg, das ist euer Krieg“.

Wjatscheslaw: Wir hatten Glück mit unseren Nachbarn und Hausbewohnern. Es sind gebildete Leute, meistens Professoren und Lehrer, die die Ukraine unterstützen und wissen, was richtig und was falsch ist. Kürzlich traf ich eine ältere Dame in der Nähe unseres Hauses. Sie sagte mir, dass es im Fernsehen eine Rhetorik gebe, die Polen und Ukrainer gegeneinander ausspielt.

Switlana: Es gibt Leute, die die Ukrainer beneiden, weil sie von den lokalen Behörden unterstützt und geschützt werden. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einer Kollegin und schlug ihr einen Tauschhandel vor. Ich sagte: Ich bekomme weniger Geld, aber mein Mann kommt aus dem Krieg zurück, und du bekommst etwas mehr, aber du schickst deinen Mann an die Front. Wofür entscheidest du dich? Dann beginnen sie auch zu kapieren.

Ich erkläre auch, dass Russland vom Streit zwischen uns profitiert. Ich erkläre: Wenn die Ukraine aufgibt und Polen wegen der Grenzblockade ohnehin schon schlechte Beziehungen zum Rest Europas hat, wird Polen automatisch zur leichten Beute. Dann hat Russland zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das funktioniert auch bei den Polen und sie fangen an, darüber nachzudenken. Das Wichtigste ist, dass man ruhig und mit Argumenten spricht.

Wie würde ein Sieg der Ukraine für Sie aussehen?

Wjatscheslaw: Nur die Befreiung aller Territorien. Diese ganze Rhetorik über Friedensabkommen und Gebietsabtretungen ist Unsinn. Wir haben die erste Phase des Krieges überstanden – wir haben den Feind zurückgeschlagen, der sich in den Regionen der Ukraine ausgebreitet hat. Die Tatsache, dass wir ihn aufgehalten haben, ist ein kleiner Sieg. Die zweite Etappe besteht darin, den Rest von ihnen zurückzuschlagen, damit es ein großer Sieg wird.
 

Zum Schluss zeigen mir die Samojlenkos eine große ukrainische Flagge an der Wand des Kinderzimmers. Wjatscheslaw hat sie für seinen Sohn aus seinem Heimatland mitgebracht. Ich bekomme eine kleine Fahne mit der Aufschrift „Slawa Ukrajini! Herojam Slawa!“ – „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“ geschenkt. Angesichts des Namens des Gastgebers erscheint das Geschenk symbolisch und rührend. [Der gebräuchliche Rufname von „Wjatscheslaw“ ist Slawa. – Anm. d. Übers.] Wjatscheslaw begleitet mich aus dem Gebäude. Ich danke ihm für das Geleit und wünsche ihm alles Gute, denn in zwei Tagen muss er wieder an die Front. Wir verabreden ein Wiedersehen – in der Ukraine oder in Polen.

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