Charkiw im Krieg  Das Lächeln des Juriy Gagarin

Valeriy (77)
Valeriy (77) Foto: © Lieselotte Hasselhoff

Von Charkiw sind es nur rund 40 Kilometer bis zur russischen Grenze. Und seit der jüngsten russischen Offensive noch weniger bis zur Frontlinie. Trotz ständigen russischen Beschusses will Valeriy in seiner Heimatstadt bleiben, solange sein Haus noch steht. Aufgewachsen zu Sowjetzeiten steht der pensionierte Englischlehrer mit Faible für postmoderne Literatur und aktuelle Rockmusik für vieles, was die Bewohner*innen der zweitgrößten Stadt der Ukraine heute ausmacht: Gelassenheit und Wut, Trotz und Trauer… und der Glaube daran, dass der Sieg nur eine Frage der Zeit ist. Ein Besuch.

Wenn auf Charkiw die Bomben fliegen, verbringt Valeriy seine Zeit gerne vor dem großen Bücherregal, das sich an allen Wänden seines Wohnzimmers entlangwindet, und liest. Milorad Pavić, Gabriel García Márquez, Julio Florencio Cortázar oder seinen Lieblingsautor John Barth.

„Seine Fantasie ist so lebhaft und unwirklich zugleich“, sagt Valeriy über John Barth. „Er entspinnt fantastische Welten, in denen es aber immer um reale gesellschaftliche Fragen geht. Ich finde darin viele anregende Ideen, über die ich auch nach dem Lesen noch lange nachdenke.“

Valeriys Haus im klassischen Chruschtschow-Stil – Plattenbau, hölzerne Winterbalkone mit meist bunt zusammengewürfelten Fenstern, weil jeder hier selbst an seiner Wohnung herumbastelt – steht in einem Wohnblock an der Juriy-Gagarin-Allee. Dort hört der pensionierte Englischlehrer Musik von Bands wie Thirty Seconds to Mars, Linkin Park oder Radiohead und denkt über postmoderne Literatur nach.

An diesem Nachmittag jedoch sitzt Valeriy in dem verzweigten Hinterhof seines Viertels auf einer Holzbank, die so gelb gestrichen ist, wie die Gasleitungsrohre, die sich an den Außenwänden der Häuser entlang ziehen. Ein 77 Jahre alter Herr, schlank, groß. Die eleganten braunen Lederschuhe, die er trägt, stehen im Kontrast zu den spröden Wegplatten aus Beton. Und auch zu der Plastiktüte neben Valeriy, mit den Boxen voll Suppe von der kostenlosen Essensausgabe. „Nach Kriegsbeginn haben viele Menschen hier ihre Jobs verloren“, erklärt er. „Anders als in Kyjiw. Deshalb wurden in den Wohnvierteln Suppenküchen eingerichtet. Jeder kann sich hier sein Mittagessen holen.“

Drüben, auf der anderen Seite der Allee, an der Valeriy wohnt, lächelt der junge Juriy Gagarin im Raumanzug von einer Hauswand. Eine Erinnerung an den 27-jährigen Russen, der 1961 als erster Mensch ins All flog. Und vielleicht eine Erinnerung daran, wie sehr die Vergangenheit Charkiws, des heutigen wissenschaftlichen Zentrums der Ukraine, mit der Geschichte der Sowjetunion und ihrem Streben nach technischem Fortschritt verwoben war.
 
Juriy Gagarin, der erste Mensch im Weltall, lächelt von diesem Murial auf die nach ihm benannte Straße hinunter. Hier in der Nähe wohnt Valeriy (77).

Juriy Gagarin, der erste Mensch im Weltall, lächelt von diesem Murial auf die nach ihm benannte Straße hinunter. Hier in der Nähe wohnt Valeriy (77). | Foto: © Lieselotte Hasselhoff

„Eigentlich war ich immer ein friedlicher Mensch“

Heute werden immer mehr dieser Denkmäler in der Ukraine durch Symbole der ukrainischen Eigenständigkeit ersetzt: Der Tolstoi-Platz in Kyjiw wurde zum Platz der ukrainischen Helden, die große „Mutterland“-Statue über dem Dnipro trägt jetzt anstelle von Hammer und Sichel einen ukrainischen Dreizack, den sie nun wohl mehr drohend als hinwendungsvoll Richtung Moskau hält. Und auch die Kyjiwer Juriy-Gagarin-Straße heißt jetzt Leonid Kadeniuk-Allee – benannt nach dem ersten Kosmonauten der unabhängigen Ukraine. Auch in Charkiw gibt es solche Pläne. Doch noch lächelt der russische Kosmonaut weiter auf die nach ihm benannte Allee hinunter – voller Zuversicht auf alles Große, was die Menschheit noch erreichen wird. Hinunter auf die Allee jener Stadt, die Russland – nach Mariupol, Bachmut, Wowtschansk und weiteren – bereits als nächstes Ziel auf seine tödliche Agenda gesetzt hat.

Rund 1.500 Luftangriffe gab es in den ersten beiden Kriegsjahren auf Valeriys Heimatstadt – im Durchschnitt über 60 pro Monat. Allein im Mai 2024 hat Russland die Stadt 76 Mal angegriffen – mehr als in jedem anderen Monat zuvor. Seit 2022 wurden landesweit 210.000 Häuser beschädigt oder zerstört, darunter jeweils mehr als 100 Kirchen und Krankenhäuser und mehr als 700 Schulen. Zahlreiche davon auch in Charkiw. In der Millionenstadt heult täglich, oft stündlich, der Luftalarm. Von Zeit zu Zeit rollt mit dumpfem Klang von irgendwo aus der Stadt die gewaltige Druckwelle einer Explosion heran. Dann weiß jede*r: Gerade wurde wieder ein Wohnblock, eine Schule oder eine Infrastruktureinrichtung von einem russischen Geschoss getroffen.

„Eigentlich war ich immer ein friedlicher Mensch. Ein Lehrer eben“, sagt Valeriy. Sein Gesicht wirkt klar und gelassen, als er das sagt: „Aber seit der Krieg begonnen hat, hasse ich sie alle. Angefangen bei Putin – alle von ihnen.“
  Das eigentlich freundschaftliche Verhältnis zwischen Charkiw und dem nur 60 Kilometer entfernten russischen Belgorod endete jäh, als aus dieser Richtung 2022 die russische Armee in die Ukraine einmarschierte. Bis dahin kamen die russischen Nachbar*innen gerne zum Shoppen oder zum Ausgehen in die nahegelegene Großstadt. Nach einer dreimonatigen Schlacht konnte die ukrainische Armee die Invasoren aus der Stadt vertreiben. Seit dem Beginn einer neuen russischen Großoffensive im Mai rückt die Front wieder näher. Die Bombardierung geht unterdessen weiter. Es heißt, Russland wolle Charkiw entvölkern, indem es das Leben dort unmöglich macht.

Ausgerechnet Charkiw – Universitätsstadt und Stadt der Panzer- und Maschinenproduktion, zu Beginn des 20. Jahrhunderts die erste Hauptstadt der Sowjetukraine und gleichzeitig Zentrum der ukrainischsprachigen Literaturszene, die später unter Stalin brutal verfolgt wurde. Stuckverzierte Häuschen, Plattenbauten, von denen die Fassade blättert, monströse Staatsgebäude, die zeitlos in den Himmel ragen: Erscheinungsbild und Geschichte der Stadt sind ebenso schillernd wie konfliktreich – voller Härte und Schmerz, aber auch voller Leben und voll von großen Ideen.

„Ich liebe meine Stadt, deshalb will ich hier nicht weg“, sagt Valeriy. „Meine Freunde leben hier, hier bin ich aufgewachsen.“ Als Valeriy geboren wurde, lag Charkiw noch in Schutt und Asche. Die erste Hälfte des neuen Jahrhunderts war nicht einmal um, und Charkiw hatte schon einen Bürgerkrieg hinter sich, die von Stalin herbeigeführte große Hungersnot Holodomor und das Wüten der Deutschen Wehrmacht, der zig Tausende Bewohner*innen zum Opfer fielen. Während Valeriy heranwuchs, erstand gleichzeitig auch seine Heimatstadt neu aus ihren Trümmern – als sowjetische Vorzeigestadt: jung, fortschrittsorientiert, wirtschaftlich produktiv und stetig wachsend. Dass die Ukraine ihren Weg im Jahr 1991 alleine als eigenständige Nation fortsetzen wollte, sollte Russland niemals wirklich akzeptieren.

„Für sie ist die Hauptsache, es gibt so viele Tote wie möglich“, sagt Valeriy. „Deshalb greifen sie auch zivile Orte an.“ Beim Sprechen blicken seine Augen geradeaus in die Ferne. Irgendwo in dieser Richtung ist vor einigen Tagen eine Rakete in ein Haus eingeschlagen. „Ich denke, das ist ihre Art, ihren Hass gegen uns auszudrücken“, sagt Valeriy. „Sie entführen unsere Kinder und erziehen sie zu Russen um. Für mich ist es glasklar: Sie wollen die ukrainische Nation auslöschen.“ Er schweigt kurz.
 

„Wir haben unsere Routinen entwickelt.“

„Ich bin kürzlich dazu übergegangen, Bücher in ukrainischer Sprache zu lesen“, erzählt Valeriy. Aufgewachsen und kulturell geprägt in der Sowjetunion ist seine erste Sprache immer Russisch gewesen. Ganz anders als in Kyjiw, wo das Ukrainische – oder Surschyk, eine Mischform aus beiden Sprachen – längst genauso präsent ist, hört man die meisten Charkiwer*innen weiterhin russisch sprechen. Valeriy gehörte während seiner Schulzeit zu den wenigen, die das Fach Ukrainisch freiwillig gewählt haben. 2022 begann er, nur noch Ukrainisch zu sprechen. „In den letzten zwei Jahren wurden sehr viele Bücher neu in ukrainischer Sprache herausgegeben“, sagt Valeriy. „Inzwischen spreche ich fast perfekt. Aber beim Lesen muss ich viele Wörter nachschlagen. Es ist sehr interessant: So viele Wörter ähneln dem Polnischen.“

Mit welcher Vehemenz Russland diese Hinwendung zum Ukrainischen ablehnt, zeigte zuletzt der Raketenangriff auf die ukrainische Buchdruckerei des Vivat-Verlags, einem der drei größten Verlagshäuser der Ukraine. Sieben Menschen starben, 55.000 Bücher in ukrainischer Sprache wurden zu Asche. Es war nicht der erste Angriff auf eine Druckerei: Am 20. März brannte die Charkiwer Druckerei Hurov&K nieder. Sie wurde von einer russischen Kh-35-Rakete getroffen. Zuvor erlitt das Budynok Druku (Haus des Drucks“) in Charkiw Schäden wegen eines Raketenschlags.

Doch je brutaler die Angriffe, umso trotziger, so scheint es, halten die Bewohner*innen von Charkiw am Leben fest: Theaterstücke werden uraufgeführt, Konzerte gespielt und auch Partys gefeiert. Am 18. Mai veranstaltete die Stadt ihre alljährliche Nacht der Museen. Ausgerichtet – wie sollte es anders sein – vom Charkiwer Literaturmuseum, das seine Wurzeln in der aufmüpfigen Literaturszene des frühen 20. Jahrhunderts hat. Auch Valeriy verbringt seine Tage längst nicht nur zwischen den Bücherwänden in seinem Wohnzimmer. Mit der Metro fährt er durch die halbe Stadt, um seine Freunde zu treffen und über die gemeinsam erlebte Jugend zu reden. Valeriy lächelt plötzlich und fügt verlegen hinzu: „Nicht nur über Jugenderinnerungen, sondern natürlich auch über die Nachrichten und unsere Familien.“

Falls es unterwegs Luftalarm gibt oder er eine Explosion, geht er immer etwas näher an den Hauswänden entlang, sagt Valeriy. „Und zu Hause gilt die Zwei-Wände-Regel: Ich flüchte mich in den Wohnungsflur oder ins Bad, wo keine Fenster sind. Für den Fall, dass doch mal eine Scheibe zersplittert oder Schlimmeres. Wir haben unsere Routinen entwickelt.“
 

„Es ist wichtig, dass wir wir selbst bleiben.“

Valeriy hat zwei Töchter, zwei Enkel und eine kleine Enkelin. Die ältere Tochter lebt mit einem Sohn in Großbritannien. Die andere mit den beiden anderen Kindern in der Westukraine. „Mein Enkelsohn studiert dort Psychologie“, sagt Valeriy nicht ohne Stolz. Es wirkt, als hätte der Großvater eine besondere Zuneigung zu diesem Enkel: „Er will später in der Rehabilitation für ukrainische Soldaten arbeiten.“ Dann wird er lebhafter: „Und er schreibt auch Lieder. Auf Englisch. Die packt er auf so eine Online-Plattform, Spotify. Und verdient Geld damit.“ An Neujahr hat er die Familie im Westen besucht, darüber hinaus will er aber hier in Charkiw bleiben. „Sollte mein Haus von einer Rakete getroffen werden, dann bleibt mir nichts anderes mehr übrig. Dann habe ich keine Bleibe mehr und werde zu meiner Familie in die Westukraine ziehen.“

Angst fühlt Valeriy nicht, er hat sich längst an die Gefahr gewöhnt. „Ich weiß nur, dass ich sehr vorsichtig sein muss.“

Hyper-Awareness nennt man diesen Zustand in der Psychologie, den wahrscheinlich alle, die seit dem Februar 2022 länger in der Ukraine gelebt haben, heute teilen: Wachsamkeit bis in die äußerste Zelle des Körpers, sobald es irgendwo knallt. Jedoch nur für Sekundenbruchteile, dann geht das Leben wieder seinen gewohnten Gang. „Aber ich hatte auch Glück“, sagt Valeriy: „Bisher gab es nur drei Treffer hier an der Gagarin-Allee. Und nicht in meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Wenn dein Haus durch eine nahe Explosion wackelt, wenn die Fensterscheiben zerbrechen, erst dann ist die Zeit gekommen, Angst zu haben.“

Ein schwarz-grauer Vogel hüpft vor der Bank auf und ab. „Oh, siehʼ mal, eine Dohle“, sagt Valeriy. Kurz hält er inne, und beobachtet, wie der Vogel zu ihm herüberäugt.

„Ich will nicht alle meine Gewohnheiten ablegen, nur wegen dieses paranoiden Diktators Putin“, sagt Valeriy dann. „Gerade unter diesem ständigen Druck ist es wichtig, dass wir wir selbst bleiben. Wenn ich die Jugendlichen in meinem Viertel sehe, wie sie lebhaft schwatzen, wie sie sich zurecht gemacht haben, mit ihren modischen Frisuren – oft komische Frisuren für meinen Geschmack“, er lacht, „dann bereitet mir das große Freude.“ Dann schaut er wieder ernst: „Das ist unsere Antwort auf den Krieg. Wir beweisen damit, dass wir keine Angst haben.“

Valeriy erhebt sich von der Bank, um zurück zu seiner Wohnung zu gehen. In das Wohnzimmer mit dem Bücherregal, das sich um alle vier Wände windet. Wahrscheinlich wird er dort noch ein wenig in John Barth blättern und dem einen oder anderen Gedanken nachhängen. Während drüben, auf der anderen Seite der Allee, Juriy Gagarin weiter von seiner Hauswand herunter lächeln wird.

Im Weggehen dreht Valeriy sich noch einmal um. Er hebt die Faust seiner Hand zum Gruß, lacht breit und ruft zum Abschied: „Auf unseren Sieg!“

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