Am 8. Juli führte Russland einen massiven Raketenangriff auf Kyjiw durch. Unter Beschuss geriet das größte Kinderkrankenhaus Ochmatdyt. Unser Autor und unser Fotograf waren unmittelbar nach dem Angriff vor Ort.
Ein Kalender hängt an der Wand der zertrümmerten Unfallstation des Kyjiwer Krankenhauses Ochmatdyt. Der rote Rahmen des beweglichen Datumanzeigers ist auf der Zahl 8 stehen geblieben: Montag, der 8. Juli 2024. Etwas links hängt ein sauber gezeichneter Dienstplan. Dazwischen ein Halter mit Buntstiften. Das Einzige, was hier überlebt hat. Der Ultraschallapparat ist verbrannt, die Operationslampe in Stücke zerschmettert... Durch das zerbrochene Fenster sieht man einen Baum. Darauf sitzt ein Helfer, sein Blick auf das Epizentrum der Explosion konzentriert. Er sucht nach Überlebenden. Vor einigen Stunden gab es sie noch. Die Hoffnung, dass dort unter den Trümmern noch Herzen schlagen, ist noch da. Indessen schwindet die Hoffnung, dass die Welt unseren Schmerz spürt.Ich arbeitete viel an den Einschlagsorten in und außerhalb von Kyjiw. Emotionen abzustellen ist bei dieser Arbeit schwer. Doch wenn die Anzahl solcher Reportagen immer weiter steigt, beginnt man, vieles automatisch zu machen. Mit der Zeit lernt man, den inneren Schmerz in den „Flugmodus“ zu versetzen und zu arbeiten, weil das ein Muss ist. Manchmal gelang es mir sogar, alltägliche Gespräche mit Kollegen zu führen, während wir zusammen die Folgen der Gräueltaten dokumentierten. Dieses Gefühl ist schwer zu beschreiben: Man ist engagiert, wütend, konzentriert, man versteht, wo man ist und warum... Aber man kann es sich nicht erlauben, die um sich herum aufgebaute empathische Barriere zu überschreiten. Nach der Arbeit vielleicht, aber nicht währenddessen. Man muss nach Details suchen, dokumentieren, nachfragen, nichts übersehen. Ruhig, konzentriert, motiviert, ohne Zittern…
Am Morgen des 8. Juli 2024, als ich dem Polizisten am Eingang des verrauchten Ochmatdyt-Krankenhauses meine Akkreditierungskarte zeigte, kam keines der oben beschriebenen Gefühle in mir hoch. Keines... Stattdessen gab es nur Leere, Verwirrung in Gedanken, so einen Schmerz, als wurde mir das lebendige Herz herausgerissen, und fürchterliche Ungewissheit. Das letzte Mal, dass ich einen so unangenehmen emotionalen Strudel in meiner Brust dämpfen musste, war Anfang April 2022, als ich von Butscha in das befreite, aber völlig zerstörte Irpin gefahren war…
Ochmatdyt ist mein Krankenhaus im wahrsten Sinne des Wortes. Als Kind lag ich hier zweimal stationär und kam unzählige Male in die örtliche Poliklinik. Ich bin ein Spender des hiesigen Blutspendezentrums und komme alle drei Monate regelmäßig zur Blutabnahme. Selbst im März 2022, als Kyjiw belagert war, ging ich pünktlich zur Spende. Letztendlich war ich auch mit meinem sechsjährigen Sohn hier. Kürzlich, als wäre es gestern gewesen… Außerdem finden die außerschulischen Aktivitäten meines Sohnes im Kinderzentrum statt, das nur 300 Meter von den Haupttoren des Krankenhauses entfernt ist. Zweimal pro Woche läuft mein Kleiner an den freundlichen, bunten Wand- und Zaunzeichnungen von Ochmatdyt vorbei...
Die Welt ist nicht so mutig geworden wie die Ukraine.“
Das Erste, was ich durch den grauen Feuerrauch sah, der mit klebrigen Tentakeln langsam herumschlich, um alles Lebende zu ersticken, waren braunrote Blutspuren auf den Arztkitteln des Krankenhauspersonals. Hier kommt eine besorgte Frau, vielleicht eine Krankenschwester, mit einer Kiste in den Händen. Die weißen Sohlen ihrer Gummicrocs sind völlig blutgetränkt... Ich notiere: „durch Blutlachen gegangen“. Da tritt ein Mann in weißer medizinischer Uniform von den Ruinen des toxikologischen Gebäudes zurück, wo das Epizentrum des Einschlags war. Sein Rücken ist völlig mit Blut überzogen. Ich notiere: „in eine Blutlache gefallen oder neben einem Verletzten gesessen“... Eine Ärztin in einer blauen blutbefleckten Bluse steht neben dem Denkmal von Tereschtschenko, dem Mäzen dieses Krankenhauses. Sie hält sich den Kopf. Die Stirn und das Kinn sind mit Wundpflaster verklebt. Noch mehr Ärzt*innen mit Pflastern und Verbänden, immer mehr... Blut auf den Wegen, an den Wänden, an den zerschlagenen Fensterscheiben. Ich schaue genauer hin. Kein einziges Glas zu sehen, in keinem Gebäude, weder in den Fenstern noch in den Türen... Alles liegt unter meinen Füßen. Es knirscht, es beißt in die Schuhe, es will stechen. Milliarden kleiner Scherben. Ich notiere: „Blut als Folge von Verletzungen mit Glasscherben“. Später bestätigten die Ärzt*innen offiziell, dass die meisten Verletzungen tatsächlich durch Glasscherben verursacht wurden...
In der Nähe der Toxikologie herrscht ein Gewimmel von Menschen. Mediziner*innen, Rettungskräfte, Polizist*innen und Passant*innen stehen in Reihen und reichen sich Ziegelsteine, Rohre und Reste von Fassadenverkleidung von Hand zu Hand weiter. Was vor wenigen Minuten noch eine einzigartige medizinische Einrichtung war, ist nun ein brennendes Trümmermeer. Ein Meer des Leides, das Hunderte von engagierten Menschen von Hand trockenzulegen versuchen.
Inmitten des menschlichen Wirbels bemerke ich eine Fotokorrespondentin, die Gewinnerin des World Press Photo 2024, Julija Kotschetowa. Zusammen studierten wir am Aspen Institute. Wir grüßen uns. Dann arbeiten wir. Am Abend sehe ich auf Julias Facebook-Seite das Foto dieses menschlichen Gewimmels und einen Beitrag, der auch meine eigenen Gefühle am Eingang des Krankenhauses widerspiegelt: „Kyjiw wurde das Herz herausgerissen, aber es reicht sich die Hände“...
„Mut“ und „Ungleichgültigkeit“ sind die zwei Worte, die ich verwenden würde, wenn ich die Such- und Rettungsoperation im Oсhmatdyt kurz beschreiben sollte. In der Tat gab es noch das Wort „Schmerz“, welches jedoch beharrlich entfernt, verdrängt und ignoriert wurde von allen, die sich zu dieser Zeit an dem Ort des von den Russen begangenen Kriegsverbrechens befanden.
Tat es den Frauen weh, die die von Pfizer gespendete Skulptur Mädchen mit Pusteblume vom Rasen hoben? Es tat weh, doch sie unterdrückten den Schmerz, beseitigten die Überreste des Krankenhausinventars und fegten anschließend mit einfachen Besen das zersplitterte Glas von den Wegen und Grünflächen.
Tat es den Ärzt*innen weh, als sie erfuhren, dass ihre Kollegin gestorben war, nur weil sie in das toxikologische Gebäude gelaufen war, um zu überprüfen, ob noch jemand dort war? Es tat weh, aber sie verfielen nicht in Panik und organisierten vorbildlich die Evakuierung der Patient*innen und des Klinikpersonals.
Tat es den tausenden Einwohner*innen von Kyjiw weh, als die Nachricht von der Bombardierung des Kinderkrankenhauses sie an vergleichsweise sicheren Orten erreichte? Es tat weh, aber sie fanden die Kraft, hinauszugehen und nach Ochmatdyt zu gelangen, um Medikamente, Wasser und Nahrung zu bringen... Zu kommen und sich in einen einzigen lebendigen Organismus zu verwandeln, der trotz Schmerz und Verzweiflung effektiv und koordiniert handelt.
Massenerschießungen? Völkermord? Umweltkatastrophen? Nicht beängstigend genug? Wann werdet ihr denn endlich Angst bekommen...?“
„Be brave like Ukraine (Sei mutig wie die Ukraine)“. Dieser Slogan ist auf der ganzen Welt bekannt. Und er ist tiefgreifend wahr. Die Ukrainer zeigen sich als eine äußerst mutige und vereinte Nation. Wir kommen zusammen, wir überraschen, wir retten... Doch dieser Mut spielt uns einen bösen Streich. Die Welt hat sich daran gewöhnt. Die Welt ist nicht so mutig geworden wie die Ukraine. Unser Krieg wird zur Routine. Unser Krieg wird zum Alltag, und trotz all des Schreckens hat die Welt verstanden, dass wir es gelernt haben, unsere Emotionen zu zügeln, uns zu engagieren und zusammenzustehen, um zu überleben.
Am 9. Juli berichtete die Schweizer Tageszeitung 20 Minuten über die Angriffe auf Kyjiw. Zwei Fotos, Verweise auf das Innenministerium und den Präsidenten. Der Artikel erschien auf Seite 10, ohne Ankündigung auf der Titelseite. Das Titelbild auf der ersten Seite verdienten sich die Fans von Taylor Swift in Zürich.
Ich mache den Schweizer*innen keinerlei Vorwürfe und sehe das Exemplar dieser gratis ausliegenden Massenzeitung lediglich als Beleg dafür, dass das Leiden der Ukrainerinnen und Ukrainer nicht mehr im Mainstream ist. So wie wir es gelernt haben, unseren Schmerz zu verdrängen und zu handeln, so hat auch die Welt gelernt, schlechte Nachrichten aus der Ukraine an den Rand ihrer Berichterstattung zu drängen. Unser Mut wird zur Norm. Unser Leiden wird zur Norm. Auch unsere Tode. Und je länger die Schrecken in der Ukraine andauern, desto fester wird sich diese Norm etablieren.
Dabei ist es naiv, von einem durchschnittlichen Schweizer oder einer Portugiesin hundertprozentige Empathie und Anteilnahme zu erwarten. Sie sind nicht durch unsere Straßen gegangen, haben keine persönlichen Verbindungen zu unseren zerstörten Gebäuden und sprechen meist nicht die Sprache der Verstorbenen. Für sie ist unser Schmerz ein Schmerz aus einer Fernsehsendung, die man umschalten kann, wenn es langweilig wird.
Wir wissen das und hoffen insgeheim, dass die Welt anstelle von Empathie für uns Angst um sich selbst verspüren wird. „Menschen in anderen Ländern sollten um ihr eigenes Leben fürchten“, denkt ein Ukrainer und sagt: „Dann würden sie ihre Regierungen drängen, uns alle Waffen zu liefern! Dann schlagen wir ordentlich zu! Massenerschießungen? Völkermord? Umweltkatastrophen? Nicht beängstigend genug? Wann werdet ihr denn endlich Angst bekommen...?“
Dieser Kreislauf aus bitteren Fragen und Vorwürfen an die Welt stachelt uns innerlich an. Wir sind stark, weil wir von Hoffnung leben. Wir sind stark, weil wir Ukrainer*innen sind, eine Nation der Freien und Unbezwingbaren. Und jedoch stelle ich mir mit großer Angst vor, was noch in meinem Land geschehen muss, damit auch die Welt wirklich Angst bekommt.
Bei dem Raketenangriff auf das Nationale Spezialisierte Kinderkrankenhaus Ochmatdyt starben unmittelbar zwei Menschen. Während des Angriffs waren 627 kleine Patient*innen im Krankenhaus, von denen mehr als 50 verletzt wurden. 465 Patient*innen, die eine geplante Behandlung benötigten, wurden nach einer Untersuchung vorübergehend entlassen. 94 Kinder wurden zur weiteren Versorgung in andere Krankenhäuser Kyjiws verlegt, acht davon erlitten Verletzungen durch den Angriff. Derzeit werden 68 Patient*innen in den unbeschädigten Teilen des Krankenhauses behandelt.
Das Gebäude der Toxikologie, das unter anderem die Abteilung für chronische und akute Vergiftungen beherbergte und wo Kinder Dialysen erhielten, wurde vollständig zerstört. Im alten Gebäude der Chirurgie sind fast alle Fenster zerbrochen, zwei chirurgische und zwei somatische Abteilungen, die Intensivabteilung und der Operationsblock wurden erheblich beschädigt. Im kürzlich errichteten neuen Gebäude wurden zwölf Abteilungen beschädigt, darunter acht chirurgische, fünf onkologische, zwei Intensivstationen, der Operationsblock, die Radiologie und die Strahlentherapieabteilung. Auch das einzige onkohämatologische Labor des Landes erlitt Schäden.
Stand 9. Juli: insgesamt 31 Tote und 117 Verletzte infolge des Raketenangriffs auf Kyjiw.
Juli 2024