Mehr als Geflüchtete  Ukrainische Rädchen des Wandels in Moldau

Volintiri in der Republik Moldau
Volintiri in der Republik Moldau Foto: © Yulia Surkova

Das moldauische Dorf Volintiri ist nicht nur Zufluchtsort für ukrainische Geflüchtete geworden, sondern auch ein Ort der Chancen und des Widerstands gegen die russische Propaganda. Die Journalistin Yulia Surkova erzählt die Geschichte der Menschen, die dort leben.

In den Nächten, in denen Aljona nicht schlafen kann, geht sie hinaus in den Garten. Sie sitzt im Dunkeln und lauscht den dumpfen Explosionen am Horizont. Es sind russische Raketen, die auf die ukrainische Hafenstadt Odesa zurasen. Auch in ihrem neuen Zuhause im Grünen der moldauischen Provinz, im Dorf Volintiri, kann die 41-jährige Friseurin Aljona aus der Region Mykolajiw kaum vergessen, dass sich ihr Land im Krieg befindet. Volintiri ist eine kleine Bauernsiedlung im Osten der Republik Moldau. Die Grenze zur Ukraine ist keine sieben Kilometer entfernt. An einigen Stellen ist der Empfang des ukrainischen Mobiltelefonnetzes und von ukrainischen Radiosendern möglich. Deshalb war das Dorf das erste, das Geflüchtete aus dem ukrainischen Süden aufnahm.

Aljona war eine von vielen – eine verwirrte, erschöpfte Frau, die fast ohne Gepäck mit ihrer Mutter, ihrem Hund und ihrer Katze aus der Region Mykolajiw gekommen war, um bei Verwandten ihres Mannes ein paar Tage die Bombardierung abzuwarten. Seit diesem Tag sind zwei Jahre vergangen. Während dieser Zeit erlebten die ukrainischen Geflüchteten in den moldauischen Dörfern verschiedene Phasen: von überwältigender Unterstützung über Gleichgültigkeit bis hin zu politischer Konfrontation. Einige kehrten nach Hause zurück, andere zogen weiter in die EU. Einige blieben jedoch und wurden zu Initiator*innen des Wandels, die den provinziellen Siedlungen der Republik Moldau neues Leben einhauchten.
 

Notgepäck und eine Gans im Topf

Eine Schule, ein Kindergarten, drei kleine Läden, eine Kirche, ein Storchennest und etwas mehr als zweitausend Einwohner*innen. In Volintiri arbeiten vor allem die Älteren in der Landwirtschaft. Die Jüngeren sind zum Arbeiten nach Rumänien gegangen. An der ländlichen Lebensweise schien sich seit Jahrzehnten nichts geändert zu haben. Bis der große Krieg in der Ukraine ausbrach. Fragt man den Bürgermeister von Volintiri, Igor Hîncu, wie sich das Dorf in diesen zwei Jahren verändert hat, antwortet er: „Ich habe sein wahres Gesicht gesehen. Manchmal freundlich und großzügig, manchmal abweisend und feindselig.“

Der energische Mann, der die amtierende Präsidentin Maia Sandu und den europäischen Kurs der Republik Moldau unterstützt, befindet sich in seiner zweiten Amtszeit als Bürgermeister und sieht sich mit der pro-russischen Haltung der lokalen Gemeinderäte und einiger Dorfbewohner konfrontiert. „Wir haben die ganze Nacht nicht geschlafen, als die russische Invasion in der Ukraine begann, und am Morgen waren wir schon an der Grenze, um Geflüchtete aufzunehmen. Unser Dorf hat mehr als 300 Ukrainer aufgenommen: Die Menschen blieben in Volintiri, um sich ein oder zwei Tage auszuruhen, dann zogen sie weiter, manche blieben länger“, erinnert sich Igor. In seinem Büro hängt neben der moldauischen Nationalflagge das Bild eines ukrainischen Grenzsoldaten, der ein russisches Kriegsschiff zum Henker jagt.
 
Der Bürgermeister des Dorfes Volintiri Igor Hîncu und seine Frau Inna. Die beiden organisierten die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter im Dorf vom ersten Tag der russischen Invasion in die Ukraine an.

Der Bürgermeister des Dorfes Volintiri Igor Hîncu und seine Frau Inna. Die beiden organisierten die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter im Dorf vom ersten Tag der russischen Invasion in die Ukraine an. | Foto: © Yulia Surkova


Die ersten Kriegsmonate waren ein Schock für die ruhige moldauische Gegend, in der nachts Raketenspuren am Himmel zu sehen waren. Jeder wollte helfen. „Die Menschen brachten Lebensmittel und Kleidung, nahmen Geflüchtete bei sich zu Hause auf und öffneten ihre Türen. Eine Frau kochte eine ganze Gans im Topf und brachte sie den Geflüchteten. Gleichzeitig packten einige Leute ihr Notgepäck, weil sie Angst hatten, dass der Krieg auch auf Moldau übergreifen könnte“, macht Igor keinen Hehl daraus, dass auch er selbst mit seiner Familie darüber diskutiert hatte, nach Rumänien zu gehen, sollte sich die Lage verschlechtern. Doch er blieb, denn jetzt brauchten ihn nicht nur die Einheimischen, sondern auch Dutzende von Ukrainer*innen, die zuhause alles verloren hatten.

Wurzeln

„In der Ukraine hatte ich einen Job, eine Wohnung, Freunde, ich habe niemanden um etwas gebeten, bis Russland uns alles weggenommen hat“, sagt Aljona. Sie fühlt sich auch nach zwei Jahren in Moldau noch nicht zu Hause. „Ich war froh, dass wir in Sicherheit waren. Aber es war ein altes Haus, mit Toilette und Dusche draußen und einem verwahrlosten Garten. Ich hatte keine Arbeit, war entmutigt. Ich fühlte mich, als würde ich in Depressionen versinken“, sagt Aljona mit Tränen in den Augen. Sie umarmt ihren kleinen Yorkshire-Terrier, der mit ihr geflohen ist. Auf die erste Welle der Hilfsbereitschaft folgte eine Phase der Gleichgültigkeit bei den Einheimischen. Etwa 60 Ukrainer*innen hatten bereits eine provisorische Unterkunft gefunden, aber sie hatten keine Zukunftsperspektive und mussten sich irgendwie anpassen.

„Wir stellten fest, dass sich die Menschen nicht zu Hause fühlten und begannen, nach Projekten zu suchen, die den Ukrainern helfen und sie gleichzeitig mit den Einheimischen zusammenbringen könnten“, erinnert sich Bürgermeister Igor Hîncu an den Beginn des Veränderungsprozesses im Dorf. Er und seine Frau Inna, die in der örtlichen Bibliothek arbeitet, begannen, sich bei europäischen Non-Profit-Organisationen und UN-Entwicklungsprogrammen um Fördermittel zu bewerben. Das erste war ein Projekt zur psychologischen Betreuung. Zweimal pro Woche trafen sich Geflüchtete in der Bibliothek von Volintiri mit einem Psychologen, der aus der Hauptstadt Chisinau kam, um ihnen zu helfen.
 
Natalia, die Bibliothekarin des Dorfes Volintiri. Die Bibliothek ist zu einem Treffpunkt für die ukrainischen Geflüchteten im Dorf geworden. Hier treffen sie sich mit einem Psychologen, machen Fitness und knüpfen Kontakte.

Natalia, die Bibliothekarin des Dorfes Volintiri. Die Bibliothek ist zu einem Treffpunkt für die ukrainischen Geflüchteten im Dorf geworden. Hier treffen sie sich mit einem Psychologen, machen Fitness und knüpfen Kontakte. | Foto: © Yulia Surkova


„Der Psychologe riet mir, etwas zu finden, das mich wenigstens ein bisschen glücklich macht. Ich merkte, dass es Gartenarbeit war, und habe mich darauf gestürzt. Das hat mich gerettet“, sagt Aljona, die inmitten des grünen Gartens auf einer Schaukel sitzt. Um sie herum reifen Feigen, Blaubeeren und Kiwis. Pflanzen, die in Moldau traditionell nicht heimisch sind, haben dank der Pflege einer Ukrainerin Wurzeln geschlagen und gedeihen nun. Aljona findet es ironisch, dass sie, die in einem Hochhaus aufgewachsen ist, sich so für die Gartenarbeit begeistert. Es sei, als würde sie mit den Pflanzen neue Wurzeln in der moldauischen Erde schlagen.

„Die Projekte, in die mich Igor und Inna einbezogen hatten, gaben mir einen Schub. Wir hatten Kurse über ökologisches Gärtnern. Ich habe gar nicht gemerkt, wie viel Zeit ich in den Garten gesteckt habe. Ich gehe sogar nachts in den Garten, wenn ich mein Zuhause vermisse und nicht schlafen kann. Jetzt würde es mir nur noch leidtun, hier wegzugehen und alles aufzugeben“, sagt Aljona und schaut sich in dem grünen, duftenden Dickicht um.
 

Das Rädchen

Das erfolgreichste und symbolträchtigste Projekt für das Dorf war die Sanierung von zehn traditionellen moldauischen Häusern, der von der lokalen gemeinnützigen Umweltorganisation Ecovisio finanziell unterstützt wurde. Die Häuser wurden renoviert und für die ukrainischen Familien umgebaut, um ihren Aufenthalt in Volintiri angenehmer zu gestalten. Nach der Abreise der Geflüchteten stehen die nun renovierten Häuser wieder ihren moldauischen Eigentümer*innen zur Verfügung. Ecovisio hat ähnliche Projekte in mehreren anderen moldauischen Dörfern umgesetzt.

„Dies ist ein Projekt, von dem alle profitieren – sowohl das Dorf als auch die Geflüchteten. Wir können von einer Win-Win-Situation sprechen. Schließlich handelt es sich um alte Häuser, die zum Teil zweihundert Jahre alt sind. Dank deutscher und schwedischer Investitionen wurden Bäder und Toiletten eingebaut, Wasserleitungen verlegt, Solarkollektoren für die Warmwasserbereitung installiert und Reparaturen unter Verwendung umweltfreundlicher Materialien durchgeführt“, sagt der Bürgermeister Hîncu. Er fügt hinzu, dass die Eigentümer*innen die Häuser, die nicht von Geflüchteten gebraucht werden, an Touristen vermieten können. In Igors Büro hängt eine große Karte von Volintiri, auf der alle Häuser des Dorfes eingezeichnet sind. Rund 400 davon sind verlassen, mehrere Dutzend bereits zu Ruinen verfallen. Ohne die ukrainischen Geflüchteten und die Projekte, die sie unterstützen, hätten auch diese zehn Häuser das gleiche Schicksal erlitten.

„Das war der Moment, in dem sich die Menschen im Dorf von ihrer schlechten Seite zeigten: Jemand wurde neidisch und sagte: Warum macht man das für die Ukrainer und nicht für uns? Jemand wollte sein Haus sanieren lassen, um es verkaufen zu können“, erinnert sich Igor emotional an die Auseinandersetzungen mit seinen Landsleuten. Doch am Ende waren sich auch die pro-russischen Dorfbewohner*innen einig, dass das Projekt frischen Wind in die Region bringt. Der Bau hat neue Arbeitsplätze geschaffen und den lokalen Geschäften, die Baumaterialien verkaufen, Einnahmen beschert.

„Für uns ist das Leben in diesem Haus wie Urlaub auf dem Land“, sagt die 59-jährige Larysa Cherkasova aus Odesa, die mit ihrem Mann in einem der restaurierten Häuser lebt, und lächelt. Dicke Mauern, altertümliche Fensterläden, schmiedeeiserner Schmuck über der Veranda und nur ein Schlafzimmer – Larysa führt uns in wenigen Minuten durch ihr Haus. In Odesa hat die Frau ihre Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses mit Blick aufs Meer verlassen. „Wir sind Rentner, wir gehen nicht ins Theater oder in Cafés. Während des Krieges hätte sich unser ganzes Leben auf die Wohnung und die Luftangriffe reduziert. Wir saßen nur zu Hause, beobachteten die Raketen und warteten, welche unser Haus treffen würde“, erklärt Larysa, warum sie und ihr Mann in dem moldauischen Dorf geblieben sind. Heute ist sie froh, ein historisches Haus zu haben, das vor kurzem renoviert wurde und mit allen modernen sanitären Einrichtungen ausgestattet ist.
 
Die ukrainischen Geflüchteten Larysa und Andrij aus Odesa. Das Ehepaar hat in Volintiri Zuflucht und Ruhe gefunden. Sie bezeichnen ihr Leben in Moldau als „lang ersehnten Urlaub“.

Die ukrainischen Geflüchteten Larysa und Andrij aus Odesa. Das Ehepaar hat in Volintiri Zuflucht und Ruhe gefunden. Sie bezeichnen ihr Leben in Moldau als „lang ersehnten Urlaub“. | Foto: © Yulia Surkova


Um sich für die Gastfreundschaft zu revanchieren, engagieren Larysa und ihr Mann Andrij sich für die Entwicklung des Dorfes – sie entsorgen Müll, pflanzen Bäume und beteiligen sich an der Gestaltung eines Freizeitparks. Auch Aljona versucht, ein nützlicher Teil der Gemeinschaft und nicht nur eine hilfsbedürftige Geflüchtete zu sein. Sie ist die einzige Friseurin und Maniküre im Dorf. Bevor sie hierher kam, mussten die Menschen für einen Haarschnitt oder eine Kosmetikbehandlung mit dem Bus in die nächste Stadt fahren.

Gemeinsam mit dem Bürgermeister beantragte die Ukrainerin einen internationalen Zuschuss des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, um in dem Dorf ein Existenzgründungszentrum zu eröffnen. Das Zentrum soll den Ukrainer*innen helfen, sich anzupassen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Etwas peinlich ist Aljona ihr Nachname, den sie bei ihrer Heirat angenommen hat. „Boldișor“ (Болдішор) bedeutet auf Rumänisch „eine kleine Schraube“, ein Rädchen also. Sie findet das Wort lustig. Aber für sie hat der Nachname eine große Bedeutung. Denn jetzt ist sie tatsächlich eines der Rädchen, die den Mechanismus der Veränderungen in Gang setzen.

„Ich sehe, dass das Dorf seit der Ankunft der Ukrainer zu neuem Leben erwacht ist. Der Bürgermeister und seine Frau verwenden viele Spenden zum Wohle des Dorfes. Ein Sportplatz und ein Fitnessraum wurden gebaut, die Bibliothek und die Wasserversorgung erneuert, Überwachungskameras und Beleuchtung installiert. Jetzt bauen wir ein Zentrum, in dem ich einen Friseursalon betreiben werde und wo es auch Läden für andere Dienstleistungen wie beispielsweise Massagen geben wird. Das sind alles Arbeitsplätze“, zählt Aljona die Projekte, an denen ukrainische Geflüchtete beteiligt sind, an ihren Fingern ab. Aber es gibt nicht genug Finger für alle.

Nächstes Ziel – Moldau

Einerseits erzählen die Ukrainer*innen von den positiven Veränderungen in den Dörfern der Republik Moldau, die sie selbst angestoßen haben. Andererseits bemerken sie, dass sich die Einstellung ihnen gegenüber in letzter Zeit geändert hat. Und in die moldauische Gastfreundschaft habe sich ein russischer Akzent eingeschlichen. „Manche Leute grüßen uns nicht einmal mehr, schimpfen uns ‚Neuankömmlinge‘. Sie wenden sich ab, wenn wir ihnen begegnen. Ich verstehe, dass das die Leute sind, die Russland unterstützen“, sagt Aljona verbittert über die Feindseligkeiten, denen ihre Familie in den letzten Monaten gelegentlich ausgesetzt war.
 
Am 20. Oktober, dem Tag der Präsidentschaftswahlen, findet in der Republik Moldau ein Volksentscheid über den EU-Beitritt statt. In diesem Sommer ist die pro-russische Lobby im Land also aktiver als je zuvor.

Am 20. Oktober, dem Tag der Präsidentschaftswahlen, findet in der Republik Moldau ein Volksentscheid über den EU-Beitritt statt. In diesem Sommer ist die pro-russische Lobby im Land also aktiver als je zuvor. | Foto: © Yulia Surkova


Igor Hîncu führt die Zunahme solcher Stimmungen auf die Intensivierung der pro-russischen Propaganda zurück. „Die Leute bekommen Nachrichten von Tik Tok, und das ist oft russische Propaganda. Das spaltet die Gesellschaft. Deshalb haben wir viel Arbeit vor uns. Wir müssen die Ukraine und die Ukrainer weiter unterstützen. Und wir müssen unseren Leuten weiter erklären, was Propaganda ist“, meint Igor. Im Herbst, am 20. Oktober, dem Tag der Präsidentschaftswahlen, findet in Moldau ein Volksentscheid über den EU-Beitritt statt. In diesem Sommer ist die pro-russische Lobby im Land also aktiver als je zuvor. Interessanterweise sind sich sowohl die Moldauer*innen, die den proeuropäischen Kurs des Landes unterstützen, als auch diejenigen, die pro-russische Kandidat*innen unterstützen, in einem Punkt einig: Sollte Russland die Ukraine im Krieg besiegen, könnte Moldau das nächste Ziel sein.

„Die Leute hier, die Russland unterstützen, glauben, dass sie wie die Krim besetzt werden – schnell und ruhig“, sagt Aljona, „aber wir wissen, dass die Besetzung blutig sein kann wie in Butscha oder Cherson.“

* Die Autorin bedankt sich bei Isabelle de Pommereau für die Hilfe während der Produktion dieses Artikels.
 

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