An der Front und in den befreiten Gebieten der Ukraine rettet die mobile Klinik Frida Menschenleben. Das Schlimmste für die Ärzte ist es, auf Kinder zu treffen, die nicht mehr in einer kindlichen Märchenwelt leben können, sondern draußen spielen, während Bomben fallen.
Draußen vor den Fenstern liegt das von russischen Raketen zerstörte Isjum. Drinnen verwandelt eine Gruppe Sanitäter gerade eine Halle, die vor dem Krieg als Markthalle diente, in eine improvisierte Krankenstation. Helfer ziehen ein Kabel durch das Fenster zu einem Laptop, um über Starlink eine Internetverbindung aufzubauen. Zwei Allgemeinmediziner teilen sich ein Zimmer. Sie haben Stethoskope und Blutdruckmessgeräte. Das ist alles. In einem anderen Zimmer steht ein EKG-Gerät. Auf den Tischen, an denen früher die Markthändler ihre Waren angeboten haben, stehen Medikamentenkisten, und hier wird auch die Registrierung der Patient*innen durchgeführt. Die ersten Wartenden treten heran und beginnen, die Unterlagen auszufüllen. Die mobile Klinik der israelisch-ukrainischen Organisation Frida ist für sie die einzige Möglichkeit, nach langer Zeit wieder Zugang zu medizinischer Hilfe und Medikamenten zu bekommen.Überleben nur mit Wasser
Ich verstehe Ukrainisch recht gut, kann es aber nicht sprechen. „In diesem Fall haben wir nur eine gemeinsame Sprache für die Kommunikation“, sagt Bogdan Avramenko auf Englisch. Er ist 27 Jahre alt und wurde in Donezk geboren. In einer russischsprachigen Stadt. Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ostukraine im Jahr 2014 ging er weg aus Donezk, studierte Medizin und arbeitete dann als Kardiologe in einem privaten Krankenhaus in Kyjiw. „Letztes Jahr hatten wir nach der russischen Invasion keine Patienten mehr und die Klinik wurde geschlossen. Plötzlich war ich arbeitslos. Da rief mich Vladyslava Romanyuk an, meine ehemalige Kollegin und die Leiterin der mobilen Klinik Frida, und fragte mich, ob ich mich den freiwilligen Ärzten und Ärztinnen anschließen würde, die in die gerade befreite Region Tschernihiw gehen.“ Im Februar war er dann bereits als Freiwilliger bei Frida tätig. Er lebte von seinen Ersparnissen und dem Teilzeitgehalt, das er als Dozent an der Universität bezog. Inzwischen war die Organisation gewachsen und brauchte einen Projektkoordinator. Nach fast einem Jahr erhielt Bogdan endlich seinen ersten Gehaltsscheck.Frida wirbt Ärzt*innen an, die mit einer mobilen Klinik an die Front oder in kürzlich befreite Dörfer reisen, um medizinische Versorgung und Medikamente zu den Menschen zu bringen. Die Krankenhäuser dort sind meist nicht funktionsfähig oder nicht vorhanden, weil sie durch russischen Beschuss zerstört wurden. Das medizinische Personal ist weggegangen und nicht zurückgekehrt. Es gibt keine Busse in die nächstgelegenen Städte, wo die Patient*innen untersucht werden könnten. Die Straßen sind bei den Kämpfen zerstört worden. Selbst wenn es irgendwo noch eine Apotheke gibt, können sich die meisten Menschen Medikamente nicht leisten. Ohne Arbeitsplätze gibt es nämlich auch keine Gehälter.
Die 70-jährige Valentina sitzt vor der behelfsmäßigen Ambulanz und wartet. Neben ihr liegen ihre Krücken. Bei den Erinnerungen an die zurückliegenden zwei Monate kann sie die Tränen nicht zurückhalten, denn während der russischen Besatzung konnte sie den Keller nicht verlassen. „Am Ende hatten wir nichts mehr zu essen, wir haben nur mit Wasser überlebt. Bis heute tun mir der Rücken und die Beine weh. Ich konnte mich da drinnen nicht richtig strecken.“
Sterben in der Heimat
Die Ärzt*innen von Frida sind jeden Werktag mit einer mobilen Klinik unterwegs. Sie richten behelfsmäßige Arztpraxen in Schulen, Gemeindeämtern, Kulturhäusern, in den Räumlichkeiten von Krankenhäusern und Polikliniken ein, sofern diese noch stehen, aber auch in Kellern oder Bunkern, wenn sie in Gebieten sind, wo es wegen des russischen Beschusses zu gefährlich ist, sich über der Erde aufzuhalten. Und sie kommen immer wieder und versorgen so chronisch kranke Menschen regelmäßig mit lebenswichtigen Medikamenten.Hier in Isjum sind es eher ältere Patienten oder Patientinnen, die kommen und über chronische Krankheiten klagen. Ausnahmslos jeder und jede erzählt, dass sie kein Geld für Medikamente haben. „Aber in Bachmut haben wir auch viele Kinder gesehen“, erinnert sich Bogdan. „Ich war sehr oft dort. Beim ersten Mal war ich schockiert. Schon achtjährige Kinder waren wie Erwachsene. Sie dachten wie Erwachsene. Sie hatten keine Angst vor Granaten und Bomben. Sie haben draußen gespielt. In Bachmut, wo es alle zwei Sekunden einen Einschlag gab und wir uns nur mit Helmen dort aufhielten. Sie lebten in Kellern, ohne Strom, Wasser, richtiges Essen. Das mitanzusehen hat mich als Menschen völlig verändert. Und ich weiß zudem auch, dass sie aufgrund dieser Erfahrungen in ihrem zukünftigen Leben große Probleme haben können.“
In Bachmut und anderen Orten in Frontnähe behandelte Bogdan auch schwangere Frauen. Diesen rieten die Ärzte immer, von hier wegzugehen. Die meisten befolgten diesen Rat nicht. Warum? „Einige wollen in ihrem Haus bleiben“, so Bogdan. „Sie haben kein Geld, sie haben nicht die innere Kraft, um wegzugehen.“ Sie haben die Kraft, im zerstörten, beschossenen Bachmut ohne Heizung, Strom und Wasser zu bleiben, aber sie haben nicht die Kraft, von dort wegzugehen? Dieses kaum zu begreifende Paradoxon geht mir irgendwie nicht aus dem Kopf. „Ich sage ihnen: Wenn ihr hier bleibt, könntet ihr schon morgen bei einem Bombenangriff sterben“, erzählt Bogdan weiter. „Sie antworten, dass sie dann wenigstens in ihrer Heimat sterben, und dass sie, wenn sie ans andere Ende der Ukraine ziehen würden, nichts mehr zum Leben haben.“
Einige haben sich an die humanitäre Hilfe gewöhnt. Sie wissen, dass Freiwillige ihnen Lebensmittel, Wasser oder einen Generator bringen. Sie wollen unbedingt irgendwie im Keller überleben. Bogdan ist der Meinung, dass humanitäre Organisationen auf diese Art und Weise manchmal die Menschen auch dazu ermutigen, an gefährlichen Orten zu bleiben und ihr Leben zu riskieren. „In Bachmut habe ich ein neugeborenes Baby untersucht, das im Keller nur im Beisein einer Krankenschwester geboren wurde. Drei Monaten später traf ich diese Familie wieder und wir boten ihnen an, sie wegzubringen und eine Unterkunft für sie zu besorgen. Sie antworteten, dass sie auf die Russen warten“, fährt Bogdan fort, und ich bin total verblüfft, dass sie ihm das so unverblümt sagten. Bogdan lächelt: „Je näher man an der Frontlinie ist, desto offener sind die Menschen.“
Vergewaltigt
In den befreiten Gebieten begegnete Bogdan auch Frauen, die vergewaltigt wurden. Am meisten waren es in Butscha, hunderte von Fällen. Aber er schätzt, dass wahrscheinlich nur jede zehnte aller vergewaltigten Frauen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat. Sie begaben sich auch nicht zu Pin psychologische Behandlung. „Sie kamen zu einem Gynäkologen und wollten Tests auf Infektionskrankheiten wie HIV, Syphilis, Hepatitis. Viele Soldaten haben Syphilis, viele Russen sind HIV-positiv, ein befreundeter Soldat hat mir erzählt, dass niemand einen verwundeten russischen Soldaten ohne Handschuhe anfasst.“Die Gynäkolog*innen von Frida wissen, dass sie in solchen Fällen versuchen müssen, die Frau an eine*n Psycholog*in zu verweisen. Die meisten Patientinnen aus Butscha und Irpin lehnten dies jedoch ab. Aber Frida ist keine ständige Einrichtung, und die Arbeit mit derart traumatisierten Frauen braucht sehr viel Zeit. Manchmal dauert es mehrere Wochen, bis der Arzt oder die Ärztin ihr Vertrauen gewinnen kann und sie sich ihm gegenüber öffnen.
Bei Frida hat man sehr schnell erkannt, dass eine Krankenstation nicht ausreicht. Die Menschen an der Front und in den von den Kämpfen zerstörten Orten brauchen ein Krankenhaus sowie Fachärzt*innen und Spezialist*innen. Deshalb fährt jedes Wochenende ein Team von etwa zwanzig Ärzt*innen an die Front. Das System ist in etwa dasselbe wie bei einer mobilen Arztpraxis: Sie suchen die am besten geeigneten Räumlichkeiten und versuchen, sie zumindest so steril zu machen, dass dort kleinere chirurgische Eingriffe vorgenommen werden können. „Es ist nicht steril“, stellt Bogdan fest. „So würden wir das normalerweise überhaupt nicht machen.“ Aber die Situation in der Ukraine ist nicht normal. Frida verfügt bereits über einen gynäkologischen Krankenwagen, und aus Finnland haben die Ärzte einen speziellen gynäkologischen Bus erhalten, der innen einer winzigen Krankenstation ähnelt, komplett mit Betten, einem Generator und einem Wassertank. Sobald die notwendigen Umbauten abgeschlossen sind, wird er in die Dörfer an der Front gebracht und es werden gynäkologische Operationen darin durchgeführt.
Warten und Beten
An diesem Sonntag wurde die mobile Klinik Frida in einer Schule im Dorf Mychajlo-Lukaschewe in der Oblast Saporischschja eingerichtet. Die Frontlinie ist derzeit „sogar“ 30 bis 40 Kilometer entfernt. Und hier leben viele Vertriebene, die die Einheimischen in ihren Häusern aufgenommen haben, aber es gibt keinen Arzt. Im Dorf wohnt nur ein Sanitäter, also ein Krankenpfleger mit Sekundarschulabschluss. Das mobile Krankenhaus mit 16 Fachärzt*innen wird daher von den Einheimischen dringend benötigt.„Wir wussten, dass es ein solches Projekt gibt, und wir haben gebetet, dass sie auch hierher kommen würden. Denn meine kleine Tochter sieht sehr schlecht. Aber wir haben kein Geld für eine Brille“, sagt die Mutter einer kleinen Patientin. Die Augenärztin von Frida hat auch Brillengestelle dabei. Zwar sind das keine Kinderbrillen, aber einige passen dem Mädchen schon irgendwie und das ist immerhin besser, als wenn sie weiterhin schlecht sehen würde.
Katya Mikhailuk, eine junge Kinderärztin aus Kyjiw und Leiterin dieser medizinischen Mission, erklärt mir, dass die meisten Patientinnen oder Patienten gerade Augenuntersuchungen, endokrinologische Untersuchungen wegen Diabetes und zudem Neurologen, Gastroenterologen und Kardiologen benötigen. „Viele kommen mit Herzrasen und Brustschmerzen. Sie denken, sie hätten Probleme mit dem Herz. In Wirklichkeit sind das aber Stresserscheinungen aufgrund des Krieges und der Alarme bei Luftangriffen“, sagt sie. „Andere Binnenvertriebene leiden unter Depressionen, weil sie ihre Heimat verloren haben, und das ist sehr schmerzhaft für sie.“
Natürlich können hier keine größeren Operationen durchgeführt werden, für die eine Anästhesie erforderlich ist. Die Ärzte sind jedoch bereit, Patientinnen oder Patienten kostenlos zu behandeln, wenn sie zu ihnen nach Kyjiw oder an andere Orte kommen, an denen sie arbeiten. Frida bleibt auch in Kontakt mit Menschen, die Medikamente gegen chronische Erkrankungen benötigen und kein Geld haben, um sich diese kaufen zu können. Deshalb versuchen die Ärzt*innen immer, ihnen rechtzeitig Nachschub zukommen zu lassen.
Allein zurückgelassen
Katya arbeitet seit mehr als einem Jahr mit Frida zusammen. Unter der Woche arbeitet sie in Kyjiw und jedes zweite Wochenende packt sie ihre Sachen und fährt mit auf eine Mission. Freitags geht es los und am Montagmorgen kommt sie wieder zurück. Ihr erster Einsatz war in Mukatschewo, in den Wohnheimen für Geflüchtete aus der Oblast Donezk. Dort erwarten sie Kinder, die den Krieg erlebt haben und aus ihren Häusern fliehen mussten. „Diese Kinder und Erwachsenen haben ihr Zuhause, ihre Freunde, einfach alles, was ihr Leben ausgemacht hat, verloren. Das hat sie extrem belastet. Unsere Ärzte und Ärztinnen lernen gerade, posttraumatische Belastungsstörungen zu erkennen“, erklärt Katya.Als ich sie frage, was sie am schwierigsten findet, kann sie ihre Tränen kaum zurückhalten. „Dass diese Kinder keine Kindheit haben, dass sie Ängste durchleben. Dass sie nicht einfach mal raus oder zur Schule gehen können. Es schmerzt mich unheimlich, ein Kind zu sehen, dessen Eltern beschlossen haben, irgendwo in der Nähe der Front zu bleiben, und diese Kinder dort keine Freunde oder eine glückliche Kindheit haben. Aber auch wenn ich alte Menschen sehe, die das ganze Leben in ihrem Haus verbracht haben und nun nicht mehr von dort weggehen können. Ihre Kinder und Enkelkinder haben sie weggeschickt und sind nun dort völlig allein. Es ist furchtbar, sie in solchen Umständen zu sehen.“ Katya erinnert sich an eine achtjährige Patientin aus der Oblast Sumy. „Sie kam zu mir und erzählte, dass ihr Herz weh tut, wenn geschossen wird. Ich gab ihren Eltern meine Nummer und wir blieben in Kontakt. Ein paar Monate später fuhr ich mit Frida und ich wieder dorthin, wir haben uns getroffen und sie umarmte mich, war so glücklich, mich zu sehen. Leider ging es ihr nicht besser. Ihr Herz tat immer noch weh, wenn geschossen wird oder die Sirenen losheulen.“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
September 2024