Wie sich Geflüchtete in Deutschland integrieren, denen Griechenland keine Chance gegeben hat: Geschichten von Menschen aus Afghanistan, dem Irak und der Türkei, die in Europa eine bessere Zukunft suchen, die neue Europäer sein wollen und bereit sind, sich dafür ins Zeug zu legen.
Nach weniger als zwei Jahren in Deutschland spricht sie so fließend Deutsch, dass sie oft von Leuten gefragt wird, aus welchem Bundesland sie kommt. Sie ist eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse. Auf unangenehme Kommentare zu ihrer Person weiß sie immer eine Antwort. Sie findet die richtigen Worte und logischen Argumente, um andere davon zu überzeugen, dass sie sich irren. „Bis auf den Mitschüler mit den Nazi-Tattoos, der sich natürlich ärgert, dass eine Ausländerin im Hidschab sogar in den technischen Fächern besser ist als er“, lächelt Parwana Amiri, 21, als sie mich in die Bibliothek führt. Als sie und ihre Familie noch im Wohnheim wohnten, wo sich mehrere Familien eine Küche, ein Bad und eine Toilette teilen, verbrachte sie viel Zeit hier. Denn es gibt einen Computer mit Internetzugang und vor allem hatte sie hier Ruhe zum Lernen. „Im Wohnheim waren immer viele Leute und Kinder“, sagt sie.Das erste halbe Jahr in Deutschland war für die junge Afghanin auch aus einem anderen Grund sehr schwierig. Als sie noch in Griechenland war, setzte sie sich unermüdlich für die Rechte von Menschen auf der Flucht ein und machte auf die enorme Tragödie aufmerksam, die sich dort ereignete. Sie war sehr reif für ihr jugendliches Alter und wurde deshalb auch von wesentlich älteren und erfahreneren Menschen in ihrer Umgebung gehört und respektiert. Es gelang ihr, mit den Behörden zu verhandeln und vor Versammlungen zu sprechen, wobei sie immer die richtigen Worte fand, um die Herzen der Fremden zu öffnen. Sie glaubte fest daran, dass sie durch ihr Schreiben, durch ihre veröffentlichten Gedichte und Geschichten etwas verändern kann.
Doch in Deutschland waren die Schlachten bereits geschlagen, glaubt Parwana. Hier sei es nicht mehr nötig, Aktionen zu planen, zu Protesten aufzurufen und immer wieder das einzufordern, worauf man ein Recht hat – im Gegensatz zu der Situation, die Parwana in Griechenland im Lager erlebt hatte. Parwana fühlte sich verloren. Klar konnte sie über ihre Migrationserfahrungen sprechen, aber das schien ihr nicht genug zu sein. Sie war fleißig, lernte die deutsche Sprache, machte sich mit dem neuen Land vertraut und baute sich ein Netzwerk von Kontakten auf. Noch immer vermisst sie die Umgebung des griechischen Flüchtlingslagers, wo sie sich voller Herzblut für die Ideen einsetzte, die sie für richtig hielt. Ja, Griechenland, das Land, in dem sie so viel Ärger, Missverständnisse und Unmenschlichkeit erlebt hat... Irgendwann musste sie sogar zu einer Psychologin, die ihr half, den Sinn des Lebens für sich neu zu finden.
Briefe aus Moria
In ihrer Heimat Afghanistan war Parwana glücklich. Sie ging auf eine gute Schule, wollte Ärztin werden und hatte viele Freunde und Freundinnen. Vor fünf Jahren musste sie ihr geliebtes Herat verlassen. Ihr Vater war Geschäftsmann und die Taliban drohten, ihn und seine gesamte Familie umzubringen, weil er sich weigerte, mit den Extremisten zusammenzuarbeiten. Als die Lage sich zuspitzte, entschied er sich für die Flucht. Im sechsten Versuch schafften sie es, von der Türkei über das Meer nach Griechenland zu gelangen. Die 16-jährige Parwana hatte sich noch nicht einmal von der schrecklichen Meeresüberquerung in einem Schlauchboot erholt, als auch schon die harte Realität des Geflüchtetenlagers Moria auf der Insel Lesbos auf sie wartete. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft waren die Kapazitäten des Lagers bereits um ein Vielfaches überschritten und die Neuankömmlinge mussten kleine Zelte in einem nahe gelegenen Olivenhain aufschlagen. Auch Parwanas siebenköpfige Familie bekam ein solches Zelt. Überall lag Müll herum. In den kälteren Monaten war alles voller Schlamm. Lange Schlangen beim Essen, an Toilette und Dusche... Eines Tages fanden die Frauen in der Dusche eine Kamera. Gewalt und Messerstechereien waren an der Tagesordnung. Vor allem nachts war es für Frauen und Mädchen gefährlich, das Zelt zu verlassen und die Väter hielten manchmal rund um die Uhr Wache, um ihre Familien zu schützen. Einige nannten das Camp „Klein-Afghanistan“. Weder die Polizei noch die Lagerleitung haben jemals für Ordnung gesorgt.Unter diesen unmenschlichen Bedingungen begann Parwana zu schreiben. „Weil ich glaube, dass Worte wirklich etwas bewirken können“, sagt sie. Es war kalt, draußen prasselte der Regen auf das Zelt, um sie herum die nächtlichen Geräusche des Lagers: Da zog sie sich den Schlafsack über den Kopf und schrieb im Schein der Taschenlampe. Später lernte sie Leute von Nichtregierungsorganisationen kennen, die sie ermutigten, ihre Gedanken online und in den Medien zu verbreiten, und so wurde das Projekt Briefe aus Moria geboren. Darin beschrieb sie die Lebensbedingungen in dem überfüllten Lager, in dem es keine Möglichkeit gibt, sich zu bilden oder überhaupt in Würde zu leben. „Niemand hat es verdient, unter solch unmenschlichen Bedingungen zu leben. Ich habe meine Geschichte und die Geschichten anderer aufgeschrieben. Diese Geschichten haben es nie aus dem Lager hinaus geschafft, sie wurden nie in Zeitungen veröffentlicht. Doch allein dadurch, dass ich sie erzählte, konnte ich eine Veränderung bewirken. Du kannst dich in jedem Augenblick deines Lebens selbst verlieren, aber wenn andere dich brauchen, musst du trotzdem stark bleiben. Ich blieb stark, weil ich glaubte, dass ich inmitten dieser bedeutungslosen Situation etwas Sinnvolles tat. Aber ich konnte die Geschichten nicht unter meinem eigenen Namen veröffentlichen. Die Leute der Nichtregierungsorganisationen rieten mir, meinen richtigen Namen nicht zu nennen, da das für meine ganze Familie bei der Prüfung unseres Asylantrags von Nachteil hätte sein können. Denn die griechischen Behörden mochten keine Kritik. Und so unterzeichnete ich meine Texte mit Ein Migrantenmädchen. Aber ich fand das unfair. Das sind meine Worte. Ich sage sie, nicht irgendeine unbekannte Person.“
Schule aus Paletten
Parwanas Familie wurde dann zum Festland gebracht, in das Lager Ritsona. Ein besserer Ort. Dort wohnten die Menschen in Containern, es gab Bäume und einen Spielplatz für die Kinder. In einigen der Container waren kleine Läden oder auch ein Barbier und ein Friseur. Nur war das Camp mitten im Nirgendwo. Zur Bushaltestelle für den Bus nach Athen waren es 25 Minuten zu Fuß. Allerdings hielt der Bus oft an der behelfsmäßigen Haltestelle nicht an. Oder er war voll. Oder der Fahrer mochte einfach keine Geflüchteten.Die Lagerleitung teilte den Bewohnern mit, dass die Schulen wegen Corona geschlossen seien. Und dabei hatte Parwana so sehr auf Bildung gehofft! Wieder und wieder fragte sie nach, wann denn der Lockdown zu Ende sei. Aber selbst als die Schulen wieder geöffnet wurden, durften die Kinder aus dem Lager nicht hingehen. „Man sagte uns, dass es zu weit sei, dass die Schule voll sei, dass es keinen Bus für uns gebe. Jedes Mal hatten sie eine andere Ausrede“, erzählt Parwana, die das Problem dann auf ihre eigene Art und Weise löste: Sie unterrichtete einfach selbst. Nach und nach kamen andere Freiwillige hinzu und so konnte an fünf Tagen die Woche von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends Unterricht stattfinden. Der behelfsmäßige Unterricht wurde zunächst im Freien auf Bänken oder auf dem Spielplatz abgehalten. Aber Parwana bombardierte die Lagerleitung unablässig mit Bitten, bis man ihr erlaubte, einen einfachen Klassenraum aus Paletten und Plastikplanen zu bauen und einzurichten. Dann konnte der Unterricht unter angenehmeren Bedingungen fortgesetzt werden.
„Ich hatte deshalb jeden Tag richtig viel zu tun. Es ist nur so, dass ein Mädchen in diesem Alter nicht neben der Tafel und vor den Schüler*innen stehen sollte, sondern vor der Tafel und vor dem Lehrer“, sagte mir die damals 17-jährige Teenagerin, als ich sie im Camp Ritsona besuchte. Sie schenkte mir zwei ihrer Gedichtbände auf Englisch und Griechisch, die dank der NGOs veröffentlicht werden konnten. Auch mit diesen Büchern kämpfte Parwana gegen Unterdrückung und für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in den Geflüchtetenlagern. Außerdem organisierte sie Proteste, machte auf die ungerechte Behandlung von Asylbewerber*innen durch die Behörden aufmerksam und auch darauf, was für Tragödien sich an den Grenzen der „Festung Europa“ abspielen, welche Verletzungen dort den Menschen zugefügt werden, die wegen kriegerischer Auseinandersetzungen ihre Heimat verlassen mussten.
Einige Monate nach unserem Treffen erhielt Parwana ein Stipendium für die Universität Warschau. Da war sie keine 18 Jahre alt und hatte noch nicht einmal einen Schulabschluss. Was sie hatte, waren ihre Intelligenz und ihre Fähigkeiten. Natürlich konnte sie nicht an einer polnischen Universität studieren; sie hatte keine Papiere und wartete mit ihren Eltern und Geschwister in einem Lager auf ein Asylverfahren. „Damals war ich unvorstellbar traurig.“
Live-Stream von der Grenze
Parwanas Familie kam dann im Jahr 2022 in Deutschland an. So wie auch viele andere Familien auf der Flucht, die ich vor vier Jahren in Griechenland oder Bosnien kennengelernt habe, und mit denen ich in Kontakt geblieben bin. Sie wussten, dass Deutschland sie besser behandeln würde. Nicht in Form von großzügigen Sozialleistungen, sondern mit der Chance auf ein schnelles Verwaltungsverfahren, Bildung und Integration.Ich habe diese Menschen in Griechenland unter schrecklichen Bedingungen kennengelernt. Maryam schlief mit ihrem neugeborenen Baby wochenlang auf dem Bürgersteig auf dem Viktoriaplatz in Athen und dort es gab Dutzende Familien wie ihre. Nachdem ihnen in Griechenland Asyl gewährt wurde, durften sie nicht in einem Lager bleiben und verloren ihr Recht auf finanzielle Unterstützung. Sie mussten sich selbst versorgen. Obwohl sie keinen Integrationsprozess durchliefen, hatten sie nicht einmal die Möglichkeit, einen Griechischkurs zu besuchen. Zeinab, im achten Monat schwanger und mit einer zweijährigen Tochter auf dem Arm, wurde von den Behörden aus der Wohnung geworfen, die sie mit einer anderen afghanischen Familie teilte. Die Begründung lautete, sie müsse ihre Asylpapiere erneut abgeben. Fatima durfte mit ihren drei Kindern in einem Flüchtlingslager bleiben, hatte aber keinen Anspruch auf Verpflegung oder finanzielle Unterstützung. Das Lager war auf der Halbinsel Peloponnes, mitten im Nirgendwo, und dass sie im nächstgelegenen Dorf einen Job finden würde, obwohl sie sich gleichzeitig um ihre Söhne im Alter von drei und fünf Jahren kümmern musste und kein Griechisch sprach, war höchst unrealistisch.
Nahid Akbari aus Afghanistan war eine der freiwilligen Lehrerinnen in der von Parwana im Lager Ritsona gegründeten Schule. Sie war damals erst 14 Jahre alt und unterrichtete Kinder, Gleichaltrige, Erwachsene und auch Senioren. In einer Unterrichtsstunde sprach sie über die Millenniums-Entwicklungsziele der UN. Ihre Eltern beschlossen aufgrund der unerträglichen Bedingungen in Griechenland und der Perspektivlosigkeit, das Lager zu verlassen. Sie verbrachten dann acht Monate in den Wäldern an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien und versuchten wiederholt, illegal die Grenze zu überqueren. Nach dem Dubliner Übereinkommen hätten die kroatischen und später die slowenischen, italienischen und deutschen Behörden sie nach Griechenland zurückschicken können, da dies das erste Land war, in das sie in der Europäische Union eingereist und in dem ihre Fingerabdrücke gespeichert waren. Doch in Griechenland hatten sie zuvor zweieinhalb Jahre lang vergeblich auf ihre erste Asylanhörung gewartet... In einem behelfsmäßigen Lager im Wald, in dem Nahid keine Möglichkeit hatte, sich zu waschen, schlief sie in einem Zelt, verrichtete ihre Notdurft zwischen den Bäumen und aß über dem Feuer gekochtes Essen, nahm Videos auf, schickte Live-Streams und beteiligte sich an Online-Diskussionen über die Situation von Menschen auf der Flucht und das Aufwachsen auf der Straße.
Zu Fuß durch Europa
Flüchtlinge wie Nahid sind zu Fuß durch Europa unterwegs. Sie dürfen sich nicht von der Polizei erwischen lassen. In vielen Ländern ist es ihnen verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, und wenn jemand sie in seinem Auto mitnimmt, kann diese Person wegen Menschenschmuggels angeklagt werden. Die Reise von Nahid und ihrer Familie führte sie von Griechenland über Albanien, Montenegro und Bosnien. Dort saßen sie an der Grenze zu Kroatien fest. Bei Pushbacks erlebten sie Gewalt durch kroatische Polizisten. „Wir haben selten einen netten Polizisten getroffen. Nett in dem Sinne, dass sie uns nicht geschlagen, uns nicht unsere Sachen weggenommen oder unser Telefon kaputt gemacht haben. Die meiste Zeit haben sie sich schrecklich verhalten. Es war schlimm, wie sie mit uns umgegangen sind.“Die Geflüchtetenlager in Bosnien sind weit von der Grenze entfernt. Sie sind überfüllt und ähneln einem Gefängnis. „Im Wald an der Grenze ist es zwar hart, aber man ist wenigstens frei. Man kann hingehen, wo man will, und kochen, was man will.“ Manchmal erlaubte die Polizei Freiwilligen, Essen in die Lager zu bringen. Ein anderes Mal durften die Menschen auf der Flucht nicht einmal einen Laden betreten. „Aber die Leute in Bosnien waren meistens nett. Nur die Kroaten eben leider nicht. Dort musste man die Dörfer meiden. Wir hielten uns stattdessen in den Wäldern auf. Wenn uns jemand gesehen hätte, hätte er wahrscheinlich die Polizei gerufen. Dann sind die fünf Tage strapaziöser Marsch durch die Berge nach einer 15-minütigen Fahrt im Polizeiauto zurück nach Bosnien völlig vergeblich gewesen. Und es ist richtig schwer, es nach Misserfolgen immer wieder zu versuchen.“
Beim 36. Mal haben sie es geschafft. Danach folgten Slowenien, Italien, die Schweiz und Deutschland. Lange Wochen mühsamen Wanderns, Müdigkeit, Entbehrungen, Mangel an Essen, Schlaf, Wärme, Sicherheit. Ständige Angst. Vor der Polizei, davor, entdeckt zu werden. Davor, zurückgebracht zu werden und alles noch einmal durchmachen zu müssen. Nahids ältester Bruder wurde bei einem Pushback von der Familie getrennt. Er schaffte es allein, nach Deutschland zu gelangen. Ihr jüngster Bruder war damals erst fünf Jahre alt.
Rechtlos und unerwünscht
Nahid traf ich später in der sächsischen Stadt Riesa wieder, in der Nähe von Leipzig. Ich fragte sie, was das Schlimmste war. Ich erwartete, dass sie über den Winter in den Bergen, Polizeigewalt, anstrengende Wanderungen und Angst sprechen würde. Aber sie sagte etwas ganz anderes. „In Afghanistan haben wir über Europa gehört, dass dort alle Menschen gleich sind. Ich habe Europa immer als einen geografischen Raum der Freiheit und Demokratie gesehen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geachtet werden. Aber ich habe festgestellt, dass das nicht stimmt. Unterwegs mussten wir uns verstecken und waren Menschen zweiter Klasse. Rechtlos und unerwünscht.“ Zu diesem Zeitpunkt konnte die begabte Nahid bereits zur Schule gehen – im ersten Jahr besuchte sie ausschließlich den Deutschkurs, um im Herbst nach bestandener Prüfung in die zehnte Klasse aufgenommen zu werden. In Afghanistan hatte sie nur drei Jahre an der Grundschule abgeschlossen. Englisch hat sie in zehn Monaten in einem von einer italienischen NGO organisierten Kurs in einem Geflüchtetenlager auf der Insel Samos gelernt.In Berlin treffe ich Hadi Gulshan auf einen schnellen Kaffee. Er ist ebenfalls Afghane, aber im Iran geboren. Es gibt so viele von ihnen, dass es im Englischen eine extra Bezeichnung für sie gibt: Afranians, Afran*innen. Ihre Eltern oder Großeltern flohen in mehreren Wellen vor Extremisten und Kriegen in den Iran. Afghan*innen dürfen im Iran jedoch nicht die Staatsbürgerschaft erwerben und nur in bestimmten Berufen arbeiten. Obwohl sie im Iran geboren wurden, haben sie dort keine Rechte. Sie sind deshalb zwar Afghan*innen, haben ihr Land aber noch nie besucht.
Auch Hadi hat zunächst in Griechenland gelebt. Vor zwei Jahren ist er nach Deutschland gekommen. Ich bitte ihn, seine Möglichkeiten hier und dort zu vergleichen. Er lacht. „Wie kann ich etwas Unvergleichbares vergleichen? In Griechenland hatten wir keine Möglichkeiten. Keine Chancen, keine Ausbildung, keine Arbeit, keine Integration. Hier in Deutschland stehen mir alle Möglichkeiten offen. Und wer gar nichts tun will, wird vom System regelrecht dazu gedrängt. Zuerst lernt man die Sprache. Das ist Pflicht. Dann macht man seinen Abschluss. Meistens eine eher praktische Schule mit einem Berufsabschluss und einer dualen Ausbildung, so dass man neben der Schule auch immer schon praktisch in seinem Beruf tätig ist. Ich möchte in der Radiologie arbeiten, es fehlt hier an medizinischem Personal. Ich habe eine Unterkunft in einem Wohnheim, es ist zwar nicht ideal, das Bad und die Küche teilen sich alle auf dem Flur, aber das ist aushaltbar. Und es gibt so viel Arbeit hier in Berlin, dass man sich sein eigenes Geld verdienen kann.“ Im Iran studierte Hadi Ingenieurwissenschaften, bis er als ethnischer Afghane von der Universität verwiesen wurde. Hier arbeitet er neben der Schule noch bei Amazon. Aber zum ersten Mal hat er das Gefühl, sein Leben selbst in der Hand zu haben.
Meine Kinder sind Deutsche
Zeinab Nourzehi, die Afghanin, die mit ihrem Mann Pejvak, der kleinen Selena und im achten Schwangerschaftsmonat auf der Straße in Athen gelandet war, nachdem die Behörden ihnen Asyl gewährt und sie aus ihrer Wohnung des Förderprogramms rausgeworfen hatten, begrüßt mich mit einem breiten Lächeln in ihrem Haus in der Stadt Prüm in Nordrhein-Westfalen. Sie hat das ganze Erdgeschoss für ihre vierköpfige Familie. Der kleine Robin wurde schließlich in einer deutschen Entbindungsklinik geboren. Pejvak besucht einen Deutschkurs. Selena geht in den Kindergarten. Sie hat ein Prinzessinnenkleid an und zeigt mir ihr Lieblingsspielzeug, ein schaukelndes Einhorn. Robin liegt auf dem Teppich, lacht und fuchtelt mit den Armen.Zeinab ist eine Kämpferin. Als sie noch in der Wiege lag, wurde sie mit ihrem Cousin Mohamed verlobt. Doch dann schloss er sich den Taliban an, und als er sie holen kam, konnten sich weder sie noch ihre Eltern eine Heirat vorstellen. Aber Mohamed drohte. Deshalb wurde Zeinab eines frühen Morgens mit ihrem Cousin Pejvak verheiratet und man organisierte eine überstürzte Ausreise in den Iran. Dann von dort in die Türkei. Dort fand Pejvak schnell Arbeit und es ging ihnen gut. Nur wären sie dort für immer illegale Einwanderer*innen geblieben. In der Türkei Asyl gewährt zu bekommen, ist für Afghanen*innen sehr kompliziert. Außerdem bemerkte Zeinab, dass sie schwanger war. Auch ihre Eltern waren in der Zwischenzeit vor Mohammed und den Taliban in den Iran geflohen und Zeinabs Vater warnte sie, dass die Extremisten sie auch in der Türkei finden würden. Also entschieden sie sich für die riskante Überfahrt über das Meer. Sie überlebten. Doch für Zeinab mit ihrem dicken Bauch begann ein weiterer Albtraum: in einem kleinen Zweipersonenzelt im Schlamm des Flüchtlingslagers Moria, mit ungenießbarem Essen, das die schwangere Zeinab nicht einmal riechen konnte.
Ein Malkurs war ihre Rettung. Dreimal pro Woche ging Zeinab in die Räumlichkeiten einer NGO, wo sie neue Fertigkeiten erlernte auch nebenbei auch noch eine dringend benötigte Dosis Empathie und menschliche Akzeptanz bekam. Und ein gutes Frühstück, von dem sich ihr der Magen nicht umdrehte. Seitdem malt sie und verkauft ihre Bilder im Internet. So konnte sie sich in verschiedenen Phasen ihres Lebens über Wasser halten, Geld für Dokumente verdienen, für einen gefälschten Pass für sich und Selena, mit dem sie nach Deutschland zu fliegen hoffte – und den der erste Polizist bei der Kontrolle zerriss. Sie und Pejvak hatten sich immer nur ein normales Leben gewünscht; ich erinnere mich an den Nachnamen Nourzehi, der auf der Klingel der Gemeinschaftsunterkunft stand, und an das Bett, das sie mir einmal im Wohnzimmer anboten, das von zwei Familien gemeinsam genutzt wurde.
Jetzt, wo sie ihre Kinder in einem fremden Land aufzieht, steht Zeinab vor neuen Problemen. „Aber stell dir vor, in der Kita gibt es eine Erzieherin, die ich während der Sprechstunden alles fragen kann und die mich berät", freut sich Zeinab. Ich frage, warum sie nicht stattdessen ihre Mutter anruft. „Weil meine Kinder Deutsche sind. Ich werde sie nicht wie Afghanen erziehen.“
Ohne Heimatland
Auch Masouma Hussaini habe ich in Athen auf dem Viktoriaplatz kennengelernt. Ihre jüngere Schwester Zeinab sitzt nach einer rätselhaften Kinderkrankheit im Rollstuhl und ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ihre Familie es mit ihr über das Meer geschafft hat... „Es war schrecklich, das Schrecklichste, was ich je erlebt habe, ich kann manchmal immer noch nicht glauben, dass wir es überlebt haben“, sagte Masouma oft. In Athen behauptete sie überall, sie sei 17, um in die Fußballmannschaft zu kommen, um Englisch-, Foto- und Videokurse besuchen zu dürfen, sie machte alles Mögliche. Sie war wie lebendiges Quecksilber. Dann traf ich sie in Eisenhüttenstadt an der deutsch-polnischen Grenze wieder. Das war im Herbst 2022, ihre Familie war zwei Wochen zuvor angekommen und wohnte in einem Container. Ich durfte natürlich nicht ins Lager. Masouma kam heraus und wir gingen spazieren und dann zu McDonald`s.„Ich vermisse Griechenland“, beklagte sie sich bei mir. Sie hatte immer noch ihre großen Träume und den Wunsch in ihrem Herzen, dass die Familie in Deutschland bessere Ärzte für Zeinab finden würde. „Aber ich will wieder Fußball spielen, Videos machen, Leute treffen. Hier sind wir von allem abgeschnitten. Das Lager ist voller Jungs aus der Ukraine und ich schäme mich, mit ihnen Fußball zu spielen.“
Schnitt. Berlin, Juni 2024: Wir sind vor einem Einkaufszentrum verabredet. Masouma kommt mit ihrer älteren Schwester Fereshte. Ohne das muslimische Kopftuch. Schon in Eisenhüttenstadt hatte sie mir erzählt, dass sie es nicht mehr tragen will, und es sich auf dem Kopf ganz nach hinten geschoben. Aber ihr Vater wollte nicht, dass sie ohne den Hidschab herumläuft. „Jetzt habe ich einfach zu Hause verkündet, dass ich das Kopftuch nicht mehr tragen werde. Mein Vater hat ein paar Tage lang nicht mehr mit mir geredet. Aber dann hat er es akzeptiert“, berichtet mir Masouma mit einem Lächeln.
Sie ist von einem Mädchen zu einer jungen Frau herangewachsen. Nun ist sie wirklich 17 und ihre Augen leuchten. Sie geht auf eine berufsbildende Schule und spielt Fußball in einer deutschen Frauenmannschaft in einer Regionalliga. Sie sagt, sie hat sich dort gut eingefügt, obwohl fast alle Spielerinnen zehn bis 20 Jahre älter sind als sie. Nebenbei arbeitet sie an den Wochenenden als Kassiererin in einem Supermarkt. „Aber ich vermisse Griechenland immer noch“, gibt sie zu. „Die Wärme, das Meer, die belebten Straßen, überall viele unkomplizierte Menschen... Vielleicht fahre ich irgendwann mal in den Urlaub dorthin.“ Und was ist mit Afghanistan? Auch Masouma ist „Afranin“, war aber noch nie in Afghanistan. Nur ihre Schwester ist dort, denn kurz bevor die Taliban die Macht übernahmen, ist sie mit ihrem Mann und den Kindern aus dem Iran dorthin gezogen, weil er dort einen guten Job gefunden hat. „Meine Schwester ist zu Hause eingesperrt und weint jeden Tag. Sie ist schlimm depressiv. Ihr Leben ist vorbei. Die Taliban haben ihr alles verboten. Und sie hat Angst um die Kinder. Afghanistan ist uns weggenommen worden. Die Extremisten der Taliban haben uns einfach unser Land weggenommen und haben es zu einem Ort gemacht, an dem wir nie leben könnten. Dabei war Afghanistan unsere einzige richtige Heimat. Wir haben als Afghanen keinen anderen Ort auf der ganzen Welt. Die einzige Möglichkeit für uns ist, ein Stück Afghanistan in uns selbst zu schaffen und es überallhin zu tragen.“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
September 2024