Die Republik Moldau zwischen EU & Russland  Stop and go: Chișinăus holpriger (Fahrrad)Weg nach Europa

 Kreuzung in Chisinau: Ein neuer Radweg bahnt sich langsam seinen Weg.
Kreuzung in Chisinau: Ein neuer Radweg bahnt sich langsam seinen Weg. Foto: © Ramin Mazur

Nach einem denkbar knappen Referendum und der Wiederwahl der pro-europäischen Präsidentin Maia Sandu hält die Republik Moldau einen wackeligen Kurs Richtung EU. Wie holprig der Weg nach Europa im Alltag sein kann, zeigt sich an einem neuen Fahrradweg in Chișinău.

„Was für ein Mortal Kombat ist das denn?“, denkt Nicu Morozov, als er plötzlich auf dem kalten Asphalt liegt. Sein Schienbein ragt grotesk aus dem Bein, während Autos ungerührt an ihm vorbeiziehen. Eben noch war er auf zwei Rädern unterwegs, jetzt liegt sein Fahrrad zertrümmert neben ihm. Ein aggressiver Taxifahrer, wie so viele im chronisch gefährlichen Verkehr von Chișinău, hat den 32-jährige Grafikdesigner einfach über den Haufen gefahren. 

Das war 2021. Und wieder einmal fragte sich Nicu, ob er in einem Land leben könne, in dem selbst Fahrradfahren zum Überlebenskampf wird. Nach sechs Monaten auf Krücken, einem Jahr Reha und zwei Operationen stieg Nicu dennoch wieder aufs Rad. Seine Freunde, längst nach „Europa“ ausgewandert, schüttelten nur den Kopf: „Wechsle das Land, die Menschen zuhause ändern sich eh nicht“, schrieb ihm ein Freund aus Amsterdam.
 
Nicu verlässt sein Wohnhaus und macht sich bereit für seine Reise durch die Stadt.

Nicu verlässt sein Wohnhaus und macht sich bereit für seine Reise durch die Stadt. | Foto: © Ramin Mazur


Doch Nicu blieb. Sein täglicher Kampf auf zwei Rädern ist längst mehr als ein persönlicher. Er steht für den Wunsch einer jungen Generation nach Veränderung, Sicherheit und einem neuen Weg: Richtung Europa. Doch in der Republik Moldau gleicht Fortschritt einem holprigen, oft brutalen Stop-and-Go – genau wie das Radfahren durch die Straßen von Chișinău.

Der knappe Ausgang des Referendums im Oktober, das das Ziel des EU-Beitritts in der Verfassung verankerte, zeigte dies erneut deutlich. Einerseits ein Meilenstein, andererseits ein Spiegel der Widerstände – begleitet von russischen Manipulationsversuchen. Er zeigt das Bild einer gespaltenen Gesellschaft, die sich oft selbst im Weg steht.

Revolution auf zwei Spuren

„Das ist ein historischer Moment“, sagt Ana Popa, 31, mit einem breiten Lächeln. Doch sie spricht nicht über das Referendum, sondern zeigt auf den zweispurigen, mit schwarz-gelben Schutzpollern abgegrenzten Fahrradweg – den ersten seiner Art in der Republik Moldau. Hinter ihr rauschen Autos vorbei, während ein Radfahrer gemächlich den neuen Weg entlangrollt.
 
In einer Stadt, in der Radfahrer*innen bislang kaum Platz hatten, ist das eine kleine Revolution. „Wir haben bis aufs Blut dafür gekämpft, neben einer Spur für Autos auch eine für Radfahrer zu schaffen“, erzählt Popa, die mit der Aktivist*innengruppe Alianța Biciclete Chișinău regelmäßig Aktionen wie die „Critical Mass“ organisiert und sich unermüdlich für sichere Radwege und eine bessere Infrastruktur einsetzt.

Für Popa ist der neue Fahrradweg mehr als nur ein Stück Asphalt. Er symbolisiert, dass selbst in Chișinău eine nachhaltige Zukunft möglich ist – wenn genug Menschen bereit sind, dafür zu kämpfen.

Ein unwahrscheinlicher Erfolg

Denn die ursprünglichen Pläne der Stadtverwaltung, großspurig als „Grüner Korridor“ angekündigt, hatten wenig mit Nachhaltigkeit zu tun. Statt Platz für Radfahrer und Fußgänger zu schaffen, sollte die einspurige Straße auf zwei Autospuren erweitert werden. „Wir waren schockiert“, erinnert sich Popa. „Was soll daran bitteschön grün sein?“

Die Antwort der Aktivist*innen ließ nicht lange auf sich warten: Mit Protesten, Petitionen und einer lautstarken Teilnahme an einer öffentlichen Anhörung – einem Ritual, das lange Zeit als reine Formsache galt – machten sie ihrem Unmut Luft. 

Doch dann geschah das Unerwartete: Die Stadtverwaltung zog die ursprünglichen Pläne zurück und setze tatsächlich die Forderung der Aktivist*innen um. Statt einer zusätzlichen Autospur kam der moderne, zweispurige Fahrradweg.

„Wir waren total überrascht, dass sie unsere Version des Projekts akzeptiert haben“, sagt Popa. „Ich habe keine Ahnung, woher diese plötzliche Offenheit kam. War es der Druck der Geldgeber? Oder vielleicht ein Wunder?!“
 

Pragmatisch europäisch

Roman Gunyaviy, 44, Berater im Kulturministerium, sieht die Rolle der europäischen Geldgeber als entscheidenden Hebel. „Die Finanzierung durch die Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung bot eine einzigartige Gelegenheit“, erklärt er.

Ob die Stadtverwaltung gezielt ein moderneres Bild zeichnen wollte, um bei den europäischen Geldgebern zu punkten – und die jungen Fahrradaktivist*innen mit ihren oft aus der EU mitgebrachten Ideen da perfekt ins Konzept passten? Gunyaviy lässt die Antwort offen, lächelt aber vielsagend.

Auch für ihn symbolisiert der Fahrradweg mehr als ein gewöhnliches Infrastrukturprojekt. „Die EU drängt immer stärker darauf, lokale Anliegen ernst zu nehmen.“ Öffentliche Konsultationen, die vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wären, seien inzwischen Standard.

Doch Gunyaviy warnt vor zu hohen Erwartungen. „Die europäische Integration ist eine enorme Chance, aber der Wandel muss von uns selbst kommen. Wir können nicht darauf warten, dass die EU oder die Regierung uns rettet.“

Eine neue Generation in den Startlöchern 

Eine von denen, die selbst den Wandel ankurbeln, ist Anetta Dabija. „Ich hatte nie vor, eine politische Karriere zu starten“, sagt die 34-jährige Expertin für kulturelles Erbe und nachhaltige Stadtentwicklung während sie auf einer Holzbank vor der Nationalbibliothek sitzt. Doch dann wurde die führende Vertreterin der NGO Save Chișinău 2023 überraschend von der Regierungspartei angefragt, als parteilose Abgeordnete in den Stadtrat einzuziehen. Und sie hat ja gesagt. 

Dabei habe auch eine Studienreise für moldauische und rumänische Architekt*innen und Aktivist*innen vor einigen Jahren nach Berlin eine Rolle gespielt, erzählt Dabija. Dort habe ein Stadtentwicklungsbeamter ihr einen entscheidenden Rat gegeben: Wer etwas verändern wolle, müsse in die Politik gehen. Zurück in Moldau wurde ihr klar, wie selten man wirklich zu den Entscheidungsträgern durchdringen könne. „Da dachte ich mir: Dann mache ich es eben selbst.“

Hinter ihr wacht die Statue des rumänischen Dichters Vasile Alecsandri, als lausche auch er dem Gespräch. Der Literat, der sich im 19. Jahrhundert der Sammlung rumänischer Volkslieder und der Stärkung kultureller Identität verschrieben hatte, scheint mit seiner Bronzebüste symbolisch über Dabijas Einsatz für Chișinăus historisches Erbe zu wachen. Doch auch Alecsandri war mehr als ein Literat: Als Revolutionär und Außenminister setzte er sich aktiv für politischen Wandel ein.
 
Beginn des neuen Radwegs an einer der Hauptverkehrsstraßen der Hauptstadt.

Beginn des neuen Radwegs an einer der Hauptverkehrsstraßen der Hauptstadt. | Foto: © Ramin Mazur


„Wenn wir über Stadtentwicklung sprechen, ist es wichtig, dieselben Ziele zu verfolgen wie europäische Städte“, sagt Dabija. „Fahrradinfrastruktur, grüne Räume, die Renovierung statt Abriss alter Gebäude – all das gehört dazu. Eine Stadt muss ein Ort sein, an dem man leben will und kann.“

Doch genau das fehle Chișinău, erklärt sie. „Diese Stadt wurde in der Sowjetzeit für Autos gebaut, nicht für Menschen. In der Ukraine ist es genauso. Wir haben oft dieselben Probleme.“

Für Dabija ist der Wandel längst überfällig – und entscheidend für Moldaus Weg nach Europa. „Man kann diese Integration nicht ohne eine Veränderung der Lebensweise erreichen. Das beginnt in den Städten, in denen wir leben.“ Doch die lokalen Verwaltungen, so ihre Kritik, verstünden oft nicht, wie dieser Paradigmenwechsel umzusetzen sei.

Vollgas und Vollbremsung

Das gilt wohl auch für Bürgermeister Ion Ceban und die Verantwortlichen im Rathaus, die die Bauarbeiten für die neue Hauptstraße samt Fahrradweg planten – der eigentlich nur zehn Meter von Dabija und der Statue vor der Nationalbibliothek entfernt vorbeiführen sollte. Eigentlich.

Denn hier kommt der Fortschritt auf zwei Spuren plötzlich ins Stocken: Zwar sind die westlichen und östlichen Abschnitte der vier Kilometer langen Straße fertiggestellt, doch mitten im Zentrum endet der Weg abrupt – blockiert von Pflastersteinen aus dem 19. Jahrhundert, die während der Bauarbeiten entdeckt wurden.
 
Das Nationalmuseum der Schönen Künste und die Stelle, an der der Radweg auf den Bauschutt trifft, wo das alte Kopfsteinpflaster freigelegt wurde.

Das Nationalmuseum der Schönen Künste und die Stelle, an der der Radweg auf den Bauschutt trifft, wo das alte Kopfsteinpflaster freigelegt wurde. | Foto: © Ramin Mazur


Radfahrer wie Nicu, die den neuen Fahrradweg zunächst euphorisch gefeiert hatten, müssen für gut 200 Meter auf alte Gewohnheiten zurückgreifen: Sie kämpfen sich durch einen Parcours aus Schlaglöchern, Kinderwägen und Passanten oder steigen gleich ganz ab, bevor sie endlich die Fortsetzung des Radwegs erreichen.

Kritiker*innen wie Dabija und Gunyaviy werfen der Stadtverwaltung vor, Denkmalschutzgutachten nicht eingeholt zu haben, um schnell Fortschritte vorzuweisen – und politisch zu punkten.

Die Kreuzung, an der die Bauarbeiten seit über einem Jahr ruhen, könnte kaum symbolträchtiger sein: Hier treffen die Puschkin-Straße, benannt nach dem russischen Dichter und Symbol imperialistischer Kultur, und die Straße des 31. August 1989 aufeinander – ein Datum, das an die Einführung des Rumänischen als Amtssprache erinnert.

Ein Riss in der Mitte

Für Pavel Brăila, international renommierter Künstler aus Chișinău, ist dieser Riss mehr als ein baulicher Makel. „Moldau war immer auf der Suche“, sagt er. „Wir haben diese wunderschöne grüne Linie, ein Zeichen von Fortschritt – und plötzlich, mitten auf der Strecke, ein Riss. Wie konnte das passieren?“

Seit über zwei Jahrzehnten beschäftigt sich der 1971 geborene Brăila mit den Identitätsfragen seines Landes, das seiner Meinung nach stets zwischen Ost und West hin- und hergerissen war. 

Schon 2002 thematisierte er in seinem Film Shoes for Europe den mühsamen Akt der „Umspurung“ zwischen diesen beiden Welten. Der Film dokumentiert, wie Züge an der Grenze zwischen Moldau und Rumänien stundenlang umgerüstet werden müssen, um weiter nach Westen zu fahren, weil die sowjetische Spurweite nicht mit den westeuropäischen Gleisen kompatibel ist.
 
„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion suchten viele Moldauer Arbeit und ein besseres Leben – oft in Russland, weil Europa damals unerreichbar schien“, erklärt Brăila. 

Der Weg in den Westen war oft mühsam und viele Moldauer*innen fanden sich anschließend in ihren Zielländern in prekären oder ausbeuterischen, teils illegalen Verhältnissen wieder. Erst in den letzten Jahren habe sich Europa allmählich geöffnet, doch die alten Bindungen zu Russland sind nach wie vor stark.

„Moldau ist gespalten“, sagt Brăila. „Auch wenn die aktuelle Regierung einen europäischen Kurs verfolgt, steht das Land immer noch unter russischem Einfluss.“

Der Wunsch nach einem Ende der Geschichte

„Jeder Pflasterstein auf dieser Straße symbolisiert einen Konflikt“, sagt Mihaela Cebotari, 37, und blickt genervt auf die Baustelle. „Aber Geschichte interessiert mich nicht. Ich habe Kinder. Was zählt, ist das Hier und Jetzt.“

Cebotari, Gründerin eines IT-Startups, das Kindern das Programmieren beibringt, gehört zu einer Generation, die das ewige Tauziehen zwischen Vergangenheit und Zukunft satt hat. Statt sich in historischen Debatten zu verlieren, konzentriert sie sich darauf, die nächste Generation mit den Fähigkeiten auszustatten, die sie braucht, um in Moldau zu bleiben – und nicht wie so viele vor ihnen das Land zu verlassen.

Noch vor dem EU-Referendum im Oktober sagte Cebotari: „Wenn die Pro-Russen gewinnen, wird Auswandern eine sehr reale Option. Aber wenn die EU gewinnt, fühlt es sich an wie die erste echte Chance für unsere Zukunft.“

Und der Fahrradweg? „Bis der fertig ist, sind wir längst in der EU“, sagt sie und lacht herzlich.

Einmal Beton drüber und fertig?


Was wird nun aus der unvollendeten Baustelle im Herzen Chișinăus? Das wohl meistdiskutierte Projekt der Stadt erhitzt weiterhin die Gemüter. Der Plan des Bürgermeisters: Alles zubetonieren und den Abschnitt für Autos freigeben. Für Anetta Dabija sowie viele Aktivist*innen und Urbanist*innen ist das jedoch ein absolutes No-Go. Sie fordern stattdessen eine weitere „Revolution“: eine autofreie Zone mit Begrünung.

Seit fast zwei Jahren schieben sich die Stadtverwaltung und das Kulturministerium gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Noch immer ist ungeklärt, wer für die Restaurierung des historischen Abschnitts verantwortlich ist – und wer die Kosten tragen soll.

Der Kampf um den richtigen Weg wird also noch lange weitergehen. Er spiegelt Moldaus größeren Konflikt wider: den schwierigen Balanceakt zwischen post-sowjetischem „Pragmatismus“ und dem mühsamen Wandel hin zu einer nachhaltigen – europäischen? – Zukunft.
 
Nicu auf dem Weg ins Büro, in der Nähe der Kreuzung, an der er vor vier Jahren umgefahren wurde.

Nicu auf dem Weg ins Büro, in der Nähe der Kreuzung, an der er vor vier Jahren umgefahren wurde. | Foto: © Ramin Mazur


Bis dahin tritt Nicu Morozov unbeirrt weiter in die Pedale. Im März wurde er erneut von einem Auto angefahren. Diesmal kam er mit ein paar Kratzern davon, auch sein Fahrrad blieb heil. Der Fahrer bot ihm zehn Euro an, um die Sache zu regeln. Nicu lachte ihn nur aus, schwang sich wieder aufs Rad und fuhr weiter.

Mittlerweile trägt er immer einen Helm und eine leuchtend gelbe Weste. „Der Helm hätte mir damals auch nicht geholfen“, sagt er trocken. „Aber er gibt mir ein sichereres Gefühl.“ Nach einer kurzen Pause fügt er noch hinzu: „Auch wenn es hier nie wirklich sicher ist.“

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