Frieden in der Ukraine  Die Ukraine will Frieden über alles, doch es gibt ein Aber

„We want to live here!“ – Juli 2022: Kriegsschäden in Borodjanka, Oblast Kyjiw.
„We want to live here!“ – Juli 2022: Kriegsschäden in Borodjanka, Oblast Kyjiw. Foto: © Peggy Lohse

Die Ukraine ist auf das Ende der heißen Phase des Krieges vorbereitet und wünscht sich den Frieden mehr als jedes andere Land der Welt. So heißt es in offiziellen Verlautbarungen aus Kyjiw. Aber nicht um den Preis von Souveränität und Sicherheit. Das müsse die demokratische Welt verstehen. Halyna Ostapovets über die Bedingungen für einen gerechten Frieden.

Die Ukraine will den diplomatischen Weg zur Lösung des Konflikts gehen, sich mit Putin an einen Tisch setzen, was bereits ein Kompromiss ist, und neben Kyjiw sollen auch die USA und Europa an den Verhandlungen teilnehmen. Gleichzeitig werde der ukrainische Staat seine Interessen schützen. Dies erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit dem britischen Journalisten Piers Morgan am 4. Februar 2025.

In seinen bisherigen Interviews, Erklärungen, Reden und Beiträgen in den sozialen Medien hat Selenskyj immer wieder auf ein gerechtes Ende des Krieges, einen dauerhaften Frieden und echte Sicherheitsgarantien gedrängt, die eine Wiederholung von Putins Krieg verhindern sollen. Und diese Position wird in der Ukraine von der Mehrheit geteilt – von den Militärs an der Front über die Zivilbevölkerung bis hin zu Politiker*innen der verschiedenen Lager.

Die Menschen in der Ukraine wollen wirklich Frieden. Seit drei Jahren wünschen sie sich in ihren Neujahrs- und Geburtstagsgrüßen einen friedlichen Himmel und ein Ende des Krieges. Ein Krieg dieses Ausmaßes, der tägliche Tod von Erwachsenen und Kindern durch Beschuss, Drohnen- und Raketenangriffe rund um die Uhr und die ständige Angst haben die Gesellschaft erschöpft.

„Der Krieg findet auf unserem Territorium statt, und es sind die Ukraine und ihre Bürger, die die größten direkten und indirekten Verluste erleiden“, sagt Mykola Bieleskow. Er ist leitender Berater in der Abteilung für Militärpolitik des Nationalen Instituts für Strategische Studien und leitender Analyst der bekannten ukrainischen Wohltätigkeitsstiftung Come Back Alive. Es ist also in erster Linie die Ukraine, die an einer Einigung interessiert ist. Aber nicht auf Kosten ihrer Interessen und ihrer Sicherheit. Und das ist die Kernbotschaft. Die Ukraine hat aus den bitteren Erfahrungen der langjährigen Konfrontation mit Russland gelernt und will nicht, dass sich die Katastrophen von 2014 und 2015 oder vom 24. Februar 2022 wiederholen.
 
Mykola Bieleskow

Mykola Bieleskow | Foto: © privat


„Die Ukraine braucht einen Frieden, der ihre Sicherheit, ihr Funktionieren und ihre Entwicklung sowie die Abschreckung vor möglichen neuen Aggressionen der Russischen Föderation garantiert. Und diesen Frieden hat die Ukraine mit ihren Opfern und ihrem Beitrag zur Sicherheit in Europa und der Welt verdient“, ist der Analyst überzeugt.

Laut Bieleskow würde eine politische Lösung, die nicht nachhaltig neue russische Aggressionen verhindert, die weitere Zerstörung der Ukraine bedeuten. Und es ist nur logisch, dass der Staat zu einer solchen Entwicklung nicht bereit ist. Zudem ist das Land bereits traumatisiert durch die negativen Erfahrungen mit internationalen Abkommen seit Mitte der 1990er Jahre, die auf Kosten der nationalen Interessen und der Sicherheit des Landes geschlossen wurden. Keines dieser Abkommen hat die russische Aggression verhindert.
Die Forderung nach einem Abkommen ohne Garantien für dessen Nachhaltigkeit und Sicherheit ist ein weiterer Versuch, sich auf Kosten der Ukraine ein Pseudo-Gefühl von Normalität zu verschaffen. Dies geschah bereits 2014 und 2015, als die Ukraine das Minsker Abkommen mit Russland unterzeichnete. Das ist reiner Zynismus, und natürlich ist die Ukraine dagegen und wird die Dinge beim Namen nennen.“
Mykola Bieleskow | Leitender Berater in der Abteilung für Militärpolitik des Nationalen Instituts für Strategische Studien
„Das gilt insbesondere für die Minsker Abkommen, die die Ursachen der russischen Aggression nicht beseitigten und keine Garantie dafür boten, dass Russland nicht noch weiter gehen würde. Nun wird der Ukraine angeboten, erneut auf die gleiche Harke zu treten, wenn von Vereinbarungen die Rede ist, die keine Garantie gegen eine neue, ausgedehnte und viel größere Aggression bieten. Warum also sollte die Ukraine ihre früheren Fehler wiederholen und anderen Ländern auf Kosten ihrer Bevölkerung, ihres Territoriums, ihrer Sicherheit und ihrer Souveränität ein Gefühl der Pseudonormalität erkaufen?“, fragt sich der Analyst.

Mit anderen Worten, so Bieleskow, wie lange sind westliche Politiker*innen bereit, die Ukraine der russischen Aggression zu opfern, um den Mangel an strategischer Vision und Politik gegenüber Moskau zu kompensieren?

„Es ist sehr einfach, Lösungen zu fordern, die nicht auf Kosten der Sicherheit des eigenen Landes und seiner Bürger gehen. Und selbst wenn sie scheitern, haben sie keine negativen Auswirkungen auf andere Länder. Daher ist die Forderung nach einem Abkommen ohne Garantien für dessen Nachhaltigkeit und Sicherheit ein weiterer Versuch, sich auf Kosten der Ukraine ein Pseudo-Gefühl von Normalität zu verschaffen. Dies geschah bereits 2014 und 2015, als die Ukraine das Minsker Abkommen mit Russland unterzeichnete. Das ist reiner Zynismus, und natürlich ist die Ukraine dagegen und wird die Dinge beim Namen nennen“, so Bieleskow abschließend.

Frieden um jeden Preis: Was ist der Kern der rechtsextremen Position?

Der ukrainische Analyst verweist auf eine Reihe von Äußerungen rechtsextremer Politiker in Deutschland, Ungarn, der Slowakei, Österreich und Frankreich. Diese tun sich häufig mit öffentlichen Appellen hervor wie „wenn wir die Militärhilfe für die Ukraine einstellen, wird der Frieden viel schneller einkehren“. Solche Äußerungen kommen vor allem von Vertreter*innen der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD), dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seinem slowakischen Amtskollegen Robert Fico. Die beiden letztgenannten sind übrigens die einzigen EU-Staats- und Regierungschefs, die mit Putin nicht nur telefonieren, sondern ihm auch offizielle Besuche abstatten.

Orbán hat wiederholt erklärt, dass die Einstellung der Militärhilfe für die Ukraine notwendig sei, um „den Frieden näher zu bringen“. Damit wiederholt er Putins Position. Auch er ist überzeugt, dass der Krieg schnell genug vorbei sein wird, wenn Kyjiw keine Militärhilfe aus dem Westen erhält.

Es liegt auf der Hand, dass eine militärisch schwache Ukraine nicht die Kraft haben wird, dem Ansturm von Putins Aggression zu widerstehen, und dann würde der russische Führer in der Tat schnell seine Ziele in diesem Krieg erreichen. Und das ist die vollständige Besetzung der Ukraine und eine direkte Bedrohung der NATO-Grenzen.

„An Putins Plänen wird sich nichts ändern, Russland wird nicht anders sein als heute. Weder die russischen Politiker*innen noch ihre Truppen werden die Ukraine freiwillig verlassen, es sei denn, sie werden dazu gezwungen. Sonst werden sie nur versuchen, noch weiter vorzurücken und noch mehr Ukrainer*innen zu töten. Und selbst wenn wir ihnen für einen vorübergehenden Scheinfrieden etwas Territorium überlassen, wird Russland nach einer Weile zurückkommen und noch mehr erobern“, sagt Mychajlo Podoljak, Berater im ukrainischen Präsidialamt.

„Russland wird niemals aufhören, und sobald Sie sagen, dass wir dazu bereit sind, wird Moskau den Grad des Krieges erhöhen. Die Russen werden sagen: ‚Oh, wir wollen noch ein anderes Problem lösen. Zum Beispiel, Odesa...‘ Die Russen wollen, dass wir gar nichts mehr haben, womit wir uns verteidigen können. Ist das wirklich ein faires und gerechtes Ende des Krieges? Deshalb bleibt uns allen nichts anderes übrig, als Russland mit Gewalt und durch die Anwendung des Völkerrechts zu einem gerechten Frieden zu zwingen“, versichert Podoljak.

„Putin ist ein Diktator, wie es ihn seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat.“

Davon versuchen ukrainische Politiker*innen ihre westlichen Amtskolleg*innen auf allen internationalen Plattformen und in persönlichen Gesprächen zu überzeugen. Wenn Putin jetzt nicht gestoppt werde, werde er nicht aufhören, sondern noch weiter gehen, sagen sie. Das Beispiel der Diktatoren des Zweiten Weltkriegs illustriert seinen Appetit. Im Übrigen warnen die Geheimdienste mehrerer Länder, darunter auch Deutschlands, davor, dass Russland bis 2028/2030 in der Lage sein wird, die NATO-Staaten direkt zu konfrontieren und generell eine direkte militärische Bedrohung für Deutschland selbst darzustellen. Und das ist nur noch 3 bis 5 Jahre entfernt.

Der ehemalige Außenminister Dmytro Kuleba meint, die Politiker*innen der Europäischen Union sollten sich nicht scheuen, den Wähler*innen die Wahrheit zu sagen. Sie sollten nicht glauben, dass der Krieg ihre Städte verschont. Das sagte er kürzlich in einem Interview mit France24. „Der größte Fehler, den die Menschen heute machen, ist zu glauben, dass sie nicht betroffen sein werden. Sie glauben, dass nur die Ukraine leidet und dass Putin es nie wagen würde, europäische Städte zu zerstören. Aber wenn er in der Ukraine gewinnt, glauben Sie mir, wird er es tun. Das ist eine brutale Realität, über die die Politiker offen sprechen müssen.“

Deshalb kann nur eine militärisch und wirtschaftlich starke Ukraine Putin die Stirn bieten und damit die NATO und die europäischen Länder schützen und ein Schutzschild für Demokratie und Sicherheit auf dem europäischen Kontinent sein. Und das bedeutet nicht, dass es einen Frieden unter irgendwelchen Bedingungen oder mit Zugeständnissen der Ukraine geben darf, nur um den Krieg zu beenden. Sonst wird es in ein paar Jahren wieder einen großen Krieg geben, und dann wird die militärische Unterstützung des Westens allein nicht mehr ausreichen. Dann wird ganz Europa kämpfen müssen.

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