Ausbildung ukrainischer Soldat*innen in Deutschland  Im Funkturm

Im Funkturm Illustration: © Tetiana Kostyk

Zehntausende ukrainische Soldat*innen werden – unter anderem in Deutschland – aus- und weitergebildet. Unser Autor Artur Weigandt war hautnah dabei. Als Übersetzer verbrachte er 2023 ein halbes Jahr auf einem Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Was er dort erlebte, war nichts für schwache Gemüter.

Schießen einstellen. Abbrechen, Abbrechen. Unfall. Unfall.“

Die Worte durchdringen mein Funkgerät im Kommandoposten, gefolgt von einem Schrei, der sich anhört, als würde jemand im Innern des Panzers verzweifelt um sein Leben rufen. Mir wird schlecht.

An den Fenstern des Kommandopostens stehen deutsche Soldaten, die die Arbeit der Ukrainer mit scharfen Blicken überwachen. Sie halten ihre Ferngläser hoch, wie Schiedsrichter beurteilen sie jeden einzelnen Schuss. „Panzerfront zerstört!“, brüllen sie durch die Stille des Raumes, ihre Stimmen von einer Mischung aus Entschlossenheit und Aufruhr gefärbt. „Infanterie, Schuss!“, hallt es weiter.

„Was ist denn jetzt schon wieder mit diesen Männern los?“

Im Jahr 2023 habe ich für sechs Monate zwischen ukrainischen und deutschen Soldaten im Rahmen der europäischen Ausbildungsmission am Panzer Leopard 1 übersetzt. Brigade für Brigade begleitet: Männern mit meiner russischen Sprache Brücken geschlagen. An einem meiner ersten Tage unterstützte ich die Bundeswehr bei den Geschützübungen im Funkturm.

Der deutsche Hauptmann zieht seine Augenbrauen hoch und wirft mir einen fragenden Blick zu: „Was ist denn jetzt schon wieder mit diesen Männern los? Haben sie wieder Probleme beim Laden der Kanone?“ Ich umklammere den Hörer des Funkgeräts fest und wiederhole mir in Gedanken immer wieder: „Bleib ruhig. Bleib ruhig.“ Tief atme ich ein und erkläre dann mit ruhiger Stimme: „Es hat sich ein Unfall ereignet. Wir müssen die Übung abbrechen.“

Aus dem Kommandoturm heraus sehe ich, wie zwei von drei Panzern ihre Ziele angreifen. Lastkraftwagen, Infanterie und feindliche Panzer werden von Geschossen und Maschinengewehrfeuer zerpflückt, als wäre es ein Videospiel. Die Bundeswehrsoldaten im Turm verteilen wie beim Eurovision Song Contest Punkte für jedes abgeschossene Ziel. Am Ende gibt es jeweils eine Gesamtbewertung des Hauptmanns. Ukraine: 10 Punkte.

Doch ein Panzer rast rückwärts mit voller Geschwindigkeit davon, wirbelt Staub hinter sich auf. Als er schließlich in Position kommt, kraxelt ein Soldat mühsam aus dem Turm des Panzers. Der Hauptmann wendet sich mir wieder zu: „Geben Sie ihnen über Funk Bescheid, dass wir eine kurze Pause einlegen.“ Ich nicke gehorsam und folge seinem Befehl: „Panzer Alpha, Bravo, Beta. Position 1 einnehmen. Wir unterbrechen die Übung. Sicherheit herstellen.“ Aus dem Fenster sehe ich, wie ein Mann taumelt, torkelt und schließlich vom Panzer in den staubigen Boden fällt. „Können Sie nachsehen, ob es dem Soldaten gut geht?”, fragt mich der Hauptmann. Ich nicke wieder, schnappe mir ein Funkgerät und renne vom Kommandoturm zum Soldaten runter.

Kannst du Blut sehen, Artur?“

Während ich die wenigen Treppenstufen hinunter gehe, um nach den Soldaten zu schauen, dringen Explosionen von allen Seiten an meine Ohren. Nicht weit entfernt in anderen Abschnitten des Übungsgeländes werden weitere Panzer auf ihre Ziele anvisiert und abgefeuert. Mit jedem krachenden Schuss zieht sich etwas in meinem Inneren zusammen, und ich bekomme Gänsehaut. Ich erreiche den Panzer, aus dem der Soldat gestürzt ist. Er liegt von Staub und Schmutz bedeckt am Boden. Seine Hände sind blutverschmiert, und ein scharfer Geruch von verbranntem Metall hängt in der Luft. „Was ist passiert?“, frage ich.

Der Soldat windet sich vor Schmerz, als er versucht, aufzustehen. Sein Gesicht ist verzerrt, und er hält seine blutenden Hände hoch. „Meine Finger“, keucht er, seine Worte kaum verständlich. Ich trete näher und sehe, dass zwei seiner Finger abgetrennt sind, andere nur noch durch Haut und Sehnen verbunden. Mein Magen verkrampft sich beim Anblick. „Ich wollte die Kanone laden“, schluchzt der Soldat. „Ich habe das Geschoss nicht richtig eingesetzt, und dann hat der Verschluss mir die Finger abgetrennt.“

Von der Seite stößt ein Soldat dazu: „Kannst du Blut sehen, Artur?“ Ich halte inne und nicke dann. „So viel ich eben sehen kann.“ Noch nie habe ich so viel Blut gesehen. Rückblickend war alles wie in einem Fiebertraum: sehr schnell, abrupt. Schüsse, Explosionen, Schreie nach den Sanitätern. Aus allen Richtungen strömen Soldaten hinzu. „Artur, übersetze! Jetzt.“, ordnet einer der deutschen Soldaten an.

„Wie geht es dir?“, frage ich ihn.

„Schaut auf meine Finger. So geht es mir“, antwortet er. Ich übersetze. Die Soldaten nicken.

„Wo sind deine Finger?“, übersetze ich weiter. Der Soldat richtet sich auf, setzt sich in den Schneidersitz und spuckt auf den Boden: „Im Panzer.“ Einer der deutschen Soldaten blickt einen Kameraden an: „Geh in den Panzer mit einem Kühlbeutel und sammle seine Finger auf!“

Der beauftragte Soldat zögert nicht lange. Er greift nach einem Kühlbeutel aus dem Sanitäter-Rucksack und macht sich auf den Weg zum Panzer. Die Umgebung um uns herum scheint stiller zu werden, während sich alle Augen auf den Verletzten richten. Einige Soldaten flüstern miteinander, andere schauen stumm zu, wie der Soldat die Blutung der abgetrennten Finger notdürftig zu stillen versucht.

Zeit bedeutet Überleben

Nach 10, vielleicht auch 15 oder 20 Minuten trifft ein Krankenwagen ein und fährt sogleich wieder davon – mit dem Verwundeten und seinen Fingern. Der Hauptmann kommt von Funkturm auf mich zu. „Artur, du weißt, wie wichtig diese Übung ist. Wir können uns keine Unterbrechungen leisten, auch wenn so etwas passiert. Verstanden?“

„Ja, Herr Hauptmann,“ antworte ich und richte mich auf.

„Wir müssen weitermachen,“ fährt der Hauptmann fort. „Das nächste Manöver beginnt in zehn Minuten. Stelle sicher, dass alle bereit sind.“

Ich nicke und mache mich auf den Weg zu den anderen Soldaten, die in kleinen Gruppen verstreut stehen. Einige werfen mir fragende Blicke zu, andere sind bereits damit beschäftigt, ihre Ausrüstung zu überprüfen. Die Anspannung in der Luft ist greifbar.

„Los, Leute,“ rufe ich, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Wir setzen die Übung fort. Bereitet euch vor!“

Langsam kommt Bewegung in die Reihen, und die Soldaten machen sich bereit für das nächste Manöver. Während ich zuschaue, wie sie sich sammeln und ihre Positionen einnehmen, denke ich an den verletzten Soldaten und hoffe, dass er seine Finger zurückerhält. Doch für den Moment gibt es keine Zeit für Zweifel oder Ablenkungen. Die Übung geht weiter.

Mit einem letzten Blick in die Richtung, in die der Krankenwagen verschwunden ist, wende ich mich ab und konzentriere mich auf das Kommende. Die Vorbereitung auf einen Krieg wartet nicht. Zeit bedeutet Überleben.

An den Fenstern des Kommandopostens stehen wieder die deutsche Soldaten, die die Arbeit der Ukrainer mit scharfen Blicken überwachen. Sie halten ihre Ferngläser hoch, wie Schiedsrichter beurteilen sie jeden einzelnen Schuss. „LKW zerstört!“, brüllen sie durch die Stille des Raumes, ihre Stimmen von einer Mischung aus Entschlossenheit und Aufruhr gefärbt. „Infanterie, Schuss!“, hallt es weiter. Es riecht nach Kaffee und Normalität. Ein deutscher Soldat auf mich zu und klopft mir fast beiläufig auf die Schulter: „Unfälle gehören dazu.“

Ausbildung ukrainischer Soldat*innen in Deutschland

EUMAM UA (European Union Military Assistance Mission Ukraine) ist die erste Ausbildungsmission auf europäischem Boden. Die insgesamt 24 europäischen Teilnehmernationen planen, bis Ende 2024 rund 60.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten aus- und weiterzubilden. In Deutschland wurden allein in 2023 etwa 10.000 Soldatinnen und Soldaten der ukrainischen Streitkräfte aus- und weitergebildet.

Die Ausbildung ist einsatzorientiert gestaltet und auf wesentliche Inhalte fokussiert, um in möglichst kurzer Zeit kriegstaugliche Kenntnisse und Befähigungen zu vermitteln. Denn die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten können in der Regel nur kurze Zeit von ihrem Auftrag in ihrer Heimat freigestellt werden. Dabei werden die Inhalte laufend an die Bedürfnisse der ukrainischen Kräfte angepasst.

Die Ausbildung übernehmen erfahrene Expertinnen und Experten der Bundeswehr, teilweise auch zivile Kräfte im Bereich der Instandhaltung. Lehrmaterial wird in ukrainischer Sprache bereitgestellt. Auch die Ausbildungen finden auf Ukrainisch oder Russisch statt. Deutsche Soldaten und Soldatinnen mit den geeigneten Sprachkenntnissen werden dabei als Übersetzende und Sprachmittlerinnen beziehungsweise Sprachmittler eingesetzt.

Quelle: bundeswehr.de

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