Bildung von Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen  Wie in der Grundschule systematisch Identitäten ausradiert wurden

Petras Schulhefte, in die sie damals noch per Hand schrieb
Petras Schulhefte, in die sie damals noch per Hand schrieb Foto: © Petra Eller - Privatarchiv

Wie die „Integration“ von Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in Schulen nicht aussehen darf, beschreibt die Autorin Petra Eller anhand ihrer persönlichen Erfahrungen. Echte Integration erfordert mehr als nur das Ermöglichen physischer Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen im Klassenzimmer.

Man sagt, dass ein Kind wie ein unbeschriebenes Blatt Papier sei. Ich hatte dieses Privileg nicht. Noch bevor ich eine erste Erinnerung erlangen konnte, schrieb man mir eine Diagnose in die Krankenakte, die ich später als meine allesbeeinflussende Identität annahm. Diese Diagnose einer körperlichen Behinderung lautete Spinale Muskelatrophie, was damals eine sehr kurze Lebensdauer bedeutete. Dieser Umstand lässt sich aus meiner DNA nicht tilgen und das ist in Ordnung, auch weil mein Gesundheitszustand von Anfang an meinen Lernwillen gefördert hat. Die Grundschule, die ich besucht habe und die sich als „inklusiv“ präsentierte, versuchte jedoch meine Identität auszuradieren und prägte damit den Rest meines Lebens.

Normalisierung versus Integration

Die Grundschule, an der ich Schülerin gewesen bin, hebt auf ihrer Webseite hervor, dass sie „im Schuljahr 1990/91 die erste barrierefreie Schule in der Slowakei war, die körperlich behinderte Schüler in die Regelklassen aufnahm und damit den Prozess der Integration dieser Schüler einleitete.“ Danach sammelte die Schule fleißig Auszeichnungen, zum Beispiel eine im Schuljahr 1993/94 für „den Umgang der Schule mit einer schwerkranken Mitschülerin“.

Im Schuljahr 2003/04, dem Jahr, in dem ich an dieser Schule eingeschult wurde, schien daher zunächst alles märchenhaft. Die „Inklusionsschule“ hatte alle Voraussetzungen, um mich zu fördern, und ich war im Begriff, das Aushängeschild der Schule zu werden. Dank der vielen Monate, die ich jedes Jahr in einem ausnehmend langweiligen Krankenhaus verbracht hatte, konnte ich bei meiner Einschulung bereits lesen, schreiben und rechnen. Aufgrund der Tatsache, dass ich meine Gliedmaßen so gut wie gar nicht bewegen kann, habe ich meine gesamte Existenz auf das Denken und das Ausdrücken dieser Gedanken ausgerichtet. Die Schulleitung schlug daher schon bald vor, mich direkt in die zweite und später vielleicht sogar in die dritte Klasse zu versetzen.
 
Ein traditionelles Erstklässlerinnenfoto von Petra Eller

Ein traditionelles Erstklässlerinnenfoto von Petra Eller | Foto: © Petra Eller - Privatarchiv


Doch ihre Vorstellung von Integration schien zu sein, dass in jede Klasse voller „gesunder“ Schülerinnen und Schüler jeweils ein Kind mit Behinderung, bei zunehmender Zahl gesundheitlich beeinträchtigter Schülerinnen und Schüler auch zwei, platziert wurde. Wenn ich so gelernt hätte, wie es geplant war, wäre ich während der gesamten neun Jahre der slowakischen Grundschule niemandem begegnet, der oder die so war wie ich. Die Integration in die Gruppe der nichtbehinderten oder – wie die Schule sie nannte – „normalen“ Schülerinnen und Schüler bedeutete auch die Trennung von „meinen eigenen Leuten“.

Der Grund dafür war sicherlich nicht, eine Überlastung der persönlichen Assistenten zu vermeiden, denn an dieser Schule arbeiteten gar keine. Wir hatten nur „Krankenschwestern“, die in den Klassenräumen während der Unterrichtszeiten nicht mal anwesend waren. Nur in den Pausen brachten sie die „behinderten“ Schülerinnen und Schüler in andere Klassenräume oder zur Toilette. Diese Krankenschwestern versäumten nie, Ihre To-Do-Listen gewissenhaft abzuhaken, doch ihre Hauptaufgabe schien darin zu bestehen, die Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern, wie genervt und verärgert sie über jedes unserer Bedürfnisse waren. Meistens, indem sie uns anschrien und so unsensibel behandelten, dass ich oft fürchtete, sie würden einem meiner Klassenkameraden die Schulter auskugeln.

Meine Mutter konnte schließlich bei der Schulleitung durchsetzen, dass sie als meine persönliche Assistentin zugelassen wurde. Das war Glück im Unglück, denn bei meinem komplizierten Gesundheitszustand hätte ich ohne die Unterstützung dieser Expertin keine Chance gehabt, klarzukommen. Allerdings wollten meine gesunden Mitschülerinnen und Mitschüler sich keinesfalls mit einer abgeben, die ständig von einer Erwachsenen, noch dazu ihrer Mutter, begleitet wurde. Zu einer Klasse, in der die Schülerinnen und Schüler an die häufige Unterstützung durch ihre Eltern gewöhnt waren, hatte ich keinen Zugang. Ich wollte entweder zu den „Normalen“ oder zu den „Körperbehinderten“ gehören.

Diese „inklusive“ Schule radierte aus meiner Identität also zunächst die Fähigkeit aus, mich und meine Bedürfnisse als normal zu betrachten. Zu diesem Zeitpunkt hatte dieses Ausradieren jedoch noch keine irreparablen Schäden angerichtet.
 

Die Schulleitung kam zu dem Schluss, dass ich für den Rest meiner Schulzeit vom Englischunterricht befreit werden sollte. Sie fügte hinzu, dass wir nicht naiv sein sollten, dass es egal war, ob mir der Stoff für den Übertritt in die Mittelschule fehlte, da ich dieses Alter sicher gar nicht erreichen würde. “

Inklusion als Alibi schließt Hass mit ein

Der endgültige und entscheidende Bruch erfolgte im Englischunterricht in der ersten Klasse. Fast jedes Mal, wenn die Klassenlehrerin eine Frage stellte, meldete ich mich, um zu antworten, manchmal als einzige in der Klasse. In diesen Momenten war die Lehrerin oft aufgebracht, dass niemand die Antwort wusste. Dass sie so tat, als gäbe es mich nicht, brachte mich täglich zum Weinen, direkt in der Schule und dann wieder zu Hause beim Erledigen der Hausaufgaben. Ich verstand nicht, warum sie mich so hasste, denn ich grüßte sie immer höflich und dazu, mich schlecht zu benehmen, gab sie mir nicht einmal die Gelegenheit.

Also beschloss ich eines Tages, ihr mein Wissen unter Beweis zu stellen – triumphierend rief ich die richtige Antwort in die Klasse hinein. Die Englischlehrerin kreischte: „Ich werde niemanden unterrichten, der im Rollstuhl sitzt!“ Das brachte mich so sehr zum Weinen, dass ich das Klassenzimmer verlassen musste. Nicht nur an diesen Tag, sondern für immer.

Die Schulleitung kam zu dem Schluss, dass ich für den Rest meiner Schulzeit vom Englischunterricht befreit werden sollte. Sie fügte hinzu, dass wir nicht naiv sein sollten, dass es egal war, ob mir der Stoff für den Übertritt in die Mittelschule fehlte, da ich dieses Alter sicher gar nicht erreichen würde. Die „inklusive Schule“ stellte sich damit auf die Seite einer Erwachsenen, die ein sechsjähriges Kind mit einer Behinderung täglich zum Weinen brachte, und nicht auf die Seite des Kindes und dessen Recht auf Bildung.

Nachdem ich in dieses Wespennest gestochen hatte, dauerte es nicht lange, bis ich in einer sogenannten Sonderklasse landete. An dieser Schule gab es nämlich zwei davon – eine für jede der beiden in der Slowakei üblichen Grundschulstufen. In derselben Unterrichtsstunde wurde die gesamte Klasse von nur einer Sonderpädagogin unterrichtet, die jedem Kind ein anderes Fach einer anderen Klassenstufe und je nach Diagnose auf eine andere Art und Weise erklärte. Ich erhielt in der gleichen Schulstunde sogar Unterricht in zwei verschiedenen Fächern. Meine Diagnose schränkte in erster Linie ein, wie viel Energie ich täglich aufbringen konnte. Wir vereinbarten also, dass ich meine vier Stunden Energiereserve nutzte, um den Stoff von acht Fächern zu lernen.

Wir sollten also nicht alle Unwissenheit als ein einfaches Charakteristikum von Behinderung abtun, sondern nach den Fehlern im System suchen, denn das kann und sollte korrigiert werden.“

Trotz des ständigen Chaos bei dieser Art Unterricht hoffte ich, dass ich in dieser Klasse sowohl vor Vorurteilen als auch vor Einsamkeit geschützt sein würde. Zumindest hatte uns das die Schulleitung versprochen. Aber schon in den ersten Tagen hörte ich unsere Lehrerin zu ihren Kolleginnen Sätze sagen wie: „Ich habe heute keine Lust, die zu unterrichten. Warum denn überhaupt? Aus denen wird doch sowieso nichts. Ich mache das Radio an und lasse sie singen.“ Außerdem hatte sie oft starke widersprüchliche Emotionen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie glitzerte und plötzlich von Schmetterlingen aus der ganzen Slowakei umschwärmt wurde, aber meistens schlug sie mit allem, was sie in die Finger bekam, auf die Tische. Angeblich, um diese „Trantüten“ aufzuwecken. Ich war jedoch von klein auf ziemlich clever. Ich kam schnell auf den Dreh, dass sie mir – wenn auch widerwillig – immer neue und neue Aufgaben geben würde, wenn ich sie nur in Ruhe ließ, solange ich Aufgaben zu lösen hatte.

Während des ersten Schuljahres lernte ich also mehr oder weniger allein in diesem ständigen Durcheinander. Ich liebte das Lernen, aber diese „inklusive Schule“ radierte von Anfang an das Bewusstsein aus meiner Identität aus, dass ich die Förderung meines Intellekts und meiner Talente verdiente. Wenn man aber auf dem Papier zu sehr herumradiert, wird es dünn und bekommt schließlich Löcher. Deswegen können die Absolvent*innen einer Bildungseinrichtung, die zwar dem Namen nach jedoch nicht in der Realität inklusiv ist, nur auf ein löchriges Grundwissen zurückgreifen. Wir sollten also nicht alle Unwissenheit als ein einfaches Charakteristikum von Behinderung abtun, sondern nach den Fehlern im System suchen, denn das kann und sollte korrigiert werden.
 
Petra Eller zeichnete im Kunstunterricht ein von Pablo Picasso inspiriertes Bild.

Petra Eller zeichnete im Kunstunterricht ein von Pablo Picasso inspiriertes Bild. | Foto: © Petra Eller - Privatarchiv

Rehamaßnahmen, die den Körper negieren

Das Lernen in der „besonderen“ Klasse umfasste unter anderem Rehabilitationsmaßnahmen, die den Sportunterricht ersetzten. In meinem Fall waren das Massagen, um die schlaffen Muskeln zu stimulieren, und Übungen zur Lockerung der Sehnen. Solche Rehabilitationsmaßnahmen sind meistens sehr teuer und die slowakischen Krankenkassen erstatten sie in der Regel nicht. Auch nicht für Patient*innen, deren Gesundheitszustand sich ohne diese Maßnahmen verschlechtert und die starke Schmerzen haben. Neun Jahre kostenlose Reha hätten daher eine enorme Erleichterung für ganze Familien sein sollen. Hätten.

Natürlich kann man nur nackt massiert werden. Die Reha-Schwester ließ mir meist nur meinen Schlüpfer an, manchmal deckte sie mich mit einem Laken zu, aber nur so weit, wie es nicht im Weg lag. Die eigentlichen Reha-Behandlungen fanden im Krankenzimmer der Schule statt, hinter einer Tür, die oft unverschlossen blieb. Ohne irgendwelche Beschränkungen kamen auch während der Sitzungen Schülerinnen und Schüler herein oder Lehrende, die sich bei einem Kaffee unterhielten. Die Reha-Schwester, die in diesen Momenten gerade meinen nackten Kinderkörper bearbeitete, hatte die Ruhe weg und erzählte den Genannten ungeniert von intimen Geschichten, die sie am Tag zuvor in der Boulevardpresse gelesen hatte. Nicht ein einziges Mal kam einer der Erwachsenen auf die Idee, dass es vielleicht unangebracht war, vor einem kleinen oder heranwachsenden Kind über solche Dinge zu sprechen. Oder überhaupt sich in der Gegenwart eines fremden nackten Kindes aufzuhalten. Kein*e einzige*r Erwachsene*r hat in den neun Jahren auch nur einmal verwundert mit der Augenbraue gezuckt.

Obwohl ich es damals nicht in Worte fassen konnte, war zumindest mir bewusst, dass der Grund, warum ich Rehamaßnahmen aus tiefstem Herzen hasste, nicht nur die starken Schmerzen bei der Behandlung waren. Einem „gesunden“ Kind im Teenageralter, das obendrein mit dem Internet aufgewachsen ist, hätte man sicher nicht unterstellt, dass es solche Konversationen nicht verstünde oder die Anwesenheit von Fremden nicht wahrnähme, während es nackt daliegt. Ich fühlte mich so unwohl, dass ich mich mit der Zeit völlig von meinem Körper dissoziierte und begann, ihn als nutzlosen Auswuchs unterhalb meines Kopfes zu betrachten.

Die „inklusive Schule“ radierte also auch meinen eigenen Körper aus meiner Identität aus. Noch immer versuche ich deshalb mich wieder mit ihm zu identifizieren und mich nicht für jedes Körperteil zu schämen.

Farbkleckse zertrampelter Hoffnungen

In der zweiten Klasse hat man uns anstatt eines normalen Klassenzimmers einen Lagerraum zugewiesen – einen dunklen Raum mit verstaubten Schränken, in denen ausgemusterte Schulbücher und Hilfsmittel zu finden waren. Die Schulleitung hielt das wohl für einen besonders passenden Ort für Schülerinnen und Schüler mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. In diesem Abstellraum waren nicht einmal die Fenster dicht. Und trotzdem sollten dort selbst in den Wintermonaten Kinder sitzen und lernen, obwohl viele von ihnen, mich eingeschlossen, eine so zerbrechliche Gesundheit hatten, dass selbst eine einfache Erkältung für uns den Tod bedeuten konnte.

Aufgrund vieler solcher Gegebenheiten waren sich selbst diejenigen unter uns, die nicht unbedingt die gleichen Situationen durchlebten wie ich, bewusst, dass an dieser Schule nichts so war, wie es sein sollte. Immer öfter wurde ich Zeugin und manchmal auch Opfer von Wutausbrüchen und der Verzweiflung meiner Mitschülerinnen und Mitschüler.

Der mutigste Mitschüler warf seinen Discman und mit Stühlen, wobei er oft nur um Haaresbreite den Kopf eines anderen Kinder verfehlte. Eine musikalisch begabte Mitschülerin drohte während ihrer Nervenzusammenbrüche vor der ganzen Klasse aus dem Fenster zu springen oder sich zu erwürgen. Ein Mitschüler, der neben mir saß, wartete, bis niemand mehr hinsah, und zog mir dann an den Haaren, womit er meinen Kopf aus der Halterung warf. Wegen meiner schwachen Muskeln war ich dann nicht mehr in der Lage, ihn aus dieser Position zu heben, mein verdrehter Hals schmerzte heftig und behinderte das Atmen. Ein viel älterer Mitschüler bedrängte mich, dass er mich verletzen würde, wenn ich nicht so täte, als ob ich ihn mochte, mit ihm spielte, ihn besuchte und zu mir nach Hause einlud. Zum Beispiel drohte er mir an, auf meine extrem empfindlichen Beine zu schlagen oder machte Gesten, die eine andere Art von Berührung andeuteten.

Als wir uns von der psychischen Gewalt in der Schule entfernten, spürte ich, wo ich hingehörte und wie sehr ich die Vielfalt meiner Gemeinschaft liebte.“

Obwohl ich mich damals für ein wehrloses, völlig ausgeliefertes kleines Mädchen hielt, die Heldin meiner eigenen Geschichte mit reinem Herzen, konnte auch ich grausam sein. Ich ließ meine Mitschülerinnen und Mitschüler wissen, dass ich sie für minderwertig hielt, was meine Art war, mich in dieser völlig verdrehten Hierarchie zu behaupten. Ich hoffte, dass, wenn ich die behinderten Kinder auf die gleiche Weise erniedrigen würde, wie die Behörden es taten, mich die „Gesunden“, beziehungsweise Mächtigen vielleicht akzeptieren würden und mir eine bessere Zukunft ermöglichen. Um auch diese Aufgabe perfekt zu erfüllen, versäumte ich es nicht, mich selbst zu verachten, insbesondere wegen meiner körperlichen Unzulänglichkeiten. Denn wenn einem Menschen von seinem sechsten bis fünfzehnten Lebensjahr etwa acht Stunden pro Tag von Autoritätspersonen mitgegeben wird, dass man aufgrund dessen, wie man zur Welt gekommen oder was einem widerfahren ist, keine Bildung, keinen Respekt und keine Privatsphäre verdiene, kann daraus nichts anderes als Hass resultieren.

Diese Grundschule erkannte bald, dass es nötig war, die Maßnahmen zur Förderung der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung glaubwürdiger vorzutäuschen. Sie organisierte daher einmal im Jahr einen Kunstworkshop für uns, eine gemeinsame Woche in einem Kurort und ein Paralympics-Sportfest zwischen drei integrativen Schulen. Bei einer dieser Veranstaltungen sah ich, wie die Krankenschwestern eine Mitschülerin, deren ganzer Körper krampfte und zitterte, anschrien, dass sie damit aufhören solle. Sie schimpften auch mit anderen Mitschülern, weil sie Farbe verschütteten und die Tischdecken verschmutzten, obwohl die betreffenden Kinder kaum ihre Hände kontrollieren konnten und die Krankenschwestern ihnen während ihrer häufigen Zigaretten- und Kaffeepausen sich nicht darum kümmerten, den Kindern die Malsachen zu reichen.

Während dieser besonderen Ereignisse erlebte ich aber auch manchmal einen Lichtblick der Menschlichkeit unter den behinderten Schülerinnen und Schülern. Die oft zueinander so tyrannischen Kinder beschützten sich plötzlich gegenseitig vor Verletzungen. Beim abendlichen Kartenspiel brachten wir uns zum Lachen, bis wir die Hotelnachbarn aufweckten. Wir lasen gemeinsam Bücher, dachten uns Theaterstücke aus und erfanden barrierefreie Versionen von Spielen, die normalerweise nur den „Gesunden“ vorbehalten waren. Als wir uns von der psychischen Gewalt in der Schule entfernten, spürte ich, wo ich hingehörte und wie sehr ich die Vielfalt meiner Gemeinschaft liebte.

Aber sobald diese lichten Momente vorbei waren, glaubte ich nicht mehr daran, dass es möglich war, mit behinderten Kindern eine schöne Zeit zu verbringen. Die vielleicht verheerendste Auswirkung dieser Schule war, dass ich nicht mehr an Freundlichkeit glaubte. Diese „inklusive Schule“ radierte die Fähigkeit aus, Kontakte zu knüpfen und das Gefühl zu haben, dass ich Freundschaften verdiente. Wäre meine Grundschule wirklich inklusiv gewesen, hätte ich vielleicht im Alter von siebenundzwanzig Jahren keine Angst mehr davor gehabt, vor einer Gruppe von mehr als drei Personen zu sprechen. Und obwohl ich heute viele herzensgute Freundinne und Freunde habe, hätte ich vielleicht nicht jedes ihrer Worte oder jeden ihrer Blicke analysiert, um eventuelle Hinterlistigkeit zu durchschauen, die sie vielleicht zu verbergen versuchten.

Bilanz der Brillanz

Für den Rest meiner Schulzeit konnte ich zwar mit sehr guten Leistungen glänzen, aber zu Ende der Grundschulzeit sah ich darin weder etwas, auf das ich stolz war, noch nicht einem etwas, das für mich einen Sinn ergab.

Ich konnte Klassen überspringen, ich konnte jedes Fach in der Hälfte der Zeit lernen, fehlerfrei und ohne den Stoff zu Hause wiederholen zu müssen. Wäre ich ohne diesen genetischen Defekt geboren worden, hätte meine Zukunft unbegrenzte Möglichkeiten für mich bereitgehalten. Stattdessen drängte die „inklusive Grundschule“ darauf, die neunte Klasse in meinem Fall auf zwei Jahre aufzuteilen, um die formale Schulpflicht zu erfüllen und mich nicht unnötig mit der Oberstufe zu belasten. Denn aus so einer „Behinderten“ würde ja doch nichts werden.

Ich bestand den Mathe Monitoring Test für die Neunte mit voller Punktzahl, ohne Taschenrechner, ohne zu überlegen und so, dass ich die Ergebnisse direkt in den Test schrieb, weil mich das Tippen der Zwischenergebnisse nur unnötig aufhielt. Wäre ich ohne Behinderung geboren worden, hätte man meiner Schule keine Kontrolle geschickt, weil man unterstellte, dass ein Lehrer den Test für mich ausgefüllt hatte. Ich hätte wesentlich bessere Wahlmöglichkeiten gehabt, als nur eine einzige Mittelschule in der Slowakei, an der man bereit war, eine Schülerin aufzunehmen, die immer liegen musste.

Diese „inklusive Schule“ radierte auch den Hunger nach neuen Informationen aus meiner Identität aus. Weil sie mich lehrte, dass egal was ich vollbrachte, es nie gut genug sein würde. Denn mit so einer Behinderung wäre das sowieso nicht möglich. Wenn man einen Text in Word löscht, bleibt nur ein blinkender Cursor zurück als Zeichen, dass die Geschichte an dieser Stelle hätte fortgesetzt werden sollen. Es schmerzt mich, wenn ich daran denke, was für eine Lebensgeschichte ich hätte schreiben können, wenn ich nicht so viel Zeit und Energie darauf hätte verwenden müssen, die Löcher zu flicken, die das so intensive und ausdauernde Ausradieren meiner Identität hinterließ.
 
So schreibt Petra Eller ihre Artikel heute mit den Augen.

So schreibt Petra Eller ihre Artikel heute mit den Augen. | Foto: © Petra Eller - Privatarchiv


Um jedoch den Punkt zu erreichen, überhaupt mit der Wiederherstellung all dessen zu beginnen, was die „inklusive Schule“ ausradiert hatte, musste ich viel Geduld aufbringen. Dass mir das gelang, verdanke ich zum großen Teil einer der brillantesten Personen, die ich je getroffen habe – einer Sonderschulpädagogin, die uns in der zweiten Stufe unterrichtet hatte. Sie kannte sich mit jedem Fach aus und schlüpfte mit Leichtigkeit von einer Rolle in die andere – sie war eine erstklassige Lehrerin, persönliche Assistentin, Künstlerin und psychologische Beraterin in einem. Vor allem aber sah sie die Einzigartigkeit jedes einzelnen Kindes, ohne der Art oder dem Grad der Behinderung Beachtung zu schenken. Sie widersprach mir immer lautstark, wenn ich sagte, dass ich etwas aufgrund meiner Behinderung nicht tun könnte. Sie betrachtete meine Zukunft nur als die Summe noch nicht entdeckter, alles verändernder Möglichkeiten. Damals verstand ich noch nicht, dass Intelligenz und Freundlichkeit normalerweise Hand in Hand gehen. Und die „inklusive Schule“ erteilte mir die Lektion, an keines von beiden zu glauben.

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems federführend einbinden.“

Letztendlich gelang es mir jedoch, fast alle Löcher zu stopfen, die die Versuche, meine Identität auszuradieren, hinterlassen hatten. Nun kann man sagen, was solls, Haken dran, das ist doch zwanzig Jahre her und die Wunden sollten verheilt sein. Aber auch heute noch kann es passieren, dass Kinder – wie man sprichwörtlich sagt – tausend Tode sterben. Wir sollten verhindern, dass Kinder mit Behinderungen in Zukunft solche Wunden überhaupt heilen müssen.

Inklusion darf nicht nur ein Wort sein, dass „gesunde“ Menschen in ihre Trophäen eingravieren, um sie dann anderen „gesunden“ Menschen zu überreichen, während man völlig an denen vorbei agiert, die inkludiert werden sollen. Und Inklusion bedeutet schon gar nicht, dass diejenigen, die eine privilegierte Stellung haben, eigenmächtig und ohne zuzuhören entscheiden, wem sich eine bestimmte Minderheit anpassen muss. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, dass wir Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Gestaltung eines inklusiven Bildungssystems federführend einbinden. Bildungsexperten und Psychologen, die selbst auch mit Behinderungen leben und deren absolute Priorität die Gleichstellung ist, können am besten beurteilen, wie eine positive Inklusion aussehen kann. Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen rätseln nämlich nicht, wie mit Kindern mit bestimmten Diagnosen umgegangen werden kann, welche Hilfsmittel ihnen das Leben erleichtern, welche Bedingungen sie für ihre Entwicklung brauchen und welches Potenzial in ihnen schlummert. Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen sind die einzigen, die das genau wissen. Und zu viele von uns haben erlebt, was sich im Rahmen der Schulbildung nicht wiederholen darf.

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