Musikpädagogik und marginalisierte Bevölkerungsgruppen  Erfolg durch ein Geschenk

Erfolg durch ein Geschenk Foto: © Slavo Uhrin

Von Kindern aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen wird in erhöhtem Maße erwartet, dass sie die Angebote der Begabtenförderung nutzen. Von ihnen wird erwartet, dass sie zielstrebig sind und keine Fehler machen, allein schon, weil ihnen eine „außergewöhnliche“ Chance gegeben wurde. Zugleich scheint es im Kontrast dazu keinen Rahmen oder keine Form der Fürsorge zu geben, um „Misserfolg“ oder einen Abbruch der Ausbildung zu akzeptieren. Wie können Kinder weiterhin unterstützt werden, bei denen die „Investition“ nicht erfolgreich war? Mit welcher Begründung können wir die Tatsache rechtfertigen, dass das Interesse am Wohlergehen von Kindern häufig vom Erfolg „geschenkter“ Möglichkeiten abhängig ist? Die Musikwissenschaftlerin und Autorin Dominika Moravčíková untersucht, wie unser Verständnis eines „Geschenks“ als Investition im Bildungskontext nicht nur dazu beitragen kann, wirtschaftliche und andere Ungleichheiten zu überwinden, sondern diese auch aufzuzeigen.

„Das ist eine ganz große Neuigkeit, ein tolles Geschenk“, sagte der Musiklehrer in seiner Rede im Gemeindezentrum beim Adventskonzert 2018. Kinder aus der angrenzenden Roma-Siedlung spielten hier zum ersten Mal auf einem Schlagzeug-Set, gespendet von der nächstgelegenen Grundschule für Kunsterziehung [Die Grundschule umfasst in der Slowakei neun Jahre, es gibt Schulen mit speziellen Profilen, zum Beispiel Kunst, Musik, Sprachen und so weiter, Anm.d.Red.]. Der Lehrer fuhr fort: „Dies ist auch eine große Verpflichtung, denn es ist ein wirklich hervorragendes Instrument und nicht irgendein Kinderspielzeug. Der Herr Direktor erwartet von uns künftig großartige Leistungen, deshalb müssen wir uns freuen und uns zugleich Sorgen machen.“

An diesem Teil der Rede interessierte mich, ein Geschenk als etwas Zweischneidiges zu verstehen, das sowohl von Freude als auch von Angst gekennzeichnet ist, die Möglichkeiten erweitert und sie gleichzeitig einschränkt (die Kinder in der Siedlung sollten genau diese Schlaginstrumente spielen und sich dabei am besten entwickeln). Die Aussage des Lehrers war natürlich an die anwesenden Kinder gerichtet und deshalb so dramatisch belehrend und übertrieben formuliert. Aber genau mit dieser leicht überzogenen Formulierung konnte er deutlich machen, wie wir Geschenke oft als Investition in Bildung betrachten. In diesem Fall verteilten sich diese Ansprüche jedoch auf die gesamte Bildungsgemeinschaft, da die Investition nicht einem konkreten Kind galt, die erwarteten „großartigen Leistungen“ betrafen mehrere Kinder.

Mich interessierte, ein Geschenk als etwas Zweischneidiges zu verstehen, das sowohl von Freude als auch von Angst gekennzeichnet ist, die Möglichkeiten erweitert und sie gleichzeitig einschränkt.

Das Motiv, ein Musikinstrument als Verpflichtung zu verschenken, ist allerdings meist mit der Entwicklung des individuellen Talents und mit der Vision einer professionellen Karriere im Bereich Musik verbunden, dies gilt auch für marginalisierte Kinder. Dadurch werden auch die Bürde der Investition und die Erwartungen „großartiger Leistungen“ individualisiert.

Ein Geschenk als Vertrag

Die Vision einer professionellen Musikerkarriere nimmt in Familien der Mittelschicht schon früh Gestalt an, wenn ein Kind bei Schülerwettbewerben erfolgreich ist. Der Kauf eines geeigneten Instruments für das Konzertniveau wird lange vorbereitet (und es wird darauf gespart). Konservatorien stellen hohe Ansprüche an das Niveau der musikalischen Interpretation und der Instrumente, als ob alle Schüler*innen Profimusiker*innen werden sollten. Gleichzeitig reflektieren diese Anforderungen nicht den tatsächlichen Bedarf an professionellen Künstlern und Künstlerinnen, denn auf die Mehrheit der Absolvent*innen wartet primär eine Karriere in der Musikpädagogik.

Als meine Schwester zum Querflötenstudium am Konservatorium angenommen wurde, mussten meine Eltern in ihre Ausbildung investieren, indem sie ein professionelles Konzertinstrument kauften. Die neue Flöte war ein Meilenstein, eine Verpflichtung und ein Geschenk, das den Stellenwert der Bildung grundlegend anhob. Der Übergang zu einer höheren Instrumentenklasse ermöglichte neue Ziele hinsichtlich der Klangqualität, aber die Fähigkeit, um diese nutzen zu können, erforderte ein neues Maß an Übung, Anstrengung und Geschick bei der Klangerzeugung. Für meine Schwester war das Geschenk dieser Konzertflöte ein wesentlicher Bestandteil des Vertrags für eine elitäre musikalische Ausbildung, die an der Universität fortgeführt werden sollte. Am Ende sollte die Flöte wohl in jener Rolle landen, für die sie geschaffen wurde – als Instrument eines Mitglieds eines professionellen Orchesters.

Nach dem Abitur konnte meine Schwester jedoch aufgrund gesundheitlicher Komplikationen den hohen Anforderungen des Studiums und der Investition nicht mehr gerecht werden, denn diese Investition hatte keine Unterstützung durch andere wichtige Investitionen im Bereich der psychosozialen Bedingungen in der Bildung. Nach einiger Zeit verkaufte sie letztendlich die Flöte. Unsere Eltern versuchten allerdings, den Verkauf des Instruments so lange wie möglich hinauszuzögern, weil sie hofften, dass meine Schwester wieder zum Spiel zurückkehren würde. Das Berufsziel einer Flötistin komplett aufzugeben, gehörte nicht zu den einstigen Visionen, und es gab offensichtlich auch keine Sprache, die solch einen Abbruch billigend beschreiben konnte.

Durch diese Erfahrung in der Familie mit dem Geschenk eines Musikinstruments habe ich den Wunsch nach der Qualität eines Instruments (den selbst diejenigen haben können, die sich den Kauf eines Instruments nicht leisten können) ebenso verstanden wie auch den Druck, Erwartungen zu erfüllen, sowie Misserfolge, Vorwürfe und den Verlust, die damit einhergehen können. In gewisser Weise war es ein Vorgeschmack auf eine Erfahrung, die ich dann viel später, während meiner Doktorarbeit in der Musikwissenschaft, gemacht habe.

Als ich mit meiner ethnografischen Forschung zur musikalischen Bildung von Roma-Kindern in der Slowakei begann, war es eine der ersten festgelegten Grundregeln, dass ich den Befragten keine Geschenke geben würde. Allerdings gestaltete es sich dann in den konkreten Situationen vor Ort schwierig, ein Geschenk, eine Aufmerksamkeit oder eine Kompensation auszuschließen. Das Thema Schenken war letztendlich in verschiedenen Formen in die Forschung involviert und die Frage, wer jeweils die Kompetenz und das Privileg hat zu schenken und wer auf der anderen Seite die Kompetenz hat, ein Geschenk anzunehmen und eigenmächtig darüber zu verfügen, wurde zu den definierenden Enigmata meiner Forschung.

Die Zweischneidigkeit eines Geschenks

Anfang 2022 wurde ein begabter Akkordeonist aus einem Dorf in der Mittelslowakei, den ich dank meiner Forschung schon seit 2019 kannte, in das Programm des Vereins Divé maky (Wilder Mohn) aufgenommen.  Diese Organisation unterstützt talentierte Roma-Kinder durch die Förderung verschiedener Begabungen. Der 12-jährige Akkordeonist erhielt ein Stipendienbudget zur „Talentförderung“, das Ausgaben für Schulmaterial und solches für Auftrittszwecke, etwa Kleidung, umfasste. Allerdings fehlte ihm das Akkordeon – das alte Instrument, auf dem er spielen gelernt hatte, war inzwischen auseinandergefallen. In der Regel werden im Rahmen des Divé maky Programms Crowdfunding-Kampagnen für den Kauf teurerer Instrumente organisiert, in diesem Fall lag die Priorität des Programms jedoch darin, Sponsoring und einen Mentor für den Stipendiaten zu gewinnen, eine Crowdfunding-Kampagne war noch nicht in Sicht.

Monatelang war der Schüler darauf angewiesen, sich sporadisch ein einfacheres Akkordeon beim Bürgermeister des Ortes auszuborgen. Daher hatte er nicht die Möglichkeit, sich kontinuierlich im Spiel weiterzuentwickeln und flexibel zu sein, wenn er für irgendwelche „Geschäfte“ spielen oder an saisonalen Dorfveranstaltungen teilnehmen wollte. Ich kam zu dem Schluss, dass ein Instrument von besserer Qualität hier auch für meine Forschung eine gute Investition wäre. Ich hatte gewisse Vorstellungen davon, wie viel großartige virtuose Musik ich hören könnte sowie Visionen zur Entwicklung dieses Musikers, die ich verfolgen und erforschen würde. Mit diesen Aussichten habe ich mir selbst gegenüber die Spende im Wert von 1.200 Euro gerechtfertigt – und diese somit zugleich im Vorfeld von einem konkreten Ergebnis abhängig gemacht.

‚Ich verstehe, dass es ein Geschenk war‘, sagte mir die Mutter des Akkordeonisten am Telefon und deutete damit an, dass ihr bewusst war, dass mit einem solchen Geschenk anders umgegangen werden ‚sollte‘. Ich war beeindruckt von ihrer Wortwahl – die Art und Weise der Formulierung ließ auf Würde und Verbindlichkeit schließen.

Während der Energiekrise Ende 2022 verlor die Familie des Akkordeonisten das Haupteinkommen eines erwachsenen Sohnes. Um die Zeit ohne Einkommen zu überbrücken, gaben sie das Akkordeon in ein Pfandhaus. Als es an der Zeit war, das Akkordeon aus dem Pfandhaus auszulösen, „gestanden“ sie mir die Situation und baten mich, bei der Lösung des Problems zu helfen.

„Ich verstehe, dass es ein Geschenk war“, sagte mir die Mutter des Akkordeonisten am Telefon und deutete damit an, dass ihr bewusst war, dass mit einem solchen Geschenk anders umgegangen werden „sollte“. Ich war beeindruckt von ihrer Wortwahl – die Art und Weise der Formulierung ließ auf Würde und Verbindlichkeit schließen. Ein Objekt oder eine Dienstleistung, die ich ganz naiv als eine Form der Zusammenarbeit oder eines Experiments zu deklarieren versucht hatte, wurde schließlich als Geschenk wahrgenommen, das die Bürde einer Investition und eines Engagements mit sich brachte – nicht nur für die Empfänger*innen sondern auch für mich.

Nachdem er das Akkordeon aus dem Pfandhaus „befreit“ hatte, musste der junge Musiker andere Probleme bewältigen. Er ging wegen des weiten Schulwegs nicht zur Schule, war außerdem lange krank und schließlich wurde bei ihm eine chronische Herzkrankheit festgestellt. Er scheiterte in jenem Schuljahr an der Grundschule und das war laut den Bedingungen des Stipendiums nicht akzeptabel. Letztendlich verkaufte er das Akkordeon.

Erfolgserwartungen und die „Rendite der Investition“

Was genau ist ein Geschenk? Der Philosoph Marcel Hénaff (2020) schreibt, dass in der Philosophie als einzig wahres Geschenk oft dasjenige angesehen wird, welches nicht erwidert wird, daher nicht auf Gegenseitigkeit beruht und keinen persönlichen Nutzen des Gebers voraussetzt. Hénaff weist darauf hin, dass die Ablehnung der ökonomischen Orientierung auf maximalen Gewinn und auf Rendite des Investierten (Geschenkten) der Zweck dieser radikalen Konzeption der Schenkung ist. Entsprechend der Philosophie von Emmanuel Lévinas (1987) besteht die Voraussetzung radikaler Großzügigkeit nicht darin, Dankbarkeit einzufordern, sondern gerade die Undankbarkeit.

Allerdings ist diese Denkweise zum Thema Geschenk von der allgemeinen Wahrnehmung des „Geschenks der Bildung“ weit entfernt. Darüber hinaus wird von marginalisierten Kindern zunehmend erwartet, dass sie die ihnen gebotenen Bildungschancen nutzen, zielstrebig und fehlerfrei handeln, allein schon, weil ihnen eine „außergewöhnliche“ Chance gegeben wurde. Der Diskurs darüber, marginalisierten hochbegabten Kindern auf dem Weg zur Musikausbildung zu helfen, kennt ein breites Spektrum an geflügelten Ausdrücken, wenn geförderte Kinder eine Chance ergreifen und Erfolg haben. Im Gegenteil dazu scheint es keinen Rahmen oder keine Form der Fürsorge zu geben, um „Misserfolg“ oder einen Abbruch zu akzeptieren. Wie können Kinder, bei denen die „Investition“ nicht erfolgreich war, weiterhin unterstützt werden? Mit welcher Begründung ist es zu rechtfertigen, dass das Interesse an Talentförderprojekten zum Wohlergehen von Kindern an die Nutzung „geschenkter“ Möglichkeiten gebunden ist? Ganz zu schweigen von den willkürlichen Bedingungen der Förderung, dass man zum Beispiel in der Grundschule nicht durchfallen darf (die Schulleistung muss gar nicht mit der speziellen Leistung des geförderten Talents zusammenhängen).

Die aus einer Schenkung resultierende Verpflichtung kann nicht nur eine treibende Kraft und eine Energiequelle für das Studium sein, sondern auch eine Deformation, die einen erheblichen und schwer zu überwindenden Kontrast zwischen der Schenkung und den Rahmenbedingungen der Bildung aufzeigt.

Bei gemeinnützigen Projekten wie Divé maky sind normative Ziel- und Erfolgserwartungen schwer zu kritisieren, da Kinder, die an diesem Programm teilnehmen, diese weitgehend erfüllen. Die Kinder, welchen ich während der Sommerakademie des Stipendienprogramms begegnete, wo sie unter professioneller Anleitung ein Galakonzert vorbereiteten, überraschten mich mit ihrer Zuversicht in Bezug auf ihre Zukunft. Sie hatten ihre Karriereziele nicht in Form abstrakter Prospekte, sondern als durchdachte Visionen formuliert. Ein Zyniker könnte sagen, sie haben es gelernt, ihre eigene Rolle in einem stark indoktrinierenden Stipendienprogramm zur Talentförderung zu spielen, doch ich denke, dass diese Art der Fokussierung nicht vorgetäuscht werden kann, nur um in den Geist eines philanthropischen Programms zu passen. Es ist wahrscheinlicher, dass „nur“ die zielstrebigsten und besser gestellten Kinder in das Programm aufgenommen wurden, die das Angebot und die Vorteile des Programms perfekt zu nutzen verstehen. Und diejenigen, die nicht über eine solch klare Vision und ein so starkes Umfeld verfügen, sind im Programm einfach nicht vertreten oder fallen aus ihm heraus.

Die aus einer Schenkung resultierende Verpflichtung kann nicht nur eine treibende Kraft und eine Energiequelle für das Studium sein, sondern auch eine Deformation, die einen erheblichen und schwer zu überwindenden Kontrast zwischen der Schenkung (eines Musikinstruments oder einer ungewöhnlichen Gelegenheit) und den Rahmenbedingungen der Bildung aufzeigt (wirtschaftliche Unsicherheit, fehlende Verkehrsinfrastruktur um zum Ausbildungsort zu kommen oder unzureichende Unterstützungsquellen bei der Bewältigung der Erwartungen von Eltern und „Spendenden“). Das Geschenk kann somit wirtschaftliche und andere Ungleichheiten nicht nur überwinden, sondern es kann sie auch hervorheben – es kann Zugang zu sonst unzugänglichen Möglichkeiten schaffen und dabei letztendlich zeigen, dass dieser Zugang zur Bildungsgemeinschaft oder -institution eigentlich nur das Öffnen eines Vorhangs ist und den Blick auf das schmerzliche Gefühl schwer zu überwindender struktureller Ungleichheiten ermöglicht.

Auch wenn philanthropische Projekte und Bildungseinrichtungen unerbittlich sind, wenn „geschenkte“ Möglichkeiten nicht genutzt werden, sollten wir zumindest außerhalb der Reichweite ihrer Regeln nach Möglichkeiten des Schenkens nach dem oben erwähnten Prinzip der radikalen Großzügigkeit suchen. Zugleich können wir uns dafür einsetzen, dass die bereits bestehenden Formate der Bildung und Unterstützung für marginalisierte (und andere) Kinder nicht nur an ihre Bedürfnisse angepasst werden, sondern auch sensibel mit den Risiken von Geschenken umgehen sollten, die „gleichzeitig Freude und Sorge bereiten“.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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