Kritisches Denken und der Lehrplan  Die Slowakei lernt

Die Slowakei lernt Foto: Laura Rivera via Unsplash | CC0 1.0

Im September 2017 stellte das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Sport der Slowakischen Republik das Nationale Programm zur Entwicklung von Erziehung und Bildung vor. Es gibt also eine Strategie. Wie kann man sie konstruktiv umsetzen, fragt die klinische Psychologin und Psychotherapeutin Patrícia Vesel Ganoczyová, die seit langem mit Schülern und Studenten arbeitet.

Ich möchte in einer Gesellschaft aufwachen, die nachdenkt. In einer Gesellschaft, die neugierig ist, die den Kontext verstehen möchte, die nach Zusammenhängen sucht, die die Relevanz von Quellen überprüft. Ich möchte in einer Gesellschaft aufwachen, die über ein historisches Gedächtnis verfügt und daraus lernen kann. In einer Gesellschaft, die Vielfalt als bereicherndes und nicht als bedrohliches Element wahrnimmt, die sich nicht durch primitive populistische Parolen und Verschwörungserzählungen manipulieren lässt, die die Grundlagen der Medienkompetenz beherrscht. Ich möchte in einer Gesellschaft aufwachen, die Werte wie Ehrlichkeit, Charakter, Freiheit, Empathie und Solidarität schätzt, die kritisches Denken, ethische Entscheidungsfindung, die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und das Nachdenken über die Konsequenzen des eigenen Handelns für die Zukunft fördert. In einer Gesellschaft, die Begriffe wie gesellschaftliche und ökologische Verantwortung oder Geschlechtergleichheit versteht und Nationalstolz nicht mit radikalem Nationalismus verwechselt. Ich möchte in einer Gesellschaft aufwachen, in der weder Fanatismus, absichtliche Polarisierung, Einschränkung von Menschenrechte und von Freiheiten, noch Vorurteile und Stereotypen, schnelle Urteile und Bewertungen, Manipulation des Mediensektors, Korruption oder Machtmissbrauch einen Platz haben.

Mit dem Abschluss von Grund- und weiterführenden Schulen in der Slowakei erhalten junge Menschen eine allgemeine Schulbildung der Sekundarstufen I oder II oder eine weiterführende beziehungsweise höhere Berufsausbildung. Können wir das Bildungssystem in unserem Land so gestalten, dass es neben formal gebildeten Personen auch vernünftige und humane Menschen hervorbringt?

Eine Strategie gibt es

Im September 2017 stellte das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Sport der Slowakischen Republik das Nationale Programm zur Entwicklung der Erziehung und Bildung vor, welches für einen Zeitraum von zehn Jahren die strategischen Absichten des Staates im Bereich der Erziehung und Bildung in der regionalen sowie in der höheren Bildung festlegen soll. Nach Konsultationen mit der Fachöffentlichkeit (379 Kommentare) und nach Einreichung des Dokuments zur öffentlichen Diskussion (fast 4.000 Kommentare) hat die Expert*innengruppe einige der eingereichten Kommentare, Vorschläge und Anmerkungen übernommen und anschließend die endgültige Fassung des Strategieplans Lernende Slowakei (Učiace sa Slovensko) veröffentlicht, der bis 2027 gültig ist.

Dem Dokument zufolge sollte das Bildungssystem gewährleisten,
  • dass jeder Mensch ausreichend Möglichkeiten und Anreize hat, sein Potenzial in einem lebenslangen Lernprozess zu entfalten.
  • dass geeignete Bedingungen für die gleiche Bildung aller Bürger der Slowakischen Republik, einschließlich nationaler Minderheiten, geschaffen werden.
  • dass jedem Menschen ein Leben lang Bildungschancen zur Verfügung stehen, dafür wird deren Verfügbarkeit durch gleichberechtigten Zugang zu Bildung und gegebenenfalls durch Maßnahmen zur Chancengleichheit im Hinblick auf Kinder aus sozial benachteiligten Milieus und sozial ausgegrenzten Gemeinschaften sowie auf Kinder mit gesundheitlichen Einschränkungen sichergestellt.
  • dass Menschen eine Bildung erwerben können, die es ihnen ermöglicht, sich vielseitig zu entfalten und ihre individuellen persönlichen Ziele im Hinblick auf die Bedürfnisse der Gesellschaft, die Förderung des sozialen Zusammenhalts und des wirtschaftlichen Wohlstands zu verwirklichen.
  • dass formale Bildung bedeutsam, aber nicht die einzige unterstützte Form sinnvollen Lernens ist, da der Mensch auch durch nicht formale Bildung lernt.
  • dass Bildungsprogramme auf der Grundlage funktionierender Mechanismen des Feedbacks und seiner Auswertungen ständig verbessert und innovativ gestaltet werden.
  • dass die Beteiligung und Zusammenarbeit aller Akteure im Bildungsbereich, einschließlich der Kinder und Schüler, unterstützt wird.
  • dass wesentliche Änderungen im System nur auf der Grundlage einer breiten fachlichen und öffentlichen Diskussion erfolgen, in der eine möglichst breite gesellschaftliche Einigung erzielt wird.

und
 
  • dass die Gestaltung eines Systems von Werten und Haltungen, das auf den Prinzipien der demokratischen Gesellschaftsordnung, der Grundrechte und grundlegenden Freiheiten basiert und den Menschen auf das Leben in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft vorbereitet, Bestandteil des Lernens jedes Einzelnen ist.

Es gibt also eine Strategie. Wie kann man diese konstruktiv umsetzen?

Ich glaube, dass unsere Kinder es verdienen, erzogen, gebildet und zu einem ständigen Wunsch nach neuen Informationen geführt zu werden, zu einem Gespür für Pluralität und Vielfalt, welche eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellen und weder eine Bedrohung sind noch ein Grund für Spott, Ablehnung und Abwertung.

Wie die Praxis aussehen könnte

Vielleicht könnte eine vereinfachte Version des Gesellschaftskundeunterrichts, die die Grundlagen der Logik, des kritischen Denkens, der konstruktiven Kommunikation und Argumentation oder der Medienkompetenz umfasst, zusätzlich zur bereits vorhandenen Sozialkunde in den Lehrplan der Grundschulen aufgenommen werden. Die Grundlagen der Psychologie könnten interessante Erkenntnisse und Anleitungen zur Förderung des Selbstwertgefühls, eines gesunden positiven Selbstbildes, der Empathie, der Mobbingprävention, des Konzepts der Inklusion, der Integration von Diversität, der Bedeutung von Psychohygiene vermitteln, aber auch grundlegende kognitive Schemata erklären und Vereinfachungen klarstellen, etwa wenn wir Informationen aus dem Umfeld schnell und oft fehlerhaft verarbeiten, oder Geschlechter- oder andere Stereotypen bewusst machen und einen Diskurs darüber ermöglichen.

Vielleicht könnte ethische Bildung als ein Unterrichtsfach von eigenständiger Bedeutung fungieren, und nicht als ein Fach, das sich als Gegensatz, als dichotome Ergänzung zum Fach Religion deklariert, die wiederum unterschwellig das Konzept eines gewissen dualen, widersprüchlichen Wertesystems evoziert, während die Ethik als solche doch auf ethischen Dilemmata gründet, die Diskurs und Meinungsvielfalt respektieren.

Vielleicht könnte der aktuelle Geschichtslehrplan durch persönliche Geschichten von Menschen bereichert werden, die zu einer bestimmten Zeit reich, arm, kämpfend, mutig, feige, kooperativ, gedemütigt, zu Unrecht verfolgt, verurteilt oder verurteilend, in der Gesellschaft aktiv waren, die damaligen Grenzen durchbrachen, innovativ waren, kaltblütig oder im Gegenteil menschlich und furchtlos, beschützend, opferbereit agierten. Vielleicht könnten die Kinder sogar in ihren eigenen Familien oder in der Region, in der sie leben, nach solchen Geschichten suchen.

Expansionen von großen Reichen und Imperien, Expeditionen der Seefahrt und Überseereisen oder Entdeckungen könnten neben der Würdigung der jeweiligen Errungenschaft vielleicht auch den geopolitischen Kontext und die Folgen der Zeit thematisieren, die bis in die Gegenwart reichen und viele aktuelle Konflikte, Kriege oder nationale Feindseligkeiten und Groll erklären.

Ich glaube, dass unsere Kinder es verdienen, erzogen, gebildet und zu einem ständigen Wunsch nach neuen Informationen geführt zu werden, zu einem Gespür für Pluralität und Vielfalt, welche eine Bereicherung für die Gesellschaft darstellen und weder eine Bedrohung sind noch ein Grund für Spott, Ablehnung und Abwertung. Ich glaube, dass sie zu Respekt, zur Verantwortung gegenüber sich selbst, gegenüber anderen und der Umwelt, in der sie leben, geführt werden können, denn so können sie an ihr Potenzial glauben, kommunizieren, gesund hinterfragen, fragen und tolerieren (ohne tolerant gegenüber einer Intoleranz zu sein). So können sie wachsam in Bezug auf das sein, was in unserem und im breiteren geopolitischen Raum passiert, sie können zu Erwachsenen werden, die aktiv einen besseren Ort für das Leben schaffen.

Die Welt der Kinder und Erwachsenen könnte somit eine Welt denkender, respektvoller, emanzipierter und akzeptierter Wesen sein, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität oder Religion, die an sich selbst und an andere glauben, die Möglichkeiten und die Tragweite ihrer Entscheidungen wahrnehmen, sie verstehen, Verantwortung für sie übernehmen und ihre kurz- und langfristigen Folgen begreifen.

Veränderung ist immer möglich. Zum Beispiel jetzt.

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