Lkw-Fahrkurse für Frauen  Am Steuer eines Siebentonners

Walentyna am Steuer eines Lastwagens
Walentyna am Steuer eines Lastwagens Foto: © Alexey Filippov

Der Mangel an Männern auf dem Arbeitsmarkt treibt ukrainische Frauen in Berufe, die traditionell als „männlich“ gelten. Zum Beispiel als Lastwagen-, Bus- oder U-Bahn-Fahrerin.

Langsam, aber sicher steuert Walentyna einen großen Lastwagen durch die morgendlichen Straßen von Kyjiw. Als die 57-Jährige an einem Zebrastreifen abbremst, schaut ihr ein vorbeigehender Mann in die Augen, lächelt und zeigt den Daumen.

„Sie sehen, die Leute reagieren schon positiv auf eine Frau, die einen großen Lkw fährt. Aber sie sind immer noch überrascht.“ Doch auch das werde sich im Laufe der Zeit ändern, meint Walentyna. Die grüne Ampel leuchtet auf, sie muss weiter. Der Arbeitstag in der ukrainischen Hauptstadt beginnt, der Verkehr wird dichter, und Walentyna fügt sich nahtlos ein. Als wäre sie schon immer Lastwagenfahrerin gewesen.

Doch hätte man der Logistikerin Walentyna Kostrenko aus Mariupol vor drei Jahren gesagt, dass sie in Kyjiw eine Ausbildung zur Kraftfahrerin der Klasse C machen und einen Lkw fahren würde, sie hätte es nicht geglaubt.

„Genauso wenig, wie ich vorher geglaubt hätte, dass es Krieg geben würde“, sagt die energische Fahrerin mit Brille. Sie ist eine von vielen ukrainischen Frauen, die seit Ausbruch des Krieges ihren Beruf gewechselt und Geschlechterklischees durchbrochen haben.
 
Der Krieg hat in der Ukraine alles beeinflusst. Der Arbeitsmarkt ist davon nicht ausgenommen. Männer gehen an die Front, und die Situation im Land zwingt Frauen, Berufe zu ergreifen, die traditionell als Männerdomäne gelten.

In den letzten zwei Jahren wurden in der Ukraine Kurse für Lkw-, Bus- und U-Bahnfahrerinnen angeboten. „Frauen fahren Traktoren bei der Ernte. Sie reparieren Haushaltsgeräte und fördern Kohle. Frauen entminen das Land, auf dem ihre Kinder einmal laufen werden.“ Sie sind zu Freiwilligen geworden, die Menschen und Tiere vor dem Beschuss retten. Sie wurden zu Haupternährerinnen ihrer Familien und zu Entscheidungsträgerinnen.
   

„Die Mädels“

Walentyna und 16 weitere Frauen absolvieren derzeit den OnTrack-Kurs in Kyjiw im Rahmen des Projekts Reskilling Ukraine. Bei diesem Projekt handelt es sich um ein kostenloses Umschulungsprogramm, das es Frauen ermöglicht, Lkw- oder Busfahrerinnen zu werden und einen Führerschein der Klasse C zu erwerben. Es wurde im Rahmen der Wiederaufbauhilfe für die Ukraine ins Leben gerufen und wird seit Januar dieses Jahres von der schwedischen Non-Profit-Organisation Beredskapslyftet durchgeführt.

„Der Kurs besteht aus einem theoretischen und einem praktischen Teil. Der theoretische Teil findet online statt, der praktische in Kyjiw oder Ternopil. Am Ende des Kurses legen die Teilnehmerinnen eine Prüfung für den Führerschein der Klasse C ab. Wir stellen den Teilnehmerinnen auch die Arbeitgeberpartner des Projekts vor, damit sie einen Arbeitsplatz finden können. Und viele unserer Absolventinnen haben bereits eine Stelle gefunden“, sagt Wiktoria Posiewa, Kommunikationsmanagerin bei Reskilling Ukraine. Mehr als 100 Frauen haben die Umschulung bereits abgeschlossen. Bis Ende des Jahres will Reskilling Ukraine diese Zahl auf 300 erhöhen.
 
„Alle Frauen in meiner Gruppe sind auf ihre Art einzigartig. Wenn sie von ihrem Schicksal erzählen, ist man überrascht, wie sehr der Krieg sie geprägt und gebrochen hat. Und dann fragt man sich, wie sie das alles durchgestanden haben. Man sieht, dass jede von ihnen unglaublich ist“, sagt Walentyna begeistert. Einige der Frauen lernen hier, um selbst Hilfsgüter an die Front fahren zu können, andere, um einen neuen Job zu finden, um ihre Familien zu ernähren, während ihre Männer im Krieg sind, und wieder andere, wie Walentyna, um sich beruflich weiterzuentwickeln.

Zusammen mit ihren Kolleginnen wohnt Walentyna während des Projekts in einem Hotel in Kyjiw. Unterkunft und Verpflegung sind im Kurs inbegriffen. Walentyna empfindet den einmonatigen Kurs an einem ruhigen Ort in der Nähe eines Parks als entspannend. Es ist das erste Mal, dass sie sich von ständigen Gefahren ablenken kann, die seit Beginn der massiven russischen Invasion Teil ihres Lebens geworden sind.

„Hier können wir etwas Neues lernen. Jetzt, im Krieg, weiß man nicht, was morgen passiert. Es gibt kein Zuviel an Wissen und Können. Jetzt müssen die Frauen alles können“, sagt Walentyna, während sie gekonnt die Gänge des Übungsfahrzeugs wechselt.
 
Jeden Tag kommen die Kursteilnehmerinnen auf den Parkplatz der Kyjiwer Fahrschule, um Einparken, Abbiegen, Bremsen und Fahren in der Stadt zu üben.

Begrüßt werden sie von ihrem Fahrlehrer Nazar, der schon seit vielen Jahren Fahrstunden in Kyjiw gibt. Der freundliche Mann hält einen Zettel in der Hand, auf dem die Namen seiner Schülerinnen und die Zeiten der Fahrstunden notiert sind. Die Liste des OnTrack-Kurses ist schlicht mit „MÄDELS“ übertitelt.

„Es ist ein gängiges Klischee, dass Frauen schlechter Auto fahren. Aber Frauen sind sogar leichter zu unterrichten, weil sie besser zuhören, Fehler zugeben und nicht so waghalsig wie Männer sind. Ich habe überhaupt keine Probleme mit den weiblichen Fahrschülerinnen in diesem Projekt, denn sie sind alle sehr motiviert und wissbegierig“, sagt der Ausbilder. Er fügt hinzu, dass seit Beginn des großen Krieges in der Ukraine mehr Frauen als Männer in den Kyjiwer Fahrschulen lernen.
   

Motivation

Als Walentyna den Anmeldebogen für den Kurs ausfüllte, freute sie sich auf die Antwort. Aber sie glaubte nicht wirklich daran, dass sie ausgewählt werden würde.

„Ich bin 57 Jahre alt. Ich dachte, in meinem Alter wird man nicht mehr Astronaut“, lacht sie. Doch das Projekt Reskilling Ukraine kennt keine Altersgrenzen. Im Gegenteil, als OnTrack-Teilnehmerinnen werden Veteraninnen, Frauen aus Soldatenfamilien, Binnengeflüchtete, alleinerziehende Mütter und Frauen über 50 bevorzugt. Neben ihrer Altersgruppe wurde Walentyna auch als Binnengeflüchtete eingestuft.

„Ich habe in Mariupol gelebt. Mein Mann und ich hatten einen Lkw. Er war Lkw-Fahrer und ich war seine Logistikerin, Managerin, Köchin und alles andere. Ich verstehe diesen Beruf also sehr gut. Ich weiß, wie hart er ist und wie wichtig er ist“, sagt sie. Als Logistikerin stellt sich Walentyna die Straßen und Wege in der Ukraine wie Adern vor, durch die Blut fließt. Die russische Invasion hat dieses System ausbluten lassen, seine Harmonie gestört und den Verkehr zum Erliegen gebracht.
 
Ukrainische Autofahrer und Autofahrerinnen haben oft kleine Ikonen im Fahrzeug.

Ukrainische Autofahrer und Autofahrerinnen haben oft kleine Ikonen im Fahrzeug. | Foto: © Alexey Filippov


„Wir hatten eine lange und anstrengende Reise unter Beschuss hinter uns. Wir stiegen in ein kleines Auto, nahmen unseren Schwiegervater mit und fuhren nach Kyjiw, um unsere Tochter und ihre Katze abzuholen. Unser Lastwagen wurde von den Besatzern gestohlen und unser Haus niedergebrannt“, erinnert sich Walentyna schmerzlich an Mariupol. Sie weiß noch, wie sie auf den Fensterbänken ihrer Wohnung mit Blick auf das Asowsche Meer viele grüne Pflanzen stehen ließ. Und wie sie auf der Flucht bedauerte, ihren Nachbarn nicht die Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben zu haben, damit sie sie gießen konnten.

„Im Nachhinein wurde mir natürlich klar, wie lächerlich diese Idee mit den Pflanzen war, denn später mussten die Menschen in Mariupol das Wasser aus Pfützen und Heizkörpern trinken. Meine beste Freundin hat ihre Mutter eigenhändig im Vorgarten begraben. Das ist schwer zu begreifen“, sagt die Frau, die heute mit ihrem Mann in Browary bei Kyjiw lebt. In Mariupol hat sie nichts mehr.

„Mein Mann sagt, das sei gut so. Denn es gibt keinen Grund mehr, dorthin zurückzukehren“, tröstet sich Walentyna und versucht, ihr Leben weiterzuführen. Der Verlust ihrer Heimat und die strapaziöse Evakuierung haben sie dazu gebracht, ihr Leben neu zu überdenken und keine Chance mehr auszulassen. „Für mich ist das Wichtigste an diesem Projekt nicht einmal die Ausbildung. Es ist der Neuanfang, ein Beweis dafür, dass das Leben weitergeht. Für mich ist das eine sehr philosophische Erfahrung“, lächelt Walentyna.

Es fällt ihr zwar noch schwer, einen großen Lkw einzuparken und scharfe Kurven zu fahren, aber sie lernt mit Freude und positiven Gefühlen. Sie ist fest entschlossen, die Prüfung zu bestehen und gemeinsam mit ihrem Mann als Lkw-Fahrerin zu arbeiten. „Unsere Gesellschaft verändert sich, aber es gibt noch Raum für weitere Entwicklungen. Frauen fahren Traktoren, arbeiten auf den Feldern und kämpfen im Krieg. Ich wünsche mir, dass wir auch nach dem Krieg nicht auf Hautfarbe, Geschlecht oder andere äußerliche Unterschiede achten, sondern den Menschen als Menschen sehen“, sagt Walentyna, die angehende 7-Tonnen-Lkw-Fahrerin.
 

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