Gagausien in der Republik Moldau  An der Frontlinie im Informationskrieg

Moldauische und gagausische Flaggen vor dem Parlaments- bzw. Regierungsgebäude in Comrat, eine Leninstatue im Hintergrund.
Moldauische und gagausische Flaggen vor dem Parlaments- bzw. Regierungsgebäude in Comrat, eine Leninstatue im Hintergrund. Foto: © Yelizaveta Landenberger

Die Republik Moldau strebt in die EU. Doch kremlnahe Politiker*innen im autonomen Territorium Gagausien versuchen, die EU-Integration des Landes mit Desinformation zu unterbinden. Unterstützt werden sie dabei direkt aus Moskau. Es gibt gagausische Journalist*innen, die sich dagegen wehren, Einschüchterungen und Anfeindungen zum Trotz.

Es herrscht Feststimmung in gleich mehreren Städten der Republik Moldau am Nachmittag des 18. Mais, einem Samstag. In Taraclia, Bălți, Orhei und Comrat sind Zelte mit den Aufschriften „Russland“, „Belarus“, „Kasachstan“, „Kirgistan“, „Armenien“ aufgestellt. Dort werden von Menschen, die sich in nationale Kostüme dieser Länder verkleidet haben, kostenlose regionale Spezialitäten serviert. Die vertretenen Länder sind nicht zufällig gewählt, denn sie bilden die Eurasische Wirtschaftsunion, einen Binnenmarkt inklusive Zollunion, der 2015 aus der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft hervorging. Es gibt Rutschen, Tischkicker und Animateur*innen in Plüschkostümen, die die vielen Kinder bespaßen sollen — mit dabei sind das Krokodil Gena und Tscheburaschka, ikonische Trickfilm-Figuren aus der Sowjetunion. Bei einer Lotterie kann man neben kleineren Preisen wie Süßigkeiten und Teesets sogar ein Smartphone gewinnen.

Zu Gast ist der in Russland und im postsowjetischen Raum sehr bekannte, aus Bulgarien stammende russische Popsänger Filip Kirkorov — als Videoprojektion in der Stadt Taraclia. Er gratuliert allen Teilnehmenden zum Fest der Völkerfreundschaft und singt für sie ein Lied auf Rumänisch. Doch den Höhepunkt des Fests bildet eine andere Videoprojektion, nämlich die des wohl bekanntesten prorussischen Politikers Moldaus, Ilan Șor. Er verkündet den Start einer neuen Kampagne des von ihm frisch gegründeten „politischen Blocks“. Das Motto ist unzweideutig: „Stopp EU“ und „Nein zum EU-Beitritt!“ Ilan Șor zufolge würde die EU-Mitgliedschaft für Moldau — entgegen der Meinung von Wirtschaftsexpert*innen — hohe Preise für Gas, Strom und „eine gewaltige Armut“ bedeuten. Die Alternative, die er an diesem Tag den Menschen in Moldau mit dieser Show der Völkerfreundschaft bietet, scheint auf viele verlockend zu wirken. „Wenn wir uns Russland anschließen, werden wir ein reiches Moldau schaffen!,“ verkündet das Gesicht des Politikers auf der Leinwand.

Sie klingt wie ein Traum, diese „russische Welt“ samt Wirtschaftsunion, die an diesem Tag in Moldau Einzug hält. Was die russische Welt in der Realität bedeutet, wenn man sich gegen ihre imperialistischen Ambitionen stemmt, kann im Nachbarland Ukraine beobachtet werden: Luftalarm und Beschuss, Folter, Verschleppung, Tod. Aber bei Șor steht die Welt Kopf, denn er verkündet voller Überzeugung: „EU bedeutet Krieg, Russland bedeutet Schutz!“ Die Menge ist begeistert. Das Prinzip „Brot und Spiele“, um die Herzen der Menschen zu gewinnen, das beherrscht Ilan Șor perfekt.

Ilan Șor

Ilan Șor ist ein Unternehmer, Oligarch und Politiker, der 2019 vor der moldauischen Justiz nach Israel floh. Zusammen mit anderen Akteur*innen hatte er zwischen den Jahren 2012 und 2014 etwa eine Milliarde US-Dollar aus dem moldauischen Bankensystem entwendet — auch bekannt als „Diebstahl des Jahrhunderts”. Am 14. April 2023 wurde Șor deswegen in Abwesenheit zu 15 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, seine nach ihm benannte Partei wurde im Juni desselben Jahres verboten. Die Verfassungsrichter begründeten ihre Entscheidung damit, dass Politiker*innen der Șor-Partei wiederholt gegen die moldauische Verfassung verstoßen, durch Stimmenkauf und illegale Finanzierung die Souveränität und Unabhängigkeit der Republik Moldau bedroht hätten.

Doch das hielt den prorussischen Oligarchen nicht auf. Die mit ihm affiliierten Politiker*innen machten unter neuen Etiketten weiter, das neueste davon ist der am 21. April während eines sogenannten Kongresses oppositioneller moldauischer Parteien in Moskau — allesamt prorussisch — gegründete politische Block „Pobeda“ (auf Russisch, auf Rumänisch „Victorie“), zu Deutsch „Sieg“. Offiziell registriert ist er nicht. Die Feierlichkeiten am 18. Mai wurden von eben diesem Block organisiert.

Șor verfolgt die Strategie, Menschen mit kostenlosen Freizeitangeboten und „sozialen Projekten“ von sich zu überzeugen, was im armen Moldau bei vielen gut ankommt. So gibt es im ganzen Land ein Netzwerk von Sozialläden, in denen jeder Lebensmittel zu einem günstigeren Preis erwerben kann als im Supermarkt. 2018 eröffnete er in der Stadt Orhei, in der seine politische Karriere als Bürgermeister seinen Anfang nahm, in Anlehnung an Disney-Land den freilich etwas bescheidener ausgestatteten, allerdings kostenlosen Freizeitpark OrheiLand.

 

EU-Mitglied bis 2030 — zu ambitioniert?

Im Juni 2022 erhielt die Republik Moldau wie auch das Nachbarland Ukraine den EU-Beitrittskandidaten-Status. Zu diesem Zeitpunkt schien die Gefahr, dass Russland als nächstes die Republik Moldau militärisch besetzen könnte, sehr greifbar. Aber auch für die Zukunft ist sie nicht gebannt: Sollten es die russischen Truppen durch ukrainisches Territorium tatsächlich bis zum abtrünnigen Transnistrien schaffen, wo jedoch nach wie vor schätzungsweise 1700 russische Soldaten stationiert sind, hätte Moldau dem wenig entgegenzusetzen. Einerseits ist die moldauische Armee klein und schlecht ausgerüstet und das Land nicht NATO-Mitglied, andererseits ist auch die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung dank der Bemühungen von Ilan Șor und anderen kremlnahen Politiker*innen prorussisch. Sicherheitsexpert*innen sprechen von einer hybriden Kriegsführung, also einem Krieg mit Information statt mit militärischen Mitteln.

Am 14. Dezember 2023 wurde vom Europäischen Rat beschlossen, die Beitrittsverhandlungen mit Moldau zu eröffnen. Das Land hat es sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 der EU beizutreten — ein ambitionierter Plan. Bis dahin müsste neben zahlreichen Reformen eine Lösung für das de facto unabhängige, aber völkerrechtlich zur Republik Moldau gehörende prorussische Transnistrien gefunden werden — und auch der Rest des Landes hinter diesem Vorhaben stehen. Dieses Jahr dürfte entscheidend sein für die weitere Zukunft des Landes, denn am 20. Oktober stehen Präsidentschaftswahlen und ein Referendum über einen EU-Beitritt an, im nächsten Jahr folgen Parlamentswahlen. Aktuelle Umfragen des ThinkTanks WatchDog vom April dieses Jahres zeigen, dass 56,5 Prozent der Befragten für einen EU-Beitritt stimmen möchten, was knapp klingt. Allerdings gaben auch nur 25,2 Prozent der Befragten an, dass sie dagegen stimmen werden, der Rest ist unentschieden oder möchte nicht wählen gehen. Auf die Frage hin, ob sicher mit einem Ja zum EU-Beitritt zu rechnen ist, sagt Valeriu Pașa von WatchDog: „Ich glaube nicht, dass das Ergebnis völlig sicher ist, weil es eine sehr große, von Russland unterstützte Kampagne gegen den EU-Beitritt gibt. Das Ergebnis hängt stark davon ab, inwieweit es Russland und seinen Lügen gelingt, die moldauischen Wähler*innen mit Desinformation zu beeinflussen.“

Wir alle wollen also unbedingt den Krieg vermeiden, aber wir haben verschiedene Ansichten darüber, wie wir das erreichen können — und das ist gefährlich.“

Der gagausische Journalist Piotr Garciu

 

Die gagausische Karte — leichtes Spiel für Moskau?

Die Feierlichkeiten des „Festivals der Völkerfreundschaft“ ereigneten sich auch in Comrat, der Hauptstadt des autonomen Territoriums Gagausien im Süden der Republik Moldau, wo die Bevölkerung besonders prorussisch eingestellt ist.

Das autonome Territorium Gagausien

Gagausien ist kein zusammenhängendes Gebiet, sondern setzt sich aus einem größeren Territorium mit der Hauptstadt Comrat, einem Areal ganz im Süden um die Stadt Vulcănești sowie zwei kleinen Exklaven zusammen.

Noch bevor die Republik Moldau 1991 unabhängig von der Sowjetunion wurde, dies aber schon in der Luft lag, erklärte sich Gagausien 1990 als eigene Sowjetrepublik unabhängig von Moldau. 1994 einigte man sich auf eine erneute Eingliederung in die Republik Moldau, allerdings mit besonderen Autonomierechten. Anders als im de facto unabhängigen Transnistrien, kam es in Gagausien nie zu einem militärischen Konflikt. Gagausien verfügt über ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung und ein eigenes Staatsoberhaupt, den sogenannten Başkan, untersteht aber zugleich moldauischer Gesetzgebung.

Anfang Februar 2014 wurde in Gagausien ein zweiteiliges Referendum abgehalten. Damals stimmten rund 99 Prozent der Wähler*innen dafür, dass Gagausien seine Unabhängigkeit erklären solle, falls die Republik Moldau ihre Souveränität als Staat verlieren, sprich sich Rumänien anschließen sollte - ein ziemlich unwahrscheinliches Szenario. 98 Prozent stimmten zudem für einen Beitritt Moldaus zur von Russland geführten Wirtschaftsunion – und 97 Prozent gegen eine EU-Integration Moldaus. Das Referendum wurde von Chișinău als illegal eingestuft.

Laut offiziellen Angaben der gagausischen Regierung leben in Gagausien 155.646 Menschen, davon gehören 82 Prozent zur ethnischen Gruppe der Gagaus*innen, einem Turkvolk, das im 19. Jahrhundert aus Bulgarien in das heutige Territorium übersiedelte. Daneben leben in Gagausien auch je 5 Prozent Bulgar*innen und Moldauer*innen, sowie Russ*innen und Ukrainer*innen. Es gibt drei Amtssprachen: Neben dem Gagausischen, das für viele die Muttersprache ist, Russisch und „Moldawisch“, eine Bezeichnung aus sowjetischen Zeiten — im Rest Moldaus wird diese Sprache heute in der Regel Rumänisch genannt. Russisch ist von diesen drei Sprachen am weitesten verbreitet, es ist als lingua franca die Sprache der Politik, der Bildung und der meisten Medien in Gagausien.

Lage der Republik Moldau und des Territoriums Gagausien

Lage der Republik Moldau und des Territoriums Gagausien | © Claudia Wieczorek | Perspective Daily

Nicht nur nutzen die Menschen in Gagausien die russische Sprache im Alltag, weit verbreitet sind auch russischsprachige Nachrichtenkanäle, die oft eine prorussische Agenda verfolgen: Diese sind teils lokal und prorussisch, wie inzwischen auch die „öffentliche“ (so die Selbstbeschreibung) Sendeanstalt Gagauziya Radio Televizionu (GRT). Im Internet abrufbar ist beispielsweise auch die Seite gagauznews.com, die mit dem prorussischen gagauischen Politiker Victor Petrov in Verbindung steht. Zwar wurde die Seite als gagauznews.md wegen der Verbreitung von Kriegshetze und Befürwortung des russischen Angriffskriegs von den moldauischen Behörden verboten, doch sie funktioniert mit dieser geänderten Domain und ist ebenfalls in den sozialen Netzwerken aufzufinden. Ein anderer Teil der Informationen stammt direkt aus Russland: Viele Menschen beziehen über Kabelfernsehen weiterhin Kanäle aus Russland, obwohl diese nach der Großinvasion Russlands in die Ukraine eigentlich von der Republik Moldau verboten wurden. Hinzu kommt die zunehmende Bedeutung von TikTok, Telegram und sozialen Medien im Allgemeinen für den Bezug von Informationen, über die sich aber auch Desinformation besonders leicht und effektiv verbreitet.

Journalist*innen kämpfen gegen (pro)russische Desinformation

Obwohl Desinformation und prorussische Haltung, die in der Regel Hand in Hand gehen, in Gagausien sehr weit verbreitet sind, gibt es Akteur*innen, die sich dagegen wehren. Die einzigen beiden unabhängig arbeitenden Nachrichtenseiten in Gagausien, die russischsprachigen nokta.md und lauf.md, veröffentlichen regelmäßig Artikel, die Fake News und prorussische Propaganda aufdecken. Neben diesen Medien gibt es engagierte freiberufliche Journalist*innen: Piotr Garciu und Elena Celak kommen aus der Hauptstadt Comrat und starteten im April ihr russischsprachiges Projekt Fakty bez Fejkov (Факты без фейков — Fakten ohne Fakes). Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, in Videos, die sie auf verschiedenen Social-Media-Plattformen veröffentlichen, gezielt die beliebtesten prorussischen Narrative in Gagausien zu debunken. „Ein großes Problem nicht nur in Moldau, sondern weltweit, ist TikTok. Da braucht man keine Experten mehr, denn TikTok erklärt alles. Da wird jeder zum Experten für Geopolitik“, scherzt Garciu, „so kamen wir auf die Idee, Fakes im Videoformat auseinanderzunehmen, um die Leute zu anzusprechen. Denn es gibt immer mehr von diesen Fakes jetzt vor den Wahlen und dem Referendum, vor allem hier in Gagausien.“ Celak fügt hinzu: „Die moldauischen Politiker wenden sich in der  Regel in der Amtssprache Rumänisch an die Menschen. Aber hier in Gagausien verstehen sie nur wenige. Deswegen produzieren wir unseren Content auf Russisch, in der Sprache, die die Leute gewohnt sind und in der wir sie am ehesten erreichen können.“
 
Die Journalist*innen Piotr Garciu und Elena Celak betreiben seit April 2024 das Projekt „Fakty bez Fejkov“ (Fakten ohne Fakes) gegen Desinformation in Gagausien.

Die Journalist*innen Piotr Garciu und Elena Celak betreiben seit April 2024 das Projekt „Fakty bez Fejkov“ (Fakten ohne Fakes) gegen Desinformation in Gagausien. | Foto: © Yelizaveta Landenberger

Ein häufig anzutreffendes Desinformations-Narrativ sei eine angeblich bevorstehende Wiedervereinigung mit Rumänien. Auch mit Strömen von Geflüchteten, die angeblich von den EU-Ländern in die Beitrittskandidaten-Länder kommen sollen, werde gezielt Stimmung gemacht, so Garciu. Celak ergänzt: „Gagausische Politiker sagen, dass der EU und Amerika das Ende nahe. Sie sagen den Menschen immer wieder, dass Russland die einzige Rettung sei und wir bei Russland Schutz suchen müssten.“ Auch die sogenannten „traditionellen Werte“ und deren vermeintliche Zerstörung durch den Einfluss der LGBTQ-Bewegung sei ein beliebtes Narrativ. Garciu und Celak sind von der Wichtigkeit dessen, was sie tun, überzeugt: „Wenn 100 Menschen unser Video schauen und 30 davon irgendwelche Konsequenzen daraus ziehen, dann ist das schon gut. Um jeden Menschen muss man kämpfen. Wir geben auch Ratschläge, denn man muss die Medienkompetenz der Menschen erhöhen. Damit sie verstehen, dass nicht alles, was jemand auf TikTok oder YouTube erzählt, wahr sein muss“, so Garciu. Celak erklärt die prorussische Haltung vieler Gagaus*innen mit einer Kombination aus Nostalgie nach der Sowjetunion und der von kremlnahen Politiker*innen oder direkt vom Kreml gestreuten Desinformation, die bei den Menschen Gefühle der Angst und des Hasses auslöse.

Fact-checking in einem toxischen und misogynen Umfeld

Nach den Başkan-Wahlen, den Wahlen zum höchsten politischen Amt in Gagausien, ging im Mai Evghenia Guțul von der prorussischen und offiziell inzwischen verbotenen Șor-Partei als Wahlsiegerin hervor. Sie war früher unbekannt, ist rhetorisch wenig begabt und dient Ilan Șor als Marionette: Die Menschen in Gagausien wählten eigentlich ihn, bei Guțuls Wahlkampfveranstaltungen war er stets per Videoprojektion anwesend. Die Wahlversprechen umfassten unter anderem billiges Gas aus Russland und den Bau des Gratis-Vergnügungsparks GagauziyaLand. Guțul verbreitet immer wieder die Falschinformation, dass die Regierung in der moldauischen Hauptstadt Chișinău diese Pläne blockiere. So schrieb sie am 24. Mai auf Instagram: „Die Eröffnung von GagauziyaLand ist nicht nur unser Wahlversprechen. Das ist der Traum jeder Familie in Gagausien mit Kindern. Heute versuchen Sandu und die PAS [Partei der Aktion und Solidarität der liberalen, proeuropäischen Präsidentin Maia Sandu - Anm.d.Red.], unseren gemeinsamen Traum zu stehlen, denn jedes erfolgreiche Projekt in Gagausien ist ein weiterer Beweis für die völlige Inkompetenz und berufliche Untauglichkeit von Sandu und ihrem Team.” Dass es sich dabei schlichtweg um eine Lüge handelt und niemand den Bau innerhalb des rechtlichen Rahmens unterbindet, zeigen Recherchen von nokta.md und anderen Medien.

Piotr Garciu sagt, die Lage für Journalist*innen in Gagausien habe sich seit Guțuls Machtantritt zugespitzt: „Gerade sind radikale Menschen an der Macht. Viele von ihnen verstehen die Rolle der Presse nicht, beschimpfen Journalist*innen und führen sich allgemein unmöglich auf. Zum Beispiel wollte ich einmal bei einer Veranstaltung Evghenia Guțul eine Frage stellen. Der erste Vize-Başkan von Gagausien, Grigorii Uzun, sah mich, rief seine Leute, breit gebaute Kampfsportler, und blockierte mir den Weg.“ Elena Celak berichtet, Uzun habe sie und eine frühere Kollegin mehrmals gefragt, wieso sie sich in „männliche Gespräche einmischen“ und „dass Frauen ihren Platz kennen sollten“. Uzun ist bekannt dafür, Journalist*innen persönlich zu beleidigen. Auch der öffentliche Sender GRT sei unter Guțul nicht mehr unabhängig, findet Garciu: „Es gibt jetzt dort sogar Programme, die früher auf den Fernsehkanälen von Șor liefen und verboten wurden, zum Beispiel das Programm De Facto. Und wenn sie tatsächlich nie in Europa waren, dann glauben die Menschen eben dem, was da erzählt wird.“ Celak sagt: „Es werden immer dieselben Narrative wiederholt. Zum Beispiel: Die EU hat uns nichts gegeben, nur Russland steht zu uns.“ Die Realität sieht freilich ganz anders aus:  Die meisten Investitionen stammen schon lange aus der EU, viele davon für Infrastrukturerneuerung und -ausbau, also Projekte, die unmittelbar die Lebensqualität verbessern — doch den Menschen in Gagausien ist das oft nicht bewusst. Einerseits, weil die EU das nicht gut kommuniziert, andererseits, weil prorussische Desinformation sehr verbreitet ist.

Die Möglichkeit der EU-Integration bis 2030 sehen beide Journalist*innen skeptisch. Laut Celak liegt das Problem vor allem bei der Frage, was aus der abtrünnigen Region Transnistrien werden solle. Garciu meint, Moldau stürme mit diesen Plänen zu sehr voran, denn die Bevölkerung sei gespalten —  aktuell sei etwa nur die Hälfte für den EU-Beitritt. Moldau sei ein „Glückspilz-Land“, denn eine große Rolle dabei, dass Moldau überhaupt den EU-Beitrittskandidatenstatus erhalten habe, spielte, dass Russland die Ukraine überfallen hat. „Unsere Zukunft wird in der Ukraine bestimmt“, so Garciu, „am schlimmsten finde ich, dass die Leute hier in Gagausien wirklich auf Russland warten. Sie wissen nicht, was die russische Welt bedeutet und die vermeintliche Befreiung durch sie. Und dann gibt es da noch ein interessantes Moment. Die prorussisch eingestellten Leute denken: Wenn wir uns Russland nicht weiter annähern, dann wird es hier Krieg geben. Die proeuropäisch eingestellten sagen: Wir müssen der EU und der NATO beitreten, damit die russischen Truppen nicht hierher kommen und es keinen Krieg gibt. Wir alle wollen also unbedingt den Krieg vermeiden, aber wir haben verschiedene Ansichten darüber, wie wir das erreichen können — und das ist gefährlich. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft immer wütender wird. Der Hass wird durch das Internet und russische Propaganda befeuert. Ich denke wenn wir eine Woche lang Wladimir Solowjows Show [in der er regelmäßig mit Verschwöungserzählungen gegen den ‚kollektiven Westen‘ und die Ukraine hetzt - Anm. d. Red.], im russischen Staatsfernsehen schauen würden, würden wir selbst anfangen zu glauben, dass Putin ein toller Typ ist.“
 

Wahlen in Gagausien

Die Wahlen waren begleitet von Vorwürfen der Wählerbestechung. Die moldauische Präsidentin Maia Sandu hat die gewählte Başkan Evghenia Guțul immer noch nicht in die moldauische Regierung aufgenommen, obwohl der Başkan von Gagausien von Amts wegen eigentlich deren Mitglied ist. Das ist möglich, da das Gesetz keinen konkreten Zeitraum vorschreibt, innerhalb dessen die Aufnahme in die Regierung erfolgen muss.

Über die Wahl im kleinen Gagausien wurde in russischen Staatsmedien ausführlich und einseitig berichtet, es gibt offensichtliche Anleihen bei der russischen Berichterstattung zur Ukraine: „Das Regime Maia Sandus“ unterdrücke die russischsprachige Bevölkerung in Gagausien, unterdrückte politische Gegner, sei russophob. Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti titelte am 5. Mai gar: „Fatale Entscheidung. Moldau bewegt sich auf einen Bürgerkrieg zu“.

Im März 2023 postete Guțul in ihren Social-Media-Kanälen ein Foto mit Putin, das während eines Besuchs in Russland entstanden war. Vor Guțuls Rückkehr nach Moldau häuften sich Meldungen in den (pro)russischen Medien, die ihre sofortige Verhaftung bei ihrer Ankunft in Moldau vorhersahen, wegen der vermeintlichen „Repressionen“ durch Moldau — hierzu kam es aber nicht.

Aktuell läuft ein Gerichtsverfahren gegen Evghenia Guțul, am 27. Mai fand die erste Anhörung im Zentrum Chișinăus statt. Die moldauische Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, während ihrer Tätigkeit als Sekretärin für die Șor-Partei von 2019 bis 2022 systematisch und auf täglicher Basis Geld aus Russland nach Moldau gebracht zu haben, um die Parteitätigkeit auf illegale Weise zu finanzieren. Insgesamt geht es um eine Summe von 42,5 Millionen Lei, umgerechnet 2,2 Millionen Euro. In dem Dokument der Behörde heißt es außerdem, Guțul habe von Oktober bis November 2022 während der Anti-Regierungsproteste die Verantwortung über Namenslisten innegehabt, die die Bezahlung von Demonstrant*innen für ihre Teilnahme dokumentieren. Ihr drohen bis zu sieben Jahre Haft.

Gagausien als Exempel — wie der russische Imperialismus vorgeht

Dass der Kreml in der Tat Pläne verfolgt, die Republik Moldau bis zum Jahr 2030 mit hybriden Kriegsstrategien zunächst zu destabilisieren und schließlich in einen russischen Satellitenstaat zu verwandeln, geht unter anderem aus einem am 15. März 2023 von einem internationalen journalistischen Konsortium geleakten Dokument hervor. Es stammt aus der Abteilung für Beziehungen zu Nachbarländern des russischen Präsidialamtes. Darin wird beschrieben, dass eine „ablehnende Haltung gegen die NATO in der moldauischen Gesellschaft und in politischen Kreisen“ erzeugt und im Gegenzug die Beziehungen zu Russland durch die orthodoxe Kirche und die russische Sprache in Moldau gestärkt werden sollen. Als langfristige Ziele werden die „Schaffung stabiler prorussischer Einflussgruppen in den politischen und wirtschaftlichen Eliten Moldaus“, genannt, sowie die Integration Moldaus in die Eurasische Wirtschaftsunion und die Organisation eines Vertrags über kollektive Sicherheit. Es ist auch von der Eröffnung eines russischen Konsulats in der gagausischen Hauptstadt Comrat bis 2022 die Rede — wozu es bislang allerdings nicht kam.

Das Dokument erinnert stark an ein ähnliches Dokument vom Februar 2023, das Strategien für eine russische Kontrolle über Belarus bis 2030 beschreibt. Die Pläne in Moldau jedenfalls gehen zum Teil auf: Tatsächlich kam es von Herbst 2022 bis Juni 2023 regelmäßig zu von der inzwischen verbotenen kremlnahen Șor-Partei organisierten Kundgebungen gegen den pro-europäischen Kurs der Regierung. Dabei nutzte sie die Unzufriedenheit der Bürger über den Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg im Nachbarland und nicht wie behauptet durch die proeuropäische Politik der Regierung und von Präsidentin Maia Sandu.

Laut dem moldauischen Nachrichtenportal Newsmaker.md und zahlreichen anderen Medienberichten wurden die Demonstrant*innen für ihre Teilnahme an den Kundgebungen bezahlt. Inzwischen finden diese Proteste nicht mehr statt, aber prorussische Versammlungen in anderer Form und Desinformation gibt es zu genüge — auch das „Festival der Völkerfreundschaft“, das die Eurasische Wirtschaftsunion bewirbt, gehört in diese Kategorie.

Stresstest für die moldauische Demokratie

Obwohl Gagausien dünn besiedelt ist — gerade einmal 5 Prozent der moldauischen Bevölkerung lebt dort — wird es von Russland, wie die aktuellen Entwicklungen zeigen, für eine gezielte Destabilisierung Moldaus genutzt. In Gagausien kann aktuell beobachtet werden, wie prorussische Einflussgruppen geschaffen und eine ablehnende Haltung gegenüber der EU erzeugt wird, beides Punkte aus dem geleakten Strategiepapier.

Auf die Frage hin, ob der Einfluss der Entwicklungen in Gagausien auf die Stabilität des gesamten Landes vielleicht überschätzt wird, sagt Valeriu Pașa von WatchDog: „Vielleicht ein bisschen, aber eben auch in Moskau. Sie brauchen Gagausien als eine Art Insel mit starker prorussischer Einstellung, denn obwohl es klein ist, hat es einen autonomen Status und eine eigene Verwaltung. Das kann Russland ausnutzen, um Chișinăus Energie dauerhaft dorthin zu kanalisieren, sodass sie an anderer Stelle fehlt.“ Ein großes Problem ist auch, dass die EU zwar in Gagausien und Moldau investiert, dies aber nicht gut und transparent kommuniziert, so Pașa. Wissen über EU-Investitionen kommt nicht in den Köpfen an, die russische Desinformation schon.

Die Einflussnahme Russlands auf Gagausien stellt eine gewaltige Herausforderung für die moldauische Demokratie dar und gefährdet aktuell die EU-Integration des gesamten Landes. Sollte ein nachhaltiger EU-Beitritt erfolgen, so werden mehr effektive Strategien gegen prorussische Desinformation — aber auch eine bessere und überzeugende Kommunikation vonseiten proeuropäischer Kräfte benötigt.

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