Die Slowakei vor den Europawahlen  Vorsicht mit den Wünschen!

Wahlplakat in der zentralslowakischen Stadt Detva der Partei Hlas des designierten Präsidenten Peter Pellegrini: „Die Slowakei ist verletzt. Retten wir sie gemeinsam“
Wahlplakat in der zentralslowakischen Stadt Detva der Partei Hlas des designierten Präsidenten Peter Pellegrini: „Die Slowakei ist verletzt. Retten wir sie gemeinsam“ Foto: © Andrej Bán

Nach jahrelanger Passivität ist die europäische Debatte in der Slowakei angekommen. Vor den fünften Europawahlen, an denen die Slowak*innen teilnehmen, ist mit einer erheblich höheren Wahlbeteiligung zu rechnen. Profitieren könnten europaskeptische Kräfte.

Die Aussage, dass die Bürger*innen in der Slowakei bisher kein Interesse an den Wahlen zum Europäischen Parlament hatten, ist wirklich nur ein Euphemismus, denn die Slowaki*innen haben es geschafft, viermal in Folge den Rekord für die niedrigste Wahlbeteiligung aufzustellen, und bei Wahlbeteiligungen von unter zwanzig Prozent kann man eigentlich nur von Verachtung für die europäischen Politik sprechen.

Alles anders als bisher

Dafür gibt es sicherlich eine ganze Reihe von Gründen, aber zwei davon sind vermutlich am wichtigsten: Erstens haben die Slowak*innen bisher keine wirkliche Notwendigkeit und vielleicht nicht einmal die Möglichkeit gesehen, sich an der gesamteuropäischen Debatte zu beteiligen. Dies bedeutete jedoch nicht sofort unbedingt, dass sie die EU ablehnten, ganz im Gegenteil gehörte das Land lange zu den Nationen, die die EU stark befürworteten und ihr optimistisch gegenüberstanden. Aus Bratislava hörte man keinerlei Einwände gegen einen Verlust an Souveränität in den Bereichen Grenzkontrollen (Schengen), Währungspolitik (Euro) und auch nicht bezüglich der Beschneidung des Vetorechts (Vertrag von Lissabon).

Zwar stand die slowakische Regierung der „Rettung Griechenlands“ durch europäische Kredite eher negativ gegenüber, wollte diese Haltung tatsächlich jedoch nicht weiter aufbauschen, und da Robert Fico daraus kein „politisches Kapital“ schlagen wollte, sondern die Angelegenheit als Ministerpräsident sogar noch herunterspielte, gelang es ihm als geschicktem und pragmatischem Politprofi, das zu umschiffen.

Der zweite Grund ist, dass europäische Themen in der innenpolitischen Debatte nicht wirklich eine vordergründige Rolle spielten. Man war sich, vielleicht aus ideologischen oder auch nur rein pragmatischen Gründen darüber einig, dass die EU „gut“ ist (sowohl in Bezug auf politische und wirtschaftliche Faktoren oder einfach als Geldquelle) und auch darüber, dass die Slowakei zudem auch viel zu unbedeutend ist, als dass sich irgendjemand mit ihrer Haltung befassen müsste.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament wurden daher eher als unbedeutend angesehen. Für Soziolog*innen oder Journalist*innen dienten sie als Stimmungsbarometer und Thema für Kommentare, während die politischen Parteien die Europapolitik vorwiegend dazu nutzten, um zusätzliche Funktionen für Parteikader zu schaffen, was insbesondere für die „pro-europäischen“ Parteien galt, denen es gelang, die langfristige Hegemonie der sozialdemokratischen Partei Smer zu untergraben (2004 gewann die gemäßigte Demokratische Volkspartei SDKU von Mikuláš Dzurinda und 2019 die liberale Partei Progresívne Slovensko (Progressive Slowakei)).

Aber vor den fünften slowakischen Europawahlen können wir feststellen, dass nun im Land alles ganz anders ist.

Radikalisierung der politischen Landschaft

Für den Wandel der politischen Realität in der Slowakei und letztlich auch in Europa ist es vielleicht symptomatisch, dass keine der politischen Gruppierungen, die zu den Anwärtern auf den Sieg in der Slowakei zählen, zu den größten und traditionsreichsten europäischen Parteigruppen wie der Volkspartei auf der einen oder der Sozialisten auf der anderen Seite gehört. Während sich die Smer durch ihre Radikalisierung von der S&D-Fraktion abgespalten hat, gehört Progresívne Slovensko (PS) zur liberal-progressiven Gruppe Renew Europe.

Es ist ein Leichtes, das zentrale Ereignis und den Akteur dieser Veränderungen zu benennen: Das Ereignis ist der Krieg in der Ukraine und der Akteur ist die Partei Smer unter der Führung des radikalisierten Robert Fico.

Der Krieg in der Ukraine und damit in einem Nachbarland der Slowakei hat logischerweise die Außenpolitik nach 20 Jahren wieder in den Mittelpunkt der innenpolitischen Debatte gerückt, und Smer hat in noch nie dagewesener Weise verschärfte anti-europäische Positionen bezogen.

Und da Fico der Europäischen Union schon immer skeptisch gegenüberstand, hat er diese Motive und Argumentationen in den letzten Jahren offen zu einer antiwestlichen Kampagne ausgeweitet, in der er die EU, ihre Institutionen und führenden Mitgliedstaaten als kolonisierende und kriegerische Elemente darstellt, die die Souveränität und Sicherheit der Slowakischen Republik bedrohen.

So ist es auch nicht weiter überraschend, dass die zentralen Themen seiner Europakampagne „Frieden“ (den er aber nicht von Russland fordert, das den Krieg begonnen und ihn jederzeit von seiner Seite beenden könnte, sondern vom geheimnisvollen „Brüssel“) und der Schutz des Vetorechts als Symbol der Souveränität sind. Dass er dann in seiner Argumentation die Opponenten dieser Positionen als Kriegstreiber und Verräter bezeichnet, ist dann natürlich die logische Konsequenz der gewählten Strategie.

Auf der anderen Seite steht die Partei PS, die ihrerseits die radikale Rhetorik der Smer als Bedrohung für die Position der Slowakei im euroatlantischen Raum instrumentalisiert, sei es aufgrund autoritärer innenpolitischer Ambitionen der Regierung (die Abschaffung der Sonderstaatsanwaltschaft, die Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mittels einer Gesetzesänderung sind nur die augenscheinlichsten Änderungen) oder durch das Zerstören von Beziehungen zu Verbündeten und den Angriff auf die engsten Verbündeten.

Obwohl die oben genannten Positionen widersprüchlich sind, sind beide durch einen Eingriff der Außen- oder Europapolitik in den innenpolitischen Kampf gekennzeichnet. Während die Smer den „Westen“ als Quelle der Instabilität und als Bedrohung für Sicherheit und Souveränität ansieht, betrachtet die PS die slowakische Regierung als Risiko und die europäischen Institutionen als Pfeiler und Garanten der Demokratie. In gewisser Weise können diese Haltungen als komplementär und sich gegenseitig verstärkend angesehen werden.

Zweifel am Sieg der Progressiven

In der Slowakei sind die Wahlen zum Europäischen Parlament nun quasi der Höhepunkt einer Wahl-Trilogie: Zuerst gewann die Smer die Parlamentswahlen, dann gewann Peter Pellegrini als Kandidat der Fico-Regierung die Präsidentschaftswahlen und nun versuchen die Progressiven, die Wähler damit zu mobilisieren, „wenigstens etwas“ zu gewinnen. Dank der traditionell höheren Wahlbeteiligung „pro-westlicher Wähler“ waren sie bis vor kurzem auch die klaren Favoriten bei den EU-Wahlen.

Aber letztlich konnten sie sich da nicht so sicher sein.

Denn am Wahlsieg der Progressiven kamen schon vor dem Attentat an Premier Fico Zweifel auf, und zwar aufgrund von zwei Faktoren. Der erste ist ein erheblicher Anstieg der Wahlbeteiligung, der von Kommentator*innen und Expert*innen gleichermaßen vorhergesagt wird, und zwar auf 30 oder sogar 40 Prozent. In anderen Ländern wären dies durchschnittliche bis niedrige Zahlen, aber in der Slowakei würde dies einen Anstieg um ein Vielfaches im Vergleich zu früheren Europawahlen bedeuten.

Der zweite Faktor sind die versteckten radikalisierten Wähler der Regierungskoalition, die in einer schwer zugänglichen Welt von Verschwörungserzählungen im Internet und in den sozialen Medien leben, und die von den Umfragen nicht erfasst werden. Das sind hunderttausende Menschen und ihr Wahlverhalten hat dazu geführt, dass sowohl bei den Parlaments- als auch bei den Präsidentschaftswahlen die Ergebnisse erheblich von den vorherigen Hochrechnungen abwichen, und nun könnte das auch für die Europawahlen einen komplett anderen Ausgang bedeuten.

All das galt bereits vor dem Attentat auf Fico, aber seither haben sich die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der oben skizzierten Szenarien verdoppelt.

Dank der Reaktionen der Smer-Vertreter, aber auch aufgrund interner politischer Umstände, sind die Chancen auf einen Sieg für die Smer dramatisch gestiegen. Ein Attentat hätte ihre Wählerschaft unter jeglichen Umständen mobilisiert und hinzurechnen muss man auch die kleineren Koalitionspartner, also die sozialdemokratische Partei Hlas und die nationalistisch-konspirative SNS (Slowakische Nationalpartei), von denen sie weitere Unterstützung abschöpfen kann.

Die Umstände der diesjährigen Europawahlen in der Slowakei sind ein gutes Beispiel dafür, dass wir vorsichtig sein müssen bei dem, was wir uns wünschen. Die niedrige Wahlbeteiligung und die quasi nicht vorhandene Debatte über europäische Themen werden seit Jahren immer wieder öffentlich kritisiert, nun sieht es aber vorerst nicht so aus, als ob die gewünschten Änderungen dieser Situation tatsächlich auch qualitative Verbesserungen mit sich bringen könnten.

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