Die Ukraine und die Europawahlen  Zwischen Moskau und Euroskepsis

Die Ukraine und die Europawahlen Foto: Nataliya Melnychuk via Unsplash | CC0 1.0

Wie sehr stellen antieuropäische politische Parteien eine Bedrohung für die Ukraine und das vereinte Europa dar, und welche Gefahren können die Wahlen zum Europäischen Parlament für die europäische Integration der Ukraine bergen? Wir haben Experten gefragt.

Die diesjährigen Europawahlen sind die zehnten seit den ersten Direktwahlen im Jahr 1979. Sie werden die ersten sein, nachdem das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausgetreten ist und der große Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen hat. Die Themenfelder Zukunft der Europäischen Union, Sicherheit Europas und Russlands Krieg gegen die Ukraine sind heute eng miteinander verbunden. Während Russland von außerhalb das Gleichgewicht der EU durch Desinformation, sowie politische und energiepolitische Hebel stört, besteht auch innerhalb der EU die Gefahr, dass radikale Euroskeptiker*innen im neuen Parlament mehr Stimmen erhalten könnten und die Rolle von Moskaus Einflussagent*innen übernehmen.

Auf die Gefahr eines Bündnisses aus antieuropäischen und antiukrainischen Kräften wies bereits die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, während der Eurovision Debate 2024 der Kandidat*innen für den Chefposten der EU-Kommissions hin. „Es ist sehr wichtig, klare Grundsätze festzulegen, mit wem unter den Mitgliedern des Europäischen Parlaments wir zusammenarbeiten möchten. Dafür gibt es drei Kriterien. Die erste ist, dass sie [politische Kräfte – Anm. d. Red.] proeuropäisch sein müssen. Zweitens müssen sie proukrainisch sein, das heißt gegen Putin sein. Und drittens müssen sie sich für die Rechtsstaatlichkeit einsetzen“, betonte von der Leyen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen legt also bei ihrer Kandidatur für eine zweite Amtszeit Pro-Europa, Pro-Ukraine und Rechtsstaatlichkeit als Bedingungen für die Zusammenarbeit mit anderen Parteien fest.
 

Die Ukraine braucht ein Europäisches Parlament, das die Notwendigkeit der EU-Erweiterung, die strategische Bedeutung der Ukraine und die Notwendigkeit, ihr im Krieg gegen Russland zu helfen, versteht.“

Der polnische Politologe Łukasz Adamski

Drohende Euroskepsis: Polnischer Akzent

Der polnische Politologe Łukasz Adamski, stellvertretender Direktor des Juliusz-Mieroszewski-Zentrums für Dialog, glaubt, dass bei diesen Wahlen ein gewisses, wenn auch geringes Risiko für die Ukraine besteht. „Die Ukraine ist an einem schnellen Tempo von Beitrittsverhandlungen mit der EU interessiert, jetzt wird es jedoch viele schwierige Gespräche auf technischer Ebene geben. Zudem muss das Verfahren zur Genehmigung der Verhandlungsergebnisse im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat durchlaufen werden, gefolgt von der Ratifizierung des Beitrittsvertrags in jedem EU-Mitgliedstaat. Und es ist unwahrscheinlich, dass einige Länder wie zum Beispiel Frankreich die Idee eines Verfassungsreferendums über den Beitritt neuer großer EU-Mitglieder aufgeben würden. Genau deshalb braucht die Ukraine ein Europäisches Parlament, das die Notwendigkeit der EU-Erweiterung, die strategische Bedeutung der Ukraine und die Notwendigkeit, ihr im Krieg gegen Russland zu helfen, versteht“, sagt Adamski. Der Politologe macht darauf aufmerksam, dass es in europäischen Ländern drei Gruppen von Parteien gibt, die zur europäischen Integration im Allgemeinen und zur europäischen Integration der Ukraine im Besonderen unterschiedliche Einstellungen haben. „Die ersten, nennen wir sie Mainstream, sind die Parteien, die immer noch das Europäische Parlament kontrollieren. Die größte davon ist die Europäische Volkspartei, theoretisch gesehen ist das ein Zusammenschluss christdemokratischer Parteien. Im heutigen Europa bedeutet jedoch Christdemokratie zentristische Parteien, die sehr wenig mit Christentum zu tun haben. Dann folgen die Sozialdemokraten und Liberalen“, erklärt er.
 
Łukasz Adamski, stellvertretender Direktor des Juliusz-Mieroszewski-Zentrums für Dialog, Polen. Łukasz Adamski, stellvertretender Direktor des Juliusz-Mieroszewski-Zentrums für Dialog, Polen. | Foto: © privat Zur zweiten Gruppe zählt der Politologe Parteien, die die Ukraine unterstützen, gleichzeitig aber der Meinung sind, dass die Integration der Europäischen Union in die falsche Richtung geht, da sie glauben, dass die EU immer mehr Befugnisse an sich ziehen will, den Spielraum für eigenständige Politik einschränkt und sich Brüssel in innere Angelegenheiten wie die Justiz einmischt. „Zum Beispiel ist die polnische PiS, die die Ukraine unterstützt, nicht gegen die europäische Integration an sich, aber gegen die vorherrschende Vision der zukünftigen europäischen Integration“, betont er. Die eigentliche Gefahr für die Ukraine gehe also ausschließlich von euroskeptischen Parteien aus, die der Experte in die dritte Gruppe von Parteien einordnet. „Journalisten nennen sie Populisten, und ich würde sie als Euroskeptiker bezeichnen. Hier sind oft russische Einflüsse sichtbar. Auch wenn es keine direkten Einflüsse gibt, dann sind viele ihrer Slogans immer noch für Moskaus Politik nützlich. Denn diese Parteien fordern beispielsweise, die Abhängigkeit von den USA zu verringern. Sie betonen auch, dass Russland nicht besiegt werden kann und der Krieg so schnell wie möglich beendet werden muss, wenn nicht durch die Kapitulation der Ukraine, dann durch einen für die Ukraine ungünstigen Waffenstillstand. Es sind sie, die oft behaupten, Russland habe historische Rechte auf ukrainisches Gebiet“, sagt Adamski.

Die Gefahr von euroskeptischen Parteien, so der Politologe, wird in Zukunft bestehen bleiben und könnte später eine noch größere Bedrohung darstellen als jetzt. „Die Hauptgefahr besteht darin, wie viele Stimmen diese dritte Gruppe in der gesamten EU erhält. Je mehr, desto lauter wird ihre Stimme. In fünf Jahren könnten sie noch mehr Unterstützung gewinnen und dann den Prozess des EU-Beitritts der Ukraine wirklich behindern.“
 

Slowakischer schwarzer Schwan – Das Attentat auf Robert Fico

Eine ähnliche Gefahr für die Ukraine durch euroskeptische Parteien sieht der slowakische Politologe und Vorsitzende des Instituts für öffentliche Angelegenheiten (Inštitút pre verejné otázky, IVO) Grigorij Mesežnikov. Er merkt an, dass das politische Leben in der Slowakei derzeit weiterhin von einem Hauptereignis beeinflusst wird, und zwar dem Attentat auf den amtierenden Premierminister Robert Fico, das am 15. Mai 2024 in der Stadt Handlová stattfand, und bei dem Robert Fico lebensgefährliche Schussverletzungen erlitt. Darüber hinaus, so der Politologe, veränderte dieses schreckliche Ereignis das alte Verhaltensmodell der slowakischen Wähler*innen während der Wahlen zum Europäischen Parlament.
 
Grigorij Mesežnikov, slowakischer Politologe, Vorsitzender des Instituts für öffentliche Angelegenheiten

Grigorij Mesežnikov, slowakischer Politologe, Vorsitzender des Instituts für öffentliche Angelegenheiten | Foto: © privat

„Seit 2004 gab es in der Slowakei ein solches Modell. Erstens war die Wahlbeteiligung sehr niedrig. Zweitens zeigten Wahlen gute Ergebnisse für zwei Typen von Parteien. Der erste Typ waren Parteien, deren Programme mit der Europäischen Union verbunden waren, eurooptimistische Parteien und Wähler. Zu dem zweiten Typ gehörten Parteien mit einem antieuropäischen Programm. Die erste Gruppe war stärker, die zweite schwächer, aber dazwischen lag der parteipolitische Mainstream“, betont Mesežnikov. Der Politikwissenschaftler merkt an, dass dieses Modell vor dem Attentat auf Fico von Wahl zu Wahl wiederholt wurde, nun ist es aber gebrochen. „Jetzt überholt Smer, die Partei von Robert Fico, in den Umfragen die Partei Progressive Slowakei, die zuvor die Wahlen zum Europäischen Parlament in der Slowakei gewonnen hatte, obwohl sie nicht ins nationale Parlament kam. Das Attentat steigerte Ficos Popularität“, erklärt Mesežnikov. Dabei betont der Experte die Schwäche des Smer-Programms in Bezug auf die Europäische Union selbst, obwohl er nicht glaubt, dass Smer und Robert Fico damit beginnen werden, den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union zu blockieren. „Mit seiner politischen Partei im Europäischen Parlament wird es schwieriger. Gleichwohl vertreten sie noch nicht die ungarische Position, die gegen den Beitritt der Ukraine zur NATO und gegen ihren Beitritt zur EU opponiert“, prognostiziert der Politikwissenschaftler.

Die wahre Gefahr für die Ukraine sieht der slowakische Politologe in den rechtsextremen und euroskeptischen politischen Kräften der Slowakei und ganz Europas. „Vielleicht mit Ausnahme der Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) von Giorgia Meloni, obwohl es auch dort Fragen gibt, stimmt die extreme Rechte immer für Russland, sie ist gegen Resolutionen zur Unterstützung der Ukraine“, betont Mesežnikov. Dieses Phänomen erklärt der Politologe mit gemeinsamen doktrinären Grundlagen zwischen dem Kreml und den Euroskeptikern. „Russland hat eine negative Einstellung zur liberalen Demokratie, und unterstützt Nationalismus und die Betonung der ‚Souveränität‘. Moskau braucht europäischen Staaten, die die Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union verweigern“, resümiert Mesežnikov.
 

Ein steiniger Weg ohne Applaus

So haben zwar die slowakische und die polnische nationale Politik unterschiedliche Landschaften und sie unterscheiden sich in ihrer Haltung zur Ukraine, aber sie eint der Umstand, dass die Stärkung von Positionen euroskeptischer politischer Kräfte im Europäischen Parlament ein potenzielles zusätzliches Problem für den bereits komplexen und langen Prozess der europäischen Integration der Ukraine darstellen. Obwohl die Bildung einer euroskeptischen Mehrheit im Europäischen Parlament immer noch als unrealistisches Szenario gilt, wird eine mögliche Zunahme der Zahl der Euroskeptiker*innen dazu führen, dass die Regierungsparteien ihre Rhetorik und Ziele gegenüber ihren politischen Gegner*innen aus dem euroskeptischen Lager anpassen müssen. Dies birgt zusätzliche Risiken für die Ukraine, die vor dem Hintergrund eines langwierigen Zermürbungskrieges gegen Russland, des Mangels an finanziellen Ressourcen, leistungsfähigen Institutionen und Humankapital möglicherweise nicht in der Lage ist, die technischen und politischen Aufgaben der europäischen Integration zu bewältigen.

Ein solches Szenario würde wiederum neue Nahrung sowohl für die russische antieuropäische Propaganda als auch für die euroskeptischen Gegner der europäischen Integration der Ukraine in den Ländern der Europäischen Union bieten. Längerfristig ginge es um die zunehmende Euroskepsis in der Ukraine selbst. Werden die ukrainischen Politiker*innen, Beamt*innen und Diplomat*innen, die wegen des Krieges etwas emotional sind, mit einem solchen Szenario umgehen können? Diese Frage bleibt vorerst offen. In jedem Fall werden sie mit dem Europäischen Parlament zusammenarbeiten müssen, das die Europäer*innen vom 6. bis 9. Juni wählen werden. Und es ist nötig, sich für die Arbeit mit den Partner*innen auf einen langen und schwierigen Marathon einzustellen, und nicht in einem effektvollen und verlockenden Turbomodus zu agieren.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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