Bibliotheken im Krieg  „Sie haben Schießscharten aus den Bücherregalen gebaut...“

„Sie haben Schießscharten aus den Bücherregalen gebaut...“ Illustration: © Tetiana Kostyk

Welche Rolle spielen Bibliotheken für das kulturelle Leben und den Wiederaufbau von Gemeinden? Warum erstreckt sich die russische Aggression auch auf Bücher? Wie gehen Bibliothekar*innen in der Ukraine weit über ihre berufliche Verantwortung hinaus und retten nicht nur die Kultur, sondern auch das Leben der Leser*innen? Die Schriftstellerin Kateryna Yehorushkina erzählt.

Als die Region Kyjiw befreit wurde, ging ich dorthin, um Zeugenaussagen zu sammeln. Meistens trafen wir uns in Bibliotheken oder in der Nähe ihrer Ruinen. In den Orten Iwankiw, Irpin, Busowa und Obuchowytschi. Dann kamen Tschernihiw und eine Reihe von Bibliotheken in der Region Mykolajiw. Manchmal war ich auf eigene Faust unterwegs, manchmal mit dem Team von PEN Ukraine. Einige der Geschichten sind in meinem Aufnahmegerät gespeichert, andere in meinem sensorischen Gedächtnis: der Geruch von halb verbrannten, feuchten Büchern, das Geräusch von zerbrochenem Glas unter meinen Füßen, der Duft von Parfüm und die festliche Frisur einer Bibliothekarin, die zwei Monate zuvor die russische Okkupation erlebt hatte. Wir brachten Kisten mit neuen Büchern, und die Menschen erzählten uns ihre Geschichten.
 
Kateryna Yehorushkina mit einem „verwundeten“ Buch, zu dem sie als Autorin ein Kapitel beigesteuert hatte. Obuchowytschi, Oblast Kyjiw

Kateryna Yehorushkina mit einem „verwundeten“ Buch, zu dem sie als Autorin ein Kapitel beigesteuert hatte. Obuchowytschi, Oblast Kyjiw | Foto: © Kateryna Yehorushkina

Schießscharten

Mai 2022. Wir fahren über eine provisorische Pontonbrücke über den Fluss Irpin in Richtung der Tschernobyl-Zone. Wir halten an einem Kreisverkehr mit einem riesigen Betonei, das die Wiedergeburt des Lebens nach der Katastrophe symbolisiert. Es ist das Werk eines deutschen Architekten, das um die Jahrtausendwende hier aufgestellt wurde. Die Erde ringsherum ist übersät mit Patronenhülsen und Munition. Etwas weiter entfernt liegt das über 500 Jahre alte Dorf Obuchowytschi, das nicht zum ersten Mal Krieg und Besatzung erlebt hat.

Die Dorfbewohner*innen sagen, dass alles sehr schnell ging, weil niemand dachte, dass die Russen durch das verseuchte Tschernobyl-Gebiet angreifen würden. Wir betreten die örtliche Bücherei. Die Fenster sind zerbrochen, der Kronleuchter ist zerschossen, die von Granatsplittern beschädigten Bücher stapeln sich auf dem Boden. Darunter erkenne ich einen Sammelband über berühmte ukrainische Frauen, zu der ich eine Geschichte über die Patronin der Mohyla-Akademie in Kyjiw, Halschka Hulewytschiwna, beigesteuert habe. Es ist merkwürdig, ein Buch in den Händen zu halten, das vom Tod berührt wurde.

Die Mitarbeiterinnen räumen das Chaos auf und erzählen mir, dass die Russen die Bibliothek besetzt, sich hier eingenistet und gezielt patriotische Publikationen vernichtet haben. „Sie haben Schießscharten aus den Bücherregalen gebaut...“, sagt die Bibliothekarin Olena Schumak, und ich bemerke die Löcher für die Gewehre zwischen den Büchern. Ich nehme das Buch Geographie der Ukraine in die Hand und schlage es auf einer beliebigen Seite auf. Ich schaue mir das Kapitel Ursprung des Namens Ukraine an und ziehe einen Geschoßsplitter heraus. Aus irgendeinem Grund fühle ich dieses Loch im Buch wie eine Wunde, die mit etwas bedeckt werden muss. Aber ich weiß nicht, womit. Und ich weiß nicht, ob diese Wunde jemals heilen wird, indem all die Buchstaben, die in den Abgrund gerissen wurden, wieder auf die Seiten zurückkehren. Seitdem trage ich diesen Splitter in meiner Handtasche.
 
Ein durchschossenes Buch in Obuchowytschi, Oblast Kyjiw

Ein durchschossenes Buch in Obuchowytschi, Oblast Kyjiw | Foto: © Kateryna Yehorushkina

 

Kothaufen

„Was waren meine ersten Gedanken, als ich die Bibliothek betrat? Ich werde es nicht aussprechen, weil es nur Schimpfwörter sind“, sagt Olena Schumak. Mitten zwischen den Bücherregalen und beschädigten Bänden haben die Besatzer einen Kothaufen gemacht. Solche Geschichten höre ich nicht zum ersten Mal. In derselben Region haben die Invasoren einen Kothaufen auf dem Schreibtisch — und noch dazu auf einem schönen dekorativen Teller! – hinterlassen, im Arbeitszimmer des Dorfvorstehers, der sich weigerte, mit ihnen zusammenzuarbeiten. An einem anderen Ort fand man einen Haufen auf der Bühne des Versammlungssaals. Offensichtlich ist dies das größte Talent, das die Invasoren an den Tag legen konnten.

Zu den Büchern, die in kleine Stücke gerissen wurden, gehörten: Die Gründung der Organisation Ukrainischer Nationalisten von Zynoviy Knysh, Ich werde die Ukraine nicht sterben lassen von Lewko Lukjanenko und Die Ukraine ist nicht Russland von Leonid Kutschma. Olena vermutet, dass das letztgenannte Buch nicht wegen seines Patriotismus, sondern wegen seines Titels zerrissen wurde. Die Okkupanten stahlen aber auch einige Bücher in russischer Sprache. Darunter: Fifty Shades of Grey von Erica Leonard James und Das blutige Jahrhundert des ukrainischen Historikers Myroslaw Popowytsch. „Ich habe nichts dagegen, wenn sie Popowytsch lesen. Wenn es ihnen etwas bringt...“, sagt Olena. Nach der Befreiung wurden die meisten russischen Bücher aussortiert, aber die beschädigten ukrainischen Bücher wurden behalten. Nach ein paar Wochen war die Bibliothek wieder in Betrieb: „Wir haben zwei oder drei Regale instand gesetzt, und die Leute kommen wieder. Sie leihen sich Bücher aus, um sich zu beruhigen...“.
 
Kateryna Yehorushkina mit Leserinnen in einer Bibliothek in Mykolajiw

Kateryna Yehorushkina mit Leserinnen in einer Bibliothek in Mykolajiw | Foto: © Kateryna Yehorushkina

Glas

Bei einem Luftangriff am 11. März 2022 wurde das Gebäude der regionalen Kinder- und Jugendbibliothek in Tschernihiw fast vollständig zerstört. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, aber ich kann nur einen Teil der Fassade mit einem Loch in der Mitte sehen. Auch die zentrale Stadtbibliothek von Tschernihiw wurde bei einem weiteren Treffer beschädigt. Die Bibliothekarin Olena Tereschtschenko rettete mit ihren Kolleg*innen und freiwilligen Helfer*innen Kinderbücher, die voller Glassplitter waren. Um sicherzugehen, dass die kleinen Leser*innen sich nicht verletzen, „haben wir jedes Buch sorgfältig untersucht, ausgeschüttelt und abgewischt. Zweimal. Damit wir nichts übersehen“, erinnert sich Olena. Das haben sie mit allen 30.000 Exemplare gemacht. „Bücher, die durch das Glas stark beschädigt waren, wurden aussortiert.“ Das waren etwa 5.000 Stück.

Zweimal ausgeschüttelt und abgewischt.
30.000 Exemplare.
Märchen, ABC-Bücher, Comics...

Nun konnte ein Kind durch ein Buch nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinne verletzt werden. Also schützten die Erwachsenen die Kinder auch auf diese Weise. „Das Wertvollste war, dass die Leute ihre Hilfe anboten, um die Bibliothek in Ordnung zu bringen ... Sie brachten Bücher aus ihren eigenen Bibliotheken, Brettspiele, Spielzeug. Sie hinterließen ihre Telefonnummern, falls wir ihre Hilfe brauchen sollten. Das war sehr ergreifend“, sagt Olena.
 
Kateryna Yehorushkinas Kinderbuch „Unser Kosmos unter dem Bett“ vor einer zerstörten Bibliothek in der Oblast Mykolajiw

Kateryna Yehorushkinas Kinderbuch „Unser Kosmos unter dem Bett“ vor einer zerstörten Bibliothek in der Oblast Mykolajiw | Foto: © Kateryna Yehorushkina

Der Ordner

Manchmal setzten Bibliothekar*innen ihr Leben aufs Spiel, um ihre Mitmenschen zu retten. Schließlich kann das gedruckte Wort nicht nur ein Teil der Kultur sein, sondern auch ein Grund zum Töten. „Am 13. März kam ein Dorfbewohner zu uns und erzählte Folgendes: In der Dorfverwaltung von Katjuschanka haben die Ruschisten Dokumente mit Fotos von ATO-Soldaten [ATO — Anti-Terror-Operation, Militäreinsatz der ukrainischen Streitkräfte im Zuge des Krieges im Donbas 2014-2022 — Anm. d. Übers.] gefunden, jetzt wird nach diesen Leuten gefahndet, sie werden verhaftet und gefoltert. Das war ein Schock für mich, denn in der Bibliothek von Sosnivka gab es im Ordner ‚Unsere Leute – ATO-Soldaten‘ Fotos und Biografien von Einheimischen...“, erinnert sich die Bibliothekarin Ljubow Slobodjan aus der Region Kyjiw. Feindliche Fahrzeuge fuhren ständig die Hauptstraße entlang, so eilte die Frau zur Bibliothek, durch Felder und Gemüsegärten, versteckte sich im Gestrüpp. Sie sah die aufgebrochene Tür, umgestürzte Bücherregale und zwischen den Büchern den besagten Ordner. Sie versteckte ihn unter ihrer Jacke. Und da kamen gerade die „Ruschisten“ angefahren. Aus Angst vor einer Durchsuchung warf Ljubow den Ordner in den Ofen, verbrannte das, was für jemanden ein Todesurteil hätte werden können, und rannte durch Gestrüpp und Unkraut zurück nach Hause.

Unter Wasser

Es gibt Gebiete, die nur mit einem speziellen Passierschein betreten werden dürfen, weil dort immer wieder Zivilist*innen und freiwillige Helfer*innen ums Leben kommen. So auch auf der Insel Korabel in Cherson. Ich spreche mit Halyna Nezhynska, der Leiterin des zentralisierten städtischen Bibliothekssystems. „Unsere Insel war sehr schön, grün, mit Springbrunnen, Rosen und Segelschiffen. Den Bewohnern gefiel es so gut, dass sie nicht einmal ins Stadtzentrum gehen wollten, um etwas zu erledigen. Wir hatten hier alles: eine Schule, einen Kindergarten und sogar eine nagelneue Bibliothek, die 2016 eröffnet wurde. Sie hieß Öko-Bibliothek. Es gab viele Bücher zu Umweltthemen, einen Naturkundeverein, Chorproben... Kurzum, das Leben pulsierte“.

Mit Beginn der Invasion und der Besatzung wurde die aktive Arbeit eingestellt, und erst nach der Befreiung nahm die Bibliothek — trotz ständiger Bombardierungen — ihren Betrieb wieder auf. „Die Menschen waren verwirrt und brauchten dringend Unterstützung“, sagt Halyna. So diente die Bibliothek neben ihrer Hauptaufgabe auch als humanitäres Zentrum. Ein Psychologe arbeitete ehrenamtlich, Medikamente und Hilfsgüter wurden herangeschafft. „Wir waren wie eine Notrufzentrale“, sagt Halyna halb im Scherz. Doch dann kam der nächste Schlag: In der Nacht zum 6. Juni 2023 sprengte das russische Militär das Wasserkraftwerk Kachowka. Die Flutwelle war so stark, dass die Mitarbeiter*innen Angst hatten, das Gebäude würde weggespült. Die Bibliothek überlebte, stand aber bis zum zweiten Stock unter Wasser. Erst einen Monat später, als das Wasser zurückging, konnten die Bibliothekarinnen an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Die Computer waren rostig und vom Wasser durchtränkt, die Regale und Bücher von Schimmel bedeckt, die Wände bröckelten, und zwischen den Büchern schwamm eine einst sorgfältig getrocknete Herbariensammlung des Naturkundevereins. Die Bibliothekarin stand da und weinte. Die Öko-Bibliothek war ein weiteres Opfer des russischen Ökozids geworden. „Wir hoffen, dass wir unsere schöne Bibliothek wieder aufbauen können“, sagt Halyna, „denn es gibt keine andere Lösung. Wir unterstützen nicht nur uns selbst, sondern auch die Gemeinschaft der Stadt.“
 
In der Öko-Bibliothek auf der Insel Korabel in Cherson: Von Wasser und Schimmel zerstörte Bücher werden aussortiert.

In der Öko-Bibliothek auf der Insel Korabel in Cherson: Von Wasser und Schimmel zerstörte Bücher werden aussortiert. | Foto: © Kateryna Yehorushkina

Mülltonne

Ende November 2023 unternahm ich mit dem Team des PEN Clubs Ukraine und meinen Schriftstellerkolleg*innen eine Freiwilligenreise in die Bibliotheken der Region Mykolajiw, um mit den Menschen dort zu sprechen und ihnen zuzuhören. Wir wollten ihnen auch von den Hunderten von Büchern erzählen, die wir mitgebracht hatten, um die örtlichen Bestände aufzustocken. Dann sitzen wir im geräumigen Lesesaal der Bibliothek von Snihuriwka. Vor der Invasion gab es hier ein Computerzentrum, aber während der Besatzung haben die Russen alle Computer gestohlen. Die Bibliotheksleiterin Alisa Kosey sagte: „Seit dem 14. März befand sich unsere Gemeinde in der aktiven Kampfzone. Vom 19. März bis zum 9. November waren wir unter russischer Besatzung und wurden am 10. November befreit. Die russischen Truppen besetzten sofort die Bibliothek. Auf den Blumenbeeten vor der Bibliothek befand sich ein Kontrollposten mit gepanzerten Mannschaftswagen. Von hier aus wurden Granaten abgefeuert. Die Leute im Dorf hatten Angst, nach draußen zu gehen.“ Die Erinnerungen von Alisa werden von Tetiana, die ebenfalls in der Bibliothek arbeitet, ergänzt: „Als wir sahen, dass eine Militäreinheit abfuhr und die neue noch nicht angekommen war, gingen wir in die Bibliothek, kontrollierten sie, schlossen die Türen... Einmal sahen wir Bücher im Müll. Es waren patriotische Bücher: über die ATO, über unsere ‚Cyborgs‘ [Cyborgs ist die Bezeichnung für die ukrainischen Kämpfer, die im russisch-ukrainischen Krieg vom 26. Mai 2014 bis zum 22. Januar 2015 den Flughafen Donezk und seine Umgebung verteidigten. — Anm. d. Übers.]... Auch hinter den Containern gab es viele Bücher. Also kletterte ich in die Mülltonne und holte die Bücher heraus... Einige waren nass, aber jedes Buch ist ein wertvoller Schatz für unsere Bibliothek! Also brachte ich sie zurück und trocknete sie... Das bleibt mir am stärksten in Erinnerung“.

Nach der Befreiung von Snihuriwka mussten die ukrainischen Militärangehörigen monatelang das Chaos beseitigen. „Alles war verstreut, zerbrochen... Wir hatten Angst, dass das Gebäude vermint sein könnte, denn hier waren Sprengstoffexperten und Pioniere stationiert. Ein schrecklicher Anblick! Das Dach, die Türen, die Heizung, die Fenster waren zerstört. Alles war geplündert... Nur ein Drittel des Bestandes blieb übrig“, fügt Alisa hinzu. Unter den Büchern, die das Zusammenleben mit den Besatzern unter einem Dach überlebt haben, erkennen wir einige von unseren Büchern wieder. Diese Bücher hatten Glück.
 
Die Überreste russischer Geschosse dienen in dieser Bibliothek in der Oblast Mykolajiw als Ständer für Blumentöpfe.

Die Überreste russischer Geschosse dienen in dieser Bibliothek in der Oblast Mykolajiw als Ständer für Blumentöpfe. | Foto: © Kateryna Yehorushkina

Grillfeuer

Die Menschen, die die Besatzungszeit überlebt haben, haben meist einen anderen Blick — traurig und ein wenig verbittert. Viele, vor allem Männer, wurden „in den Keller“ [„in den Keller“ meint in den besetzten Gebieten „in die Folterkammer“ – Anm. d. Übers.] verschleppt. Einige Nachbar*innen haben ihre Kinder in der Besatzungsschule angemeldet. Es gibt viel Schmerz und Misstrauen. Vor allem haben die Menschen Angst vor einer Wiederholung, so dass das Leben in der Nähe der Frontlinie für sie psychisch angenehmer ist als unter der Besatzung. Für diese Menschen liegt das Schlimmste schon hinter ihnen.

Mehrere Bewohner*innen der Gemeinde Snihuriwka haben eine gemeinsame Erinnerung: Die Besatzer wollten am Fluss eine Grillparty machen. Sie kauften eine Kuh, holten Bücher aus der Bibliothek und machten ein Lagerfeuer. Dann betranken sie sich mit selbstgebranntem Schnaps und fingen an zu streiten, welche Militäreinheit cooler sei. Es kam zu einem Feuergefecht und „etwa zwanzig ihrer eigenen Männer wurden abgeschlachtet“... Man möchte glauben, dass die ukrainischen Bücher und die Kuh zur Vernichtung des Feindes beigetragen haben, aber wahrscheinlich spielte dann doch der Schnaps die entscheidende Rolle.

Fünfzehn Minuten

Wir fahren in den Süden der Region Mykolajiw, in das Dorf Lymany. Hier mündet der Südliche Bug ins Schwarze Meer, das ich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen habe. Ganz in der Nähe befindet sich die besetzte Halbinsel Kinburn. In der Bibliothek warten vor allem ältere Menschen auf uns: Sie sind in Winterkleidung gehüllt, obwohl es nicht kalt ist. Durch Beschuss ist nicht nur das Gebäude, sondern auch die Heizungsanlage beschädigt. Alle Zimmerpflanzen wurden in einen kleinen beheizten Raum gebracht. Natalia Panashiy, die Dorfälteste, erzählt, dass von den 120 Pflanzen nur die Kakteen unter den Trümmern überlebt haben. Deshalb bringen die Menschen Pflanzen von zu Hause mit und bauen gemeinsam die grüne Oase wieder auf. Als Blumentöpfe dienen Teile von Panzergranaten, mit denen die Russen die Gemeinde beschossen haben.

„Eigentlich kommen wir nie länger als fünfzehn Minuten zusammen“, sagt eine der verhüllten alten Damen vorwurfsvoll. Unser PEN-Team hat bei einem Treffen in der Nachbargemeinde etwas länger gebraucht, deshalb sind wir zu spät nach Lymany gekommen. Hier ist jede Minute lebensgefährlich, deshalb wird Verspätung anders empfunden. Schnell erzählen wir von den Büchern, die wir als Geschenke mitgebracht haben und hören den Leuten zu. Wir müssen auseinandergehen. Meine Bücher für die Bibliothek signiere ich schon draußen. In der Nähe steht eine Sommerbühne, deren Dach von Granateneinschlägen durchlöchert ist, ebenso wie die Projektionsleinwand. Aus der Ferne sind Explosionsgeräusche zu hören. Ein schwarzer Hund humpelt vorbei. Die ukrainische Flagge weht an einem zerschossenen Fahnenmast.
 
Kateryna signiert ihr Buch im Süden der Oblast Mykolajiw während in einiger Entfernung Explosionen zu hören sind.

Kateryna signiert ihr Buch im Süden der Oblast Mykolajiw während in einiger Entfernung Explosionen zu hören sind. | Foto: © Kateryna Yehorushkina

Lebkuchen

Wir fahren in den Nordosten des Gebiets Mykolajiw, nach Perwomajske. Das Zentrum, ein Verwaltungsgebäude. Auf der einen Seite eine zerstörte Turnhalle, auf der anderen die fast unversehrte Bibliothek. Daneben die Schule, kurz vor der russischen Invasion renoviert, mit bunten Wänden und interaktiven Whiteboards. Die Russen warfen eine Fliegerbombe darauf, so dass das Gebäude nicht mehr renoviert werden kann. In diesem Dorf lernen die Kinder nur noch online, und die unzerstörte Bibliothek ist praktisch der einzige Ort für soziale Kontakte und kulturelle Veranstaltungen.

Am Eingang brummt ein Generator, denn die Stromversorgung ist hier problematisch. Weihnachtsmusik und Kinderlachen sind zu hören. Die Fenster sind neu, noch mit den Aufklebern der Hersteller. In Vorhängen und Wänden sind Einschusslöcher zu sehen. Die Decke am Ende des Raumes ist undicht, so dass die Bücherregale mit Folie abgedeckt sind. In der trockenen Ecke befindet sich eine Fotozone mit einem Weihnachtsbaum aus Büchern, einem gemütlichen Sessel und einer Kuscheldecke. Kinder — vom Kleinkind bis zum Oberstufenschüler — in roten Schürzen und Kochmützen haben Spaß beim Lebkuchenbacken. Meine PEN-Kolleg*innen und ich gesellen uns dazu.
 
Lebkuchen dekorieren in der Bibliothek

Lebkuchen dekorieren in der Bibliothek | Foto: © Kateryna Yehorushkina


Der Schriftsteller Iwan Andrusjak bastelte Hasen und erzählte uns von den Figuren in seinen Kinderbüchern (von denen viele tatsächlich Hasen sind!), und ich bastelte ein Herz und erzählte von den Figuren in meinem Buch Unser Kosmos unter dem Bett, einem lustigen Kinderbuch über einen relativ friedlichen Alltag. Ich habe keine Bücher über den Krieg mitgebracht, denn Krieg gibt es hier genug: Er kriecht aus allen Ritzen, donnert mit fernen Explosionen und tropft durch die undichte Decke. Die Bibliothekarin brachte einen kleinen Elektroherd, in den wir unsere Leckereien stellten. Wir schalteten den Wasserkocher an. „Wie unvernünftig, das mit dem Generator zu machen...“ — dachte ich kurz. Aber andererseits ist es wichtig, dass wir uns trotz Beschuss und Stromausfall an den Plan halten. Es ist wichtig, dass die freudigen Ereignisse im Leben der Kinder pünktlich stattfinden. Also trinken wir Tee, essen Lebkuchen und lachen. Bis Weihnachten sind es noch ein paar Wochen, aber hier ergibt es keinen Sinn, etwas aufzuschieben.

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