Aus der Geschichte Vietnams  Guerilla, Nation und der Gebetsaltar

Das Ho-Chi-Minh-Mausoleum in der gleichnamigen Stadt
Das Ho-Chi-Minh-Mausoleum in der gleichnamigen Stadt © CEphoto, Uwe Aranas

Die Geschichte von Kolonialismus und Guerillakampfhat Nationen auf der ganzen Welt grundlegend geprägt. Man kann sich kaum vorstellen, wie tief die unsichtbaren Wurzeln des generationenübergreifenden Traumas reichen. Die Auswirkungen zeigen sich nicht nur auf den Schlachtfeldern und in den zerstörten Städten, sondern auch in den widersprüchlichen Charaktereigenschaften, die manche Nation prägen. Auf welche Weise sind die Traditionen mit dem Krieg verwoben, der sie verschlingen sollte?

Wenn ein Schulausflug zum Ho-Chi-Minh-Mausoleum in der gleichnamigen Stadt organisiert wird, dürfen nur Kinder mit ausreichend guten Noten teilnehmen. Als Tourist*in muss man sich nur in eine lange Schlange stellen, um den einbalsamierten Leichnam des „Erlösers“ der vietnamesischen Nation zu sehen. Als weiße Person denkt man dabei wahrscheinlich zuerst an Lenin und die Kommunistische Partei. Die Vietnames*innen haben ihren Gebetsaltar vor Augen, auf dem nicht nur ihre Vorfahr*innen abgebildet sind, sondern auch Ho Chi Minh als patriotischer Vereiniger. Übertragen auf tschechische Verhältnisse wäre er eher wie Masaryk als wie Husák. „Viele Menschen kannten nicht einmal den Unterschied zwischen Kommunismus und Demokratie“, sagte einmal der frühere US-Außenminister John Kerry, selbst ein Vietnamkriegsveteran. „Sie wollten einfach nur ihre Reisfelder bestellen, ohne dass Hubschrauber über sie hinwegflogen und sie mit Napalm bombardierten, der ihre Dörfer niederbrannte und ihr Land zerstörte. Sie überlebten, indem sie mit der Seite zusammenarbeiteten, die gerade das Sagen hatte ob es nun der Vietcong, Nordvietnam oder die Amerikaner waren.“

Die vietnamesische Identität ist fest mit einer langen Tradition der Landwirtschaft verbunden. Wenn man sich dort Sorgen um seinen Lebensunterhalt macht, beruhigt einen vielleicht jemand mit dem Sprichwort „Wenn du auf dem Feld arbeitest, hast du immer etwas zu essen“ (mình cày ruộng thì ăn no). Die Reisfelder waren die Wiege der traditionellen vietnamesischen Poesie – die Gedichte, die Analphabeten auf den Feldern verfassten, mussten kurz genug sein, um sie sich leicht merken zu können. Hier entstand auch das vietnamesische Puppentheater, das heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört und mit handgeschnitzten, lackierten Puppen auf dem Wasser gespielt wird. Während der Monsunüberschwemmungen wurde das Theater direkt in den Reisfeldern aufgeführt und war eine der beliebtesten Attraktionen des ganzen Dorfes.

Um die Vietcong-Guerillas auszuhungern, zerstörten die US-Truppen in Südvietnam rund 25.000 Quadratkilometer Land mit Herbiziden, was zur Dezimierung der Hälfte der damals vorhandenen Ernten führte. Ein großer Teil der Menschen, die in kleinen Bauerndörfern gelebt hatten, war gezwungen, in die großen Städte zu fliehen, und verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst hauptsächlich mit illegalen Aktivitäten, die von Prostitution bis zum Drogenhandel reichten. Einige von ihnen sammelten kleine, von amerikanischen Soldaten zurückgelassene Gegenstände, modifizierten und verkauften sie.
Auftritt eines vietnamesischen Ensembles

Auftritt eines vietnamesischen Ensembles | Foto: © Kalatpadai via wikimedia


Ein weiterer Baustein der vietnamesischen Traditionen ist Tết, das Neujahrsfest. Es ist ein Anlass für Familientreffen und Festmahle, aber auch ein Reinigungsritual, das von zahlreichen Gebeten für ein besseres Jahr und von Dankbarkeitsbekundungen für das, was die vergangene Jahreszeit gebracht hat, begleitet wird. Die Menschen wünschen sich gegenseitig, dass ihr Leben die Richtung einschlägt, die sie wählen (vạn sự như ý). Der erste Gast, den sie im neuen Jahr zu sich nach Hause einladen, ist in der Regel jemand, der erfolgreich und ehrenhaft ist, denn sie glauben, dass auch sie im kommenden Jahr erfolgreich sein werden, wenn sie ihn bewirten.

1968 unternahmen nordvietnamesische Truppen zusammen mit dem Vietcong die Tết-Offensive, bei der über 14.000 Zivilist*innen starben, 24.000 verwundet wurden und mehr als 600.000 Menschen auf der Flucht waren. Es war die erste Kriegsoperation, deren Folgen auch in einer Großstadt spürbar waren, und sie wurde zum zentralen Argument von Politiker*innen und Aktivist*innen, die sich für ein Ende des amerikanischen Engagements im Vietnamkrieg einsetzten. Die Tatsache, dass die Offensive für den Tết-Feiertag angesetzt war, an dem sich ein Großteil der Bevölkerung mit ihren Familien in den Städten aufhielt und eine Waffenruhe erwartete, war nicht nur eine strategische Entscheidung. Für den Vietcong war der Zeitpunkt ein Symbol für den Eintritt in eine neue Ära, eine Einladung eines mächtigen und siegreichen Gastes in das Haus, dessen Zerstörung er endlich beenden wollte.
Die nach der Tet-Offensive zerstörte Stadt Hue

Die nach der Tết-Offensive zerstörte Stadt Hue | Foto: © US military via wikimedia


Ein wesentliches Element des vietnamesischen Charakters und Landes ist die ständige Dualität und die Fähigkeit, Gegensätze in Einklang zu bringen, was historisch gesehen für das Überleben notwendig war. Der Krieg, in dem sich politische Überzeugungen und nationale Identität vermischten, schuf ein Umfeld, in dem jede*r je nach Situation entweder die Seite wechseln oder sich für eine entscheiden musste. Am Familientisch sitzen ehemalige Vietcong-Mitglieder, friedliche Bäuer*innen, eingefleischte Kommunist*innen und demokratische Idealist*innen. Dank des kolonialen Drucks durch dramatisch unterschiedliche Kulturen hat die vietnamesische Gesellschaft gelernt, Elemente dieser Kulturen so zu integrieren, dass sie ihr dienen, ohne die ursprünglichen Traditionen zu verdrängen.

Die Franzosen gaben Vietnam gefüllte Baguettes (bánh mì), Wasseraufbereitungsanlagen, dank derer Bier hergestellt werden konnte, und Zigarettenfabriken. Die Amerikaner hinterließen Jeans, eine Vorliebe für westliche Musik und den Konsumismus. Während der massiven Migrationsbewegungen lernten die Vietnames*innen, das notwendige Minimum ihrer Sitten nach außen hin so zu beugen, dass sie ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Die von Vietnames*innen betriebenen tschechischen Kiosks sind wie eine stille professionelle Fassade, eine Anpassung an Europa, an den Westen. Doch wer eine Einladung zu einer vietnamesischen Hochzeit erhält, wird mit lautem Geschrei, hektoliterweise Wodka und Karaoke am laufenden Band begrüßt. Die Männer auf der Bühne packen sich gelegentlich bei den Schultern und singen Militärlieder, die sie oder ihre Eltern im Krieg gelernt haben.

Die Fähigkeit, sich in einem fremden Land unauffällig zu verhalten, beruht auf der Fähigkeit, um jeden Preis und unter allen Umständen zu überleben, manchmal durch einen blutigen Guerillakrieg und manchmal, indem man still und leise den Kopf hängen lässt. In der gegenwärtigen politischen Konstellation hat Vietnam die ursprüngliche maoistische politische Strategie des Bambus übernommen, bei der es an seinen Prinzipien festhält, während es strategisch zwischen den Großmächten hin und her wandelt.
Ein typischer vietnamesischer Gebetsaltar

Ein typischer vietnamesischer Gebetsaltar | Foto: © Clear Path International via wikimedia


Kolonialismus, Bürgerkrieg, Massaker an der Zivilbevölkerung durch Besatzer und Einheimische sowie der unbändige Wille, ihr Land zu einen und zu verteidigen, haben die Vietnames*innen zu einem temperamentvollen, aber diplomatisch geschickten Volk gemacht. Innere Widersprüche und historische Traumata werden durch fest verwurzelte Traditionen und ein starkes Verlangen nach einer unbestreitbaren Identität gestützt. Alle Verluste, Schmerzen, Konflikte und Ungewissheiten begegnen sich auf dem Gebetsaltar mit den Fotos der Toten und Ho Chi Minh, den die meisten Haushalte, auch die agnostischen, noch besitzen – und wenn nicht dort, dann auf den Gräbern ihrer Angehörigen.

Jedes Ritual beginnt mit der Darbringung von Speisen für die Ahnen auf dem Altar und dem Verbrennen von Räucherstäbchen, deren Duft eine Brücke zwischen der irdischen und der himmlischen Welt bilden soll. Das Gebet selbst ist dann vor allem eine innere Reinigung – es sendet Wünsche an die Ahnen, dankt ihnen für bisherige Erfolge, ist aber auch ein Bekenntnis zu allen Unsicherheiten und Niederlagen. Wie sehr sich das Volk auch beugen oder auflehnen musste, jede*r konnte sich immer nach innen wenden, zu sich selbst. Die wahre Essenz des vietnamesischen Volkes liegt in seinen Gebeten.
Hana Nguyen auf dem Reporter Slam im September 2024 auf dem Kampus Hybernská in Prag

Hana Nguyen auf dem Reporter Slam im September 2024 auf dem Kampus Hybernská in Prag | Foto: © Adriána Vančová

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