Heimat und Identität zwischen Kanada und Litauen  „Der Duft von Wiesenluft lässt mich zurückkehren“

Der Verfasser des Artikels als Kind mit Freunden in Onuškis.
Der Verfasser des Artikels als Kind mit Freunden in Onuškis, einem Dorf in Litauen. Foto: © privat

„Ich glaube, erst mit Erwachsenwerden habe ich mich zum ersten Mal gefragt, warum Litauen, und vor allem dieses Dorf meine Heimat geblieben ist“, schreibt Jonas Baltakis, ein in Montreal lebender Student. Er kehrt jeden Sommer zurück nach Onuškis, ein „Städtchen im Seengebiet“, auch wenn es dort immer weniger junge Leute gibt. Warum?

„Alle, die weglaufen und das Dorf verlassen, können es nie vergessen. Egal, wie weit das Leben sie auch treibt, sie kehren in ihren Träumen und Fantasien immer wieder in das Dorf zurück. Goethe, Voltaire, Rousseau, Šeinius träumen immer wieder von Gärten und Gemüsegärten und Wiesenkäfern, die armen Leute Westeuropas.“

Jonas Mekas | Laiškai iš niekur (Briefe aus dem Nirgendwo)

Ich weiß noch, als ich diese Worte von Mekas zum ersten Mal las, lebte ich noch in Vancouver, wo ich seit meinem zweiten Lebensjahr aufgewachsen bin. Meine Mutter teilte sie auf meiner Facebook-Pinnwand, vielleicht wollte sie ein bisschen vor Litauer*innen in Litauen, Litauer*innen in Kanada und Nicht-Litauer*innen in Kanada angeben. Das war 2016, dem Jahr, in dem ich in die achte Klasse des Gymnasiums ging.

Jetzt wird mir klar, dass diese Worte romantisiert sind. Mekas sah oft seine Vergangenheit durch eine rosarote Brille und verschwieg dabei einige wichtige Details. Aber damals stimmte ich seinen Worten völlig zu. Ich kannte weder Goethe noch Rousseau, aber ich wusste, wie es war, in meinen Träumen zu meinen Großeltern zurückzukehren, meine Füße in die Gartenerde zu stecken, wenn ich mich im Mathematikunterricht langeweilte.

Als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern und ich aus Litauen nach Kanada. Meine frühesten Erinnerungen beziehen sich auf mein damaliges Zuhause in Vancouver, Cambie, und den polnischen Kindergarten in der St. Casimirʼs Gemeinde. Das Viertel, in dem ich wohnte, lag in der Nähe des Stadtzentrums, wurde aber von den Einwohner*innen Vancouvers oft als Cambie Village bezeichnet. Mit seinen bunten Häusern, deren Höfe an ruhige, von Bäumen gesäumte Straßen grenzen, schien Cambie fehl am Platz zu sein – nämlich auf dem Lande, nicht in der Stadt.

Ich weiß noch, wie ich im Kindergarten immer als Letzter am Mittagstisch blieb. Papa sagte immer, wenn ich so lange esse, sollte ich Priester werden. Die polnischen Erzieherinnen erinnerten mich an meinen Großvater und meine Großmutter, weil die Erzieherinnen mich – wie meine Großeltern – nicht spielen ließen, solange ich nicht aufgegessen hatte. Manchmal verbrachte ich die ganze Filmstunde mit dem Essen, und nach der Pause gingen wir direkt ins Bett zum Mittagsschlaf.

Die herrlichsten Kindheitserinnerungen sind für mich jedoch mit den Sommerferien verbunden. Ich hatte Freund*innen, die im Sommer Vancouver verließen und auf eine Insel in British Columbia im Pazifischen Ozean segelten. Freund*innen aus wohlhabenderen Familien hatten ebenfalls Sommerhäuser in der Nähe von Vancouver. Aber für mich waren die Ferien mit dem Haus meiner Großeltern in einem litauischen Dorf verknüpft.
 
Dreißig Autominuten südwestlich von Trakai, zwischen dichten Wäldern und Seen, liegt ein Dorf namens Onuškis. Hier leben nicht mehr als sechshundert Menschen, darunter mein Großvater Kazimieras und meine Großmutter Irena. Der größte Teil der Familie meiner Mutter bis zurück zu den Eltern meiner Großeltern stammen aus Onuškis oder den umliegenden Dörfern. Am Ortseingang steht eine Kirche und im Zentrum gibt es einen alten Marktplatz, auf dem morgens Secondhand-Kleidung verkauft wird; meine Familie und ich gingen dort oft einkaufen. 1941 wurden fast alle jüdischen Einwohner*innen von Onuškis in den Varniki-Wald in der Nähe von Trakai gebracht und von einer Spezialeinheit der litauischen Polizei umgebracht.

Ich verbrachte jeden Sommer meiner Kindheit in Onuškis. Meine Freund*innen waren sowohl Einheimische aus Onuškis als auch andere Kinder, die ihre Sommerferien ebenfalls bei ihren Großeltern verbrachten. Viele von ihnen gingen jedoch im September wieder in Vilnius zur Schule, und ich ging ein wenig weiter weg, nach Westkanada. Jedes Jahr kam ich nach Litauen „zurück“ – so bezeichnete ich meine Sommerreisen gegenüber anderen Litauer*innen.
 
Die Schwester des Verfassers auf den Wiesen am Onuškis-See.

Die Schwester des Verfassers auf den Wiesen am Onuškis-See. | Foto: © privat


Als ich vielleicht zehn Jahre alt war, hörte ich die Eltern meiner litauisch-kanadischen Freunde miteinander tuscheln, wobei sie dachten, dass ich sie nicht hören konnte: „Warum geht dieses Kind immer wieder zurück nach Litauen?“ Dieser Satz blieb bei mir hängen. Ich hatte den Eindruck, dass die Rückkehr für diese Litauer*innen wie eine Last war, wie ein Verrat am „Kanadiertum“. Ich verurteile sie nicht dafür – es ist einfach, „Kanadier*in“ zu werden, wenn man die Chance dazu hat. Aber nicht jeder hat das Glück, eine „Einladung“ zu dieser tabula rasa zu erhalten. Was bedeutet es überhaupt, ein „Kanadier“ zu sein – ein Mensch, der in einem Land lebt, das zu Unrecht mit dem Namen bezeichnet wird, in einem Land, das den Ureinwohner*innen, die früher hier lebten, weggenommen wurde? Das ist eine tiefere und kompliziertere Frage. Aber für einen Litauer, der in ein kolonisiertes Land kommt und sich dort niederlässt, dürfte sie unvermeidlich sein.

Warum komme ich also immer wieder nach Litauen zurück? Als Kind habe ich mir diese Frage nicht gestellt – es war eine Selbstverständlichkeit. Wie ist es möglich, nicht zurückzukommen? „Das ist mein Zuhause“, habe ich immer gesagt. Der Nachbar meiner Großeltern, Kęstas, ist auch mein Nachbar. Ein kleines Zimmer mit einem winzigen Einzelbett und einem Fenster zur Terrasse ist auch mein Zimmer.
 
Dann wurde ich ein Teenager, der seine Erwartungen definiert, seine Weltanschauung entwickelt und – wenn auch hoffnungslos – versucht als heranreifender Junge seine Loslösung von den Eltern zu verstärken. Ich versuchte, ein selbstständiger „Kavalier“ zu werden (so nannte mich jemand im Dorf, und ich wusste nicht, was das bedeutet). Ich begann, spät nach Hause zu kommen, meine Mutter wusste manchmal nicht, wo ich war, und ich ging zu meinen Klassenkameraden zum Rumhängen auf der anderen Seite von Vancouver. Ich begann, meine Abende nicht nur mit meinen Freunden, sondern auch mit Mädels zu verbringen. In warmen Nächten gingen meine Freunde und ich an den Strand und verbrachten einen Abend am Feuer – bevor die Strandwächter mit ihren Quads ankamen, machten wir das Lagerfeuer aus.

In den letzten Jahren auf dem Gymnasium und zu Beginn meines Studiums begann ich, eine engere Beziehung nicht nur zu Onuškis, sondern auch zu Vilnius, der Stadt, in der mein Vater lebt, aufzubauen. Hier freundete ich mich mit gleichgesinnten Einwohner*innen von Vilnius an, ging in ihre Lieblingslokale und -kneipen und kaufte mir eine 5-Euro-Besucherkarte, um die Universitätsbibliothek von Vilnius zu besuchen. Ich stellte mir vor, ein litauischer Student in einem Labyrinth von Büchern zu sein. Aber das Dorfleben war immer noch ein Teil von mir.
 
Im Garten der Großeltern in Onuškis.

Der Verfasser als Kind im Garten der Großeltern in Onuškis. | Foto: © privat


Wenn man in Onuškis links vor dem Ortseingang abbiegt, kommt man zu einer Schule. Meine Großeltern, Freund*innen aus meiner Kindheit und andere Familienmitglieder sind dort zur Schule gegangen. In meiner Kindheit saß ich an heißen Sommertagen mit einer Freundin auf einer Bank neben der Basketballhalle. Wir aßen Eis und spielten Basketball, und sie erzählte mir Geschichten aus der Schule von Onuškis. Sie war früher das Zentrum der Jugend des Ortes. Als meine Großeltern in der zehnten Klasse waren, Mitte der 1970er Jahre, gab es über zwanzig Schüler*innen in ihrer Klasse. Und in der achten Klasse, bevor viele von auf die Berufsschule abgingen, gab es sogar zwei Klassen mit jeweils zwanzig Schüler*innen. Die Gesamtzahl der Schüler*innen betrug mehrere Hundert.

Vor ein paar Jahren hatte die Schule in Onuškis noch zwölf Klassen. Aber diese Schule folgt dem üblichen Trend der litauischen Gemeindeschulen – die Zahl der Schüler*innen nimmt von Jahr zu Jahr ab. 2022 reduzierte das Onuškis-Gymnasium die Zahl der Klassen auf zehn und wurde zur Hauptschule. Heute hat es nicht mehr als 100 Schüler*innen von der ersten bis zur elften Klasse. Die Elftklässler gehören offiziell zum Aukštadvaris-Gymnasium (Aukštadvaris liegt eine Viertelstunde nördlich von Onuškis) und nicht zur Donatas-Malinauskas-Hauptschule, auch wenn sie in Onuškis lernen. Es gibt jedoch keine Zwölftklässler mehr, da das weniger als zwölf Schüler aus Onuškis und den umliegenden Dörfern waren. Aufgrund der aktualisierten Regeln der Regierung für die Schulvernetzung, die eine Klasse mit mindestens zwölf Schülern vorschreiben, fahren die Zwölftklässler jeden Tag mit einem Schulbus 16 Kilometer zu einer Schule in Rūdiškės, das näher an Vilnius liegt.

Auch heute noch lebt in Litauen ein höherer Prozentsatz der Bevölkerung in Dörfern als in vielen anderen europäischen Ländern.

Vermittelt durch die stellvertretende Schulleiterin traf ich mich mit den Zehntklässlern der Onuškis-Schule. Ich wollte ihre Geschichten hören, ihre Gedanken zur Identität. Es war mir wichtig, die Meinung von jungen Menschen vom Land und nicht aus der Stadt zu hören, weil man ihnen nicht oft zuhört. Es war der erste Tag des neuen Schuljahres nach den Winterferien. Um halb elf Uhr morgens saß ich mit sechs Zehntklässler*innen im Fachraum für Litauisch unter den schimmernden Neonlampen. Sie hingen über den Tischen und erinnerten mich an die wolkenverhangenen, kühlen Februarmorgen an meiner eigenen Schule in Vancouver.

Diese sechs Zehntklässler*innen bildeten die gesamte Klasse. Als sie den Raum betraten, saß ich bereits mit meinem Notizbuch am Schreibtisch. Milana aus Onuškis, die ich seit meiner Kindheit kannte, saß mir gegenüber. Milana sah aus wie die Anführerin der Klasse. Erika kam mit ihr. Sie saßen mir am nächsten – vielleicht war das zu erwarten, denn ich kannte sie am besten. Lukas und Nėja saßen weiter weg von mir. Und ganz hinten im Raum saßen Mantas und Aurimas.

Unser Gespräch verlief langsam, mit vielen Pausen. Egal, wie sehr ich mich bemühte, mich als ihr Freund vorzustellen, ich spürte, dass ich immer noch meine eigene Identität ausstrahlte – vielleicht eine unorthodoxe litauische Identität, vielleicht eine unvermeidliche Urbanität, eine westliche Identität, die mich als einen „Anderen“ erscheinen ließ. In gewisser Weise hat mich das nicht erschreckt: Ich bin dieses Gefühl unter Litauer*innen gewohnt. Die Ausgrenzung würde mich nur dann erschrecken, wenn sie unsere Beziehung beeinträchtigen würde. Aber ich hatte das Gefühl, dass es uns am Ende des Gesprächs, bei der Pausenklingel, gelungen war, eine Verbindung herzustellen.

Nėja lebt in einem Städtchen in der Nähe von Onuškis und fährt wie viele ihrer Klassenkameraden jeden Tag nach Onuškis in die Schule. Sie besucht auch Unterricht für Euphonium, ein Blechblasinstrument, und fährt dafür vier Tage in der Woche nach Rūdiškės. Sie hofft, nach der Schule an der Musikakademie in Vilnius studieren zu können, und möchte nach dem Studium in ihr Dorf zurückkehren. „Hier ist es cooler“, sagt sie, „die Luft ist besser“. Aurimas, der im hinteren Teil des Klassenraums mit seinem Handy hantiert, das Kinn auf den Rucksack gestützt, sagt, er habe die Nase voll von Onuškis: „Es gibt zu wenig Action“. In der Stadt gibt es von allem mehr. Sein älterer Bruder lebt und arbeitet in Vilnius. Aurimas würde auch gerne dort studieren.

Für Nėja ist es wichtig, dass die Leute in der Stadt nicht vergessen, dass „wir alle vom Land kommen“, egal wie sehr wir an das Stadtleben gewöhnt sind. Es ist wichtig zu verstehen, was „wir“ in diesem Satz bedeutet. Nach meinem Verständnis bedeutet „wir“: „wir Litauer“. Und das ist weitgehend richtig. Ob sie heute auf dem Land oder in der Stadt leben, viele Litauer kommen selbst vom Land oder haben dort Verwandte. Als meine Großeltern Mitte der 1970er Jahre in Onuškis zur Schule gingen, lebte die Hälfte der litauischen Bevölkerung auf dem Lande. Auch heute noch lebt in Litauen ein höherer Prozentsatz der Bevölkerung in Dörfern als in den anderen baltischen Ländern und mehr als in vielen anderen europäischen Ländern. Mehr als dreißig Prozent der Bevölkerung Litauens leben in Dörfern. Ein großer Teil der litauischen Bevölkerung, auch der in den Städten, ist auf dem Lande geboren.

Als ich diesen Gedanken von Nėja hörte, dachte ich an mich selbst. Schließlich stamme ich auch aus einem Dorf, obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens in der Stadt gelebt habe. All die dicken verstaubten Fotoalben, die unter der Fensterbank in Vancouver liegen, wo meine Mutter immer noch lebt, sind vom Lande. Die Bilder von den Beerdigungen meiner Urgroßeltern, den Hochzeiten meiner Großeltern, die Fotos von meiner Mutter und meiner Kindheit wurden im Dorf aufgenommen, in derselben Straße, zwischen der Kirche und dem Haus meiner Großeltern, an der Kreuzung der Kaunas-Straße. Die Vergangenheit meiner Familie, wie die vieler anderer Litauer*innen, „unsere Vergangenheit“, kann man nicht ändern, ganz gleich, wo auf der Welt ich lebe.
 
Die Großeltern des Verfassers mit seiner Mutter als Baby, Ende der 1970er Jahre.

Die Großeltern des Verfassers mit seiner Mutter als Baby, Ende der 1970er Jahre. | Foto: © privat


„Wir sind nicht so rückständig, wie es sich die Stadt immer vorstellt“, fährt Milana fort. Diese Schüler*innen haben ganz Litauen bereist. Eine Woche vor unserem Interview waren Milana und ihre Klassenkamerad*innen auf der Buchmesse in Vilnius und in der Woche davor im Präsidialamt, um die Schule am 16. Februar zu vertreten. „Die Stadt denkt, wir seien so was wie ungebildete Dörfler“, fügt Nėja hinzu.

Ich habe mich mit Ugnė, meiner Nachbarin und Jugendfreundin, die die Rūdiškės-Schule besucht, zu einem privaten Gespräch getroffen. Ich lud sie ins Wohnzimmer meiner Großeltern ein, genau wie damals, als ich ein Kind war. Nur dass wir dieses Mal Kaffee tranken. „In der Stadt hat man andere Möglichkeiten... Aber manchmal, wenn man in ein Ferienlager geht oder ein Projekt mit der Schule macht, trifft man eine Person aus Vilnius und merkt – die Ausbildung ist die gleiche, das Leben ist ähnlich, aber man ist viel aktiver im Leben, auch wenn man auf dem Land aufgewachsen ist“, sagt Ugnė. Ich verfolge sie schon seit Jahren in den sozialen Netzwerken und wir kommunizieren „live“ miteinander. Ich kann sie nachvollziehen. Wenn ich junge Menschen beobachte, die auf dem Land aufgewachsen sind, habe ich immer den Eindruck, dass sie das Beste aus den wenigen Möglichkeiten machen, die sich ihnen bieten.

Meine Absicht bei diesen Gesprächen war nicht, die Schüler zu verhören, sondern ihren Geschichten zuzuhören. Nach dem Gespräch wurde mir klar, dass diese jungen Menschen nicht nur die Statistik eines verschwindenden Dorfes verkörpern, sondern ihre eigene, unabhängige Beziehung zum Dorf aufbauen, im Bewusstsein, dass das Dorf verschwindet. Diese jungen Leute wissen, was sie vom Land wollen – und was sie nicht wollen.
 
Disco in der Schule von Onuškis.

Disco in der Schule von Onuškis. | Foto: © Schülerin Erika


In der Migrationsgeschichtsschreibung, die ich an der Universität studiere, gibt es ein wichtiges Konzept, das als Push- und Pull-Faktoren der Migration bezeichnet wird. Diese Theorie geht der Frage nach, welche Faktoren Menschen dazu bewegen, ihre Heimat zu verlassen, und welche Faktoren sie an einen neuen Ort ziehen. Nach diesem Konzept scheinen junge Menschen auf dem Land nicht nur selbst zu verstehen, was sie vom Land in die Stadt treibt, sondern sie ziehen auch Rückschlüsse darauf, was die Gesellschaft als Ganzes antreibt und zieht. Für Aurimas ist dieser Trieb die fehlende „Action“. Nėja fühlt sich durch ihr Studium von der Stadt angezogen, aber die Anziehungskraft des Dorfes bleibt bestehen, da sie hofft, nach ihrem Studium zurückzukehren. Für Nėja ist das Land wie ein zweiter Magnet.

Die junge Generation auf dem Land ist eine eigenständige Bevölkerungsgruppe mit einem eigenen Verständnis für die Vergangenheit und die Zukunft des Dorfes. Die Schüler*innen sind den Push- und Pull-Faktoren in gleicher Weise ausgesetzt wie die ältere Landbevölkerung. Nur hört man den Schulkindern seltener zu.

Wenn die Stadt das Herz Litauens wäre, dann wäre das Land seine Lunge.

Es ist wichtig, die Liebe, die ich für Onuškis empfinde, nicht zu romantisieren. Auf dem Land gibt es soziale Probleme, genau wie in den Städten. Es gibt hier nur wenige oder praktisch keine Jobs, so dass auch die jungen Leute, die nicht auf die Universität oder die Berufsschule gehen, die Stadt verlassen. In der Stadt gibt es nicht mehr die üblichen Nachbarschafts-„Attraktionen“ wie eine Post oder eine Apotheke, die in Onuškis im Gebäude des Kulturhauses gegenüber dem einzigen Lebensmittelladen Aibė untergebracht waren und die ich als Kind oft besucht habe. Ganz zu schweigen vom Café Samis, das es schon seit vielen Jahren nicht mehr im Dorf gibt, obwohl es ein Treffpunkt sein könnte. Trotz alledem gibt es im Dorf immer noch junge Leute.
 
Wenn ich mit den jungen Leuten von Onuškis spreche, spüre ich, dass das Dorf ein unersetzlicher Teil meiner Identität als Litauer ist, denn ich bin zwar Stadtbewohner, aber mein Herz gehört dem Dorf. Wenn die Stadt das Herz Litauens wäre, dann wäre das Land seine Lunge. Die Stadt hat zwar mein Herz geformt, doch das Dorf bleibt ein Teil von mir, und Erinnerungen daran helfen mir zu atmen.

Ich meine das ganz wörtlich. Manchmal mache ich mit meiner Therapeutin eine Übung nach einer Methode der somatischen Therapie. In Montreal, mitten im Studium, während der Prüfungszeit, Hausaufgaben, wenn keine Zeit bleibt, um in Ruhe zu essen, und wenn ich spüre, dass mein Körper mit der Anspannung kämpft, wende ich eine Entspannungsmethode an, die mir meine Therapeutin beigebracht hat. Ich stelle mir vor, ich stehe in einem offenen Raum. Es spielt keine Rolle, wo ich stehe, solange ich mich sicher fühle und einen sanften, warmen Windhauch spüre, der meine Lungen mit frischer, sauberer Luft füllt. Ohne nachzudenken, stelle ich mir instinktiv immer vor, dass ich inmitten der windigen Felder stehe, Richtung Onuškis-See. Das sind die Felder, die ich jeden Sommerabend aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock des Hauses meiner Großeltern sehe. Diese vertraute Natur ist meine Lunge. Ein Dorf, dessen Erinnerung mit dem zarten Duft von Gewächshaustomaten durchdrungen ist. Eine Erinnerung, die es mir erlaubt, diese kalte, feuchte, neblige Morgenluft der Wiesen einzuatmen und mich zu entspannen.
 
Der Verfasser des Artikels im Sommer 2019 in Užupis mit seinem Hund Džiugas.

Der Verfasser des Artikels im Sommer 2019 in Užupis mit seinem Hund Džiugas. | Foto: © privat

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst im litauischen Onlinemagazin NARA, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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