Olena, Journalistin und Mutter, hat nach ihrer Flucht aus Kyjiw in Prag eine Zuflucht gefunden. Sie bringt Arbeit und die Betreuung ihrer Töchter unter einen Hut und findet Trost in der Natur und in neuen Begegnungen. Inmitten der Ungewissheit bewahrt sie ihre Ruhe und Hoffnung, indem sie sich in einer chaotischen Welt nur an das Wichtigste hält.
Ich habe gelernt, die Dinge loszulassen.“
Olena, Prag
Zuvor war sie in anderen Orten zu Hause. Zunächst im Elternhaus in der Stadt Schostka in der Oblast Sumy. Dann in der eigenen Wohnung in Kyjiw, wo auch ihre Töchter aufwuchsen. Der Angriff im Februar 2022 zwang sie und ihre Familie aus dem vertrauten Heim in einen geräumigen Keller bei Freund*innen. Der Keller bot Schutz und drohte gleichzeitig zu verschlucken. Durch die Nachricht einer Nachbarin gelang ihnen schließlich die weitere Flucht in einem Achtsitzer zusammen mit einer anderen Familie. Es folgten weitere Zufluchtsorte: Ein Apartment bei netten Fremden in Winnytsja, die Hallen einer Sportschule in Lwiw, und dann schließlich Tschechien. Hier gibt es eine Freundin, relative Ruhe und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr.
Ein solcher Spielplatz befindet sich in der Nähe der Obstgärten auf dem Petřín-Hügel. In alten Zeiten beteten die Heiden dort den höchsten slawischen Gott Perun an. Olena ist Christin und findet Gott in der Kirche, hierher kommt sie aber, um sich zu entspannen. Sie will die Apfelblüte bewundern, sich auf das gemähte Gras legen und aus der Natur Kraft schöpfen. Auf dem Petřín gibt es auch ein astronomisches Observatorium. Dort kann man sich den Sternenhimmel ansehen, wobei Olena dies ganz ohne spezielle Ausrüstung schafft. Als Teleskop dient ihr ein optimistischer Spruch, den sie als Studentin lernte: „In den alltäglichen Pfützen des Lebens die Sterne sehen können.“
An Pfützen mangelt es nicht. Freund*innen, die ihr einmal nahestanden, antworten nicht mehr auf die Nachrichten. Die Stimme ihres Ehemannes ist nur noch über den Bildschirm zu hören. Auch die Sorge um die Kinder liegt nun ganz auf ihren Schultern. Allerdings beherrscht Olena die hohe Kunst des emotionalen Ausgleichs. Die Traurigkeit lässt mit Weinen nach. Die Einsamkeit wird durch neue Bekanntschaften gelindert: Wer sich nicht abschottet, wird überall seine Menschen finden. Und was die kleinen Töchter betrifft, so bewegen sie die Mutter dazu, besser auf sich selbst aufzupassen.
In ihren Nachtträumen taucht oft die Wohnung auf, in der sie aufgewachsen war. Eine Straße mit zweistöckigen Häusern, wo Kinder unter den Fenstern spielen. Jede*r kennt jede*n. Es fällt leicht, frei zu atmen, ungezwungen zu sprechen, ohne mühsam nach Worten zu suchen. Olena wünscht sich sehnlichst eine Rückkehr in die Ukraine. Eines hat sich jedoch nicht geändert: Zuhause ist dort, wo deine Nächsten sind. Das Berühren der braunen Tasche über ihrer Schulter wirkt beruhigend. Darin befinden sich Dokumente und alles Wichtige. Den Rest hat Olena in sich. Ihre Stärke liegt darin, in einer turbulenten Welt einen festen Kurs zu halten.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Mai 2024