Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit Behinderung bei klimatischen Ausnahmezuständen verletzt werden oder sogar sterben, ist zwei- bis viermal so hoch wie bei Menschen ohne Behinderung. Aber nicht nur die Klimakrise selbst betrifft diese Menschen disproportional häufiger, sondern auch nicht zu Ende gedachte Maßnahmen, die der Klimakrise entgegenwirken sollen. Unsere Autorin Petra Eller berichtet davon, wie solche Maßnahmen gerade für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen neue Barrieren schaffen.
Jedes Problem, das die Gesellschaft polarisiert, lässt sich lösen. Zunächst muss man jedoch beide Seiten auf einen Nenner bringen, indem man ein Narrativ findet, das von beiden akzeptiert wird. Dieser Gedanke hat mir zunächst gut gefallen, denn in der Einheit liegt die Kraft. Doch dann wurde mir klar, dass die Menschheit sich im Fall der Klimakrise ausgerechnet in ihrer Bereitschaft, Menschen mit Behinderung zu opfern, einig zu sein scheint. Und das, ohne es sich überhaupt bewusst zu machen, weil es alle wie selbstverständlich hinnehmen. Obwohl es keine verbale Vereinbarung gibt, lässt sich diese Übereinstimmung faktisch nachweisen.Unsichtbare Probleme, unsichtbare Menschen
Menschen mit Behinderung sind all jene, die in irgendeiner Weise sichtbar oder unsichtbar gesundheitlich beeinträchtigt sind und sich mit diesem Fakt identifizieren. Die Art und Weise, wie diese Minderheit von denjenigen geopfert wird, die dem Klimawandel mehr als skeptisch gegenüberstehen, ist sichtbarer. Der Harvard-Professor Michael Ashley Stein berichtet, dass Menschen mit Behinderung zwei- bis viermal wahrscheinlicher bei klimatischen Ausnahmezuständen verletzt oder getötet werden. Ihre Körper reagieren intensiver auf schnelle Wetterwechsel, sehr hohe oder niedrige Temperaturen. Viele sind lebenslang abhängig von einer unterbrechungsfreien Stromversorgung und auf professionelle medizinische Betreuung angewiesen oder dürfen ihre sterilen Räumlichkeiten nicht verlassen. Für die Mehrzahl von ihnen sind schnelle Bewegungen oder überhaupt das Bewegen ihrer Körper durch ungeschulte Personen gefährlich. Dadurch verkompliziert sich ihre Evakuierung im Ernstfall. Außerdem sind Transportmittel und Notunterkünfte bei Naturkatastrophen meist nicht barrierefrei, der Zugang für Menschen mit Behinderung also nicht gewährleistet, was bedeutet, dass sie deshalb soziale Isolation und die Unterbringung in Heimen ertragen müssen.Die Sterblichkeitsrate bei Hitzewellen ist für Menschen mit psychischen Diagnosen um das Dreifache erhöht. Dies lässt sich auf mehrere Gründe zurückführen. Bestimmte Psychopharmaka beeinträchtigen die Wärmeregulation. Außerdem schätzen Wissenschaftler, dass 30 bis 40 Prozent der Obdachlosen psychische Probleme haben, und für sie gibt es kaum Möglichkeiten, sich vor Sonne zu schützen. Auch lassen sich die Anzeichen von psychischen Anfällen und Überhitzung sehr leicht verwechseln. Dazu kommt, dass psychische Probleme häufig zu sozialer Isolation führen, weshalb Betroffene oft niemanden in der Nähe haben, der ihnen einen Krankenwagen ruft oder dem sie sich mit ihren akuten gesundheitlichen Problemen anvertrauen können.
Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass bis zum Jahr 2030 aufgrund der Klimakrise jährlich etwa 250.000 Menschen mehr sterben als heute. Wenn man davon ausgeht, dass circa 15 Prozent der Weltbevölkerung mit Behinderungen lebt, und die vorgenannten Daten einbezieht, hieße das, dass bis 2030 durch den Klimawandel jährlich etwa 65.000 bis 105.000 Menschen mit Behinderung sterben werden.
Daraus folgt, dass Menschen, die die Klimakrise und damit die Notwendigkeit aktiven Klimaschutzes leugnen, nicht gleichzeitig behaupten können, dass ihnen das Leben von Menschen mit Behinderung wichtig sei. Doch trotz der Tatsache, dass uns, die wir mit Behinderungen leben, die Klimakrise überproportional trifft, werden wir selbst von den Befürwortern ökologischer Lösungen im Allgemeinen nicht in entsprechende Diskussionen einbezogen. Das geht so weit, dass man, wenn man die Kombination von Stichwörtern wie „Klimakrise“ und „mit Behinderung“ oder ähnliche Anfragen in Suchmaschinen eingibt, auf slowakischen Seiten kein einziges relevantes Ergebnis erhält.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass keine*r der in Vorbereitung für diesen Artikel befragten Respondent*innen, mich eingeschlossen, von irgendwelchen offiziellen Maßnahmen oder Empfehlungen weiß, die man als Person mit Behinderung anzuwenden vermag oder umsetzen muss. Um es kurz zu machen: In der Slowakei haben wir keinerlei Information darüber, wie wir uns vor den Auswirkungen der Klimakrise schützen und Naturkatastrophen entkommen können oder an wen wir uns wenden können, um bestmöglich und effektiv Hilfe zu erhalten.
Dazu verurteilt in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein
Im weltweiten Vergleich ist auch die Studienlage in der Slowakei enttäuschend. Außer der bereits erwähnten Statistik sind praktisch keine anderen Studien zu finden, die sich mit den Erfahrungen von Menschen mit Behinderung im Umgang mit der Klimakrise beschäftigen. Die zuletzt genannten Zahlen musste ich sogar selbst ausrechnen. Als ob es den gesunden Teil der Bevölkerung überhaupt nicht interessieren würde, was der Klimawandel mit uns macht und wie man dem vorbeugen könnte.Deshalb habe ich zumindest eine kleine Umfrage dazu durchgeführt, wie gesundheitlich beeinträchtige Menschen hier in der Slowakei von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen sind. Es haben sich acht Respondent*innen gefunden, denen ich folgende Fragen gestellt habe: Wie ist Ihre Diagnose, beziehungsweise was sind Ihre schwerwiegendsten Symptome? Wie wirkt sich deshalb der Klimawandel auf Sie aus? Wissen Sie über offizielle Maßnahmen oder Empfehlungen, die Sie als Mensch mit Behinderung wahrnehmen können oder müssten? Helfen Ihnen diese Maßnahmen oder verschlechtern sie Ihre Situation noch? Haben Sie für sich konkrete Strategien entwickelt, wie Sie mit dem Klimawandel umgehen können?
Es geht für uns dabei nicht nur einfach ums Überleben. Gleichberechtigung erwächst vor allem auch aus der Möglichkeit, ein freies und erfülltes Leben zu führen, genauso wie jede*r andere auch. Dies wird größtenteils nicht durch unsere Diagnosen an sich verhindert, sondern durch alle möglichen systematischen Hindernisse, wie auch durch einen schlecht durchdachten Kampf gegen den Klimawandel.
Ich selbst lebe mit der Diagnose Spinale Muskelatrophie im fortgeschrittenen Stadium, das heißt ich muss liegen und meine Lunge muss künstlich beatmet werden. Mein spezielles Beatmungsgerät ermöglicht es mir sogar zu reisen, aber laut Bedienungsanleitung darf es keinen Temperaturen über 35 Grad Celsius ausgesetzt werden, weil es sonst überhitzen und kaputt gehen kann.
In strengen Wintern kann ich mir leicht eine Lungenentzündung einfangen, weil das Beatmungsgerät die Außenluft direkt in meine Lunge bläst. Diese Luft ist dadurch um einiges kälter als die, die Menschen ohne Tracheotomie einatmen, weil die Luft sich im Mund und Hals normalerweise erwärmt und erst danach in die Lunge gelangt. Dabei ist für mich selbst eine normale saisonale Grippe lebensgefährlich, ganz zu schweigen von einer Lungenentzündung.
Mit dem Klimawandel gehen extreme Wetterlagen einher, die das gemäßigte Wetter ablösen. Wenn es dazu kommt, dass es nur noch extreme Temperaturen gibt, wird das für mich und andere Menschen, die an eine Beatmungsmaschine angeschlossen sind, bedeuten, lebenslänglich in den eigenen vier Wänden eingesperrt zu sein. Warum sollten gerade wir diese lebenslange Strafe „absitzen“ müssen, wenn die Verbrechen gegen unseren Planeten zum Großteil von nur einhundert Firmen begangen werden, deren Management sich daran auch noch eine goldene Nase verdient?
Hoffen, dass wir (über)leben
Die Gefahr ist nicht mehr nur rein theoretisch. Zum Beispiel toleriert der Organismus eines meiner Respondenten, der auch an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist, keine Klimaanlagen. Er wird sehr schnell krank davon, selbst wenn sie nur auf unterster Stufe eingeschaltet ist. Wenn die Temperaturen im Sommer über 35 Grad Celsius steigen, bedecken seine Eltern das Gerät mit in Eiswasser getauchten, feuchten Handtüchern und dann hoffen sie gemeinsam, dass die Maschine durchhält.Bei uns zu Hause sprechen wir immer sehr detailliert über die Winter, weil ich in der kalten Jahreszeit mindestens einmal im Monat zum Arzt muss. Meine Eltern wickeln dann ein wärmendes Gelkissen in ein Handtuch und legen das auf die Stelle, wo das Beatmungsgerät die Luft einsaugt. Dann hoffen wir einfach darauf, dass ich mich nicht erkälte.
Die Respondent*innen mit schwacher Lunge bekommen bei hohen Außentemperaturen nur unheimlich schwer Luft. Vor allem denjenigen, die aus verschiedenen Gründen ihre Körpertemperatur nicht mehr auf natürlichem Wege regulieren können, kann es passieren, dass sie während intensiver Hitzeperioden sogar das Bewusstsein verlieren. Zum Schutz wickeln sie sich nasse Tücher um den Kopf, bekommen kalte Umschläge, tragen perforierte Kleidung oder solche aus natürlichen Materialien, aber das alles sind bei weitem keine verlässlichen Maßnahmen.
Die Respondent*innen mit unterschiedlichsten Diagnosen von Kinderlähmung über Lähmungen nach einem Unfall bis hin zu nicht diagnostizierbaren Erkrankungen des Nervensystems sind, wenn es sehr kalt ist, stark in ihrer Mobilität eingeschränkt. Wenn sie jedoch den Großteil des Jahres dazu in der Lage sind, bestimmte Dinge noch selbst auszuführen, zum Beispiel auch während der Untersuchung beim Amtsarzt, wird ihnen für solche Ausnahmesituationen keine persönliche Assistenz anerkannt. So verlieren sie plötzlich ihre körperliche Freiheit, weil es keine Alternative gibt. Die fehlende Flexibilität des Systems zwingt die Menschen, die aufgrund dessen, wie der Staat funktioniert, ohnehin nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, sich aus eigener Kraft anzupassen oder zu sterben.
Ansteckende Krankheiten verbreiten sich zunehmend
Gemäß der Weltgesundheitsorganisation verbreiten sich durch den Klimawandel auch immer häufiger ansteckende Krankheiten, die über das Wasser, Nahrungsmittel, Tiere oder Menschen übertragen werden. Jede*r meiner Respondent*innen hat eingeräumt, dass er oder sie Angst um ihr Leben hat, bei jeder noch so kleinen Erkrankung. Ein Körper mit keinem oder einem sichtlich geschwächten Immunsystem kann sich nur schwer gegen Infektionen wehren, selbst mit verschiedenen Antibiotika. Nimmt man zu oft viele Medikamente ein, riskiert man wiederum eine Vergiftung oder die Gewöhnung des Immunsystems an zum Beispiel Antibiotika, was auf langfristige Sicht wirklich gefährlich sein kann, weil dadurch die einzig wirksame Behandlungsmöglichkeit verloren geht. Auch für diejenigen Menschen mit Behinderung, die einen nicht so empfindlichen Organismus haben, sind Krankheiten ein langfristiger Schwachpunkt. Die Rekonvaleszenz dauert oft Monate, was wiederum bedeuten kann, dass sie aus der Schule fliegen oder ihnen die Arbeit gekündigt wird.Die Zunahme und schnelle Verbreitung von ansteckenden Krankheiten durch den Klimawandel heißt für Menschen mit Behinderungen auch, dass sie in ständiger Angst leben und die Hoffnung auf eine Zukunft verlieren. Außerdem rutschen jedes Jahr unglaubliche 100 Millionen Menschen aufgrund ihrer medizinischen Notwendigkeiten und der damit verbundenen Kosten unter die Armutsgrenze. Diese Zahlen werden durch die Klimakrise nur noch weiter in die Höhe getrieben, so die Forschung.
Virale Videos, neue Bakterien
Es gibt jedoch noch etwas, das genauso erschreckend ist wie alles, was ich bereits genannt habe. Selbst Menschen, die sich aktiv und konstruktiv mit dem Klimawandel befassen, schaden uns. Dabei wären sie doch die einzigen, bei denen Menschen mit Behinderung in dieser Hinsicht Unterstützung finden könnten.Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, in denen barrierefreie Waren vom Markt genommen beziehungsweise sogar durch solche mit Barrieren ersetzt wurden. Die Bereitschaft, Menschen mit Behinderung zu opfern, zeigt sich am deutlichsten auch im Verbot von Plastiktrinkhalmen. Das Verbot wurde in der Richtlinie (EU) 2019/904 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt beschlossen. Die Mitgliedsstaaten hatten zwei Jahre diese Richtlinie zu implementieren.
Angefangen hat alles mit einem YouTube-Video der Meeresbiologin Christine Figgener, in dem man sieht, wie sie mit Kolleg*innen eine Meeresschildkröte rettet, in deren Nasenloch ein Trinkhalm aus Plastik steckt. Am 11. August 2015 veröffentlicht, ging das Video bald weltweit viral. Es sind ungeschnittene Aufnahmen ohne herzerwärmende Musikuntermalung, grafische Bearbeitung, Kommentare oder Ähnlichem. Das Video braucht all das nicht, denn die acht Minuten sprechen für sich. Die Schildkröte gibt vor Schmerz schreckliche Klagelaute von sich, aus ihrer Nase fließt Blut, sie bekommt kaum Luft und durchlebt sichtlich physische und emotionale Angst. Das war einer der seltenen Momente, an dem sich beide Seiten der Diskussion um den Klimawandel einig waren – so etwas sollte einem unschuldigen, schutzlosen Tier niemals angetan werden.
Einem Tier. Dieses Schlüsselwort möchte ich gerne hervorheben. Denn wie es danach weiterging, hatte auf Menschen mit Behinderung erschreckend ähnliche Auswirkungen.
Damit wir uns verstehen, ich persönlich bin der Meinung, dass im Kampf gegen die Klimakrise alle Mensch etwas beitragen sollten, so gut sie eben können. Doch genau wie bei allen grundsätzlichen Fragen sollten Lösungen auf Informiertheit beruhen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass man das Problem verschlimmert oder wie ein Kurpfuscher durch improvisierte „Behandlung“ nur neue Verletzungen verursacht.
Die Fakten sind also folgende: Eine am 24. April 2024 veröffentlichte Studie in der Zeitschrift Science Advances fand heraus, dass 56 Firmen für 50 Prozent der weltweiten Umweltverschmutzungen durch Kunststoffe verantwortlich sind. Nur sechs von ihnen verursachen 12,5 Prozent der weltweiten Verschmutzungen. Zum Vergleich: Die Trinkhalme aus Kunststoff bilden nur 0,025 Prozent des Plastiks, das jedes Jahr in die Ozeane gelangt, wie aus einem Bericht von National Geographic hervorgeht.
Ein logischer Lösungsansatz wäre meines Erachtens, Druck auf die wenigen betroffenen Unternehmen oder auf das Europäische Parlament, den US-Kongress und nachgeordnete Regierungsstellen auszuüben, um sie zu zwingen, ihre Methoden der Herstellung und Verwertung von Produkten zu verändern. Doch das Schildkrötenvideo wurde 110 Millionen Mal angesehen. Es ging weltweit viral. Und so hat sich die Menschheit für eine ähnlich performative Art des Aktivismus entschieden und das das Verbot von Plastiktrinkröhrchen durchgesetzt. Durch diesen Schritt verringert sich die Menge an Plastik, die jedes Jahr ins Meer gelangt, um unglaubliche 0,025 Prozent, ein nicht so unbedeutender Prozentsatz der menschlichen Population muss wegen dieses Schrittes jedoch eine bedeutende Verringerung der Lebensqualität in Kauf nehmen.
Das nicht zu Ende gedachte Verbot von Plastiktrinkröhrchen
Plastiktrinkröhrchen sind nämlich für viele gesundheitlich beeinträchtigte Menschen der einzige Weg, etwas zu trinken. Statt der Plastikvariante stellen die Firmen die Trinkröhrchen nun aus verschiedenen anderen Materialien her. Offensichtlich sind sie für Menschen gedacht, die die Röhrchen mehr aus Spaß benutzen, nicht als notwendige Hilfsmittel.Vor allem hat außer denen aus Kunststoff keine der Varianten ein bewegliches Oberteil, mit der sich das Röhrchen an die Position der Trinkenden anpassen lässt. Bei allen ökologischen Trinkröhrchen ist es notwendig, sich in einem speziellen Winkel über sie zu beugen. Während man die Plastikröhrchen nach jedem Gebrauch wegwirft, sind die Alternativen dazu gedacht, langfristig verwendet zu werden, was sich dann auch im Preis niederschlägt. Menschen mit einem schwächeren Immunsystem müssen diese mehrfach verwendbaren Röhrchen jedoch sehr gründlich desinfizieren, im ungünstigsten Fall nach jedem Trinken. Eigentlich sind für sie nur Silikontrinkröhrchen geeignet. Trinkröhrchen aus Metall, Glas, Akryl oder Bambus werden auch mit größerem Durchmesser hergestellt, damit die Nasenlöcher der Tiere geschützt werden, aber diese Varianten lassen sich nicht zusammendrücken, um sie dem Mund der Nutzenden anzupassen. Menschen, die ihren Mund nur schwer öffnen oder die dickeren Röhrchen nicht mit den Lippen fassen können, haben damit ein Problem. Die harten Materialien stellen auch für diejenigen ein Verletzungsrisiko dar, die aus gesundheitlichen Gründen unkontrolliert schnelle Bewegungen machen. Teile von Trinkröhrchen aus Papier, Gras, Nudeln oder anderen essbaren und leicht zerbrechlichen Materialien können im Mund zurückbleiben und von Menschen mit eingeschränkter Beweglichkeit nicht entfernt werden, sodass sie daran ersticken können.
Die Regierungen vieler Länder haben die Richtlinie deshalb dahingehend angepasst, dass Kunststoffröhrchen zum Trinken nur an Menschen mit gewissen gesundheitlichen Einschränkungen verkauft werden dürfen. Jedoch nur unter der Voraussetzung, dass Geschäfte oder Apotheken diese Waren nicht für alle sichtbar präsentieren. Woher sollen Menschen mit Behinderung also wissen, wo sie barrierefreie Trinkröhrchen finden können? Wenn sie danach fragen müssen, sind sie gezwungen, ihre Bedürfnisse gegenüber völlig Fremden zu äußern. Angesichts der extrem niedrigen Gewinnprognosen sehen die Geschäfte auch keinen Grund, Plastiktrinkhalme nur für uns zu bestellen, sodass sie unweigerlich aus den Lagern verschwinden.
In der Slowakei gibt es solch eine Ausnahme jedoch gar nicht. Meine Respondent*innen haben sogar angegeben, dass slowakische Restaurants oft nicht einmal die nicht barrierefreien ökologischen Alternativen anzubieten haben.
Wie können wir dann also Wasser trinken oder unsere Medikamente einnehmen? Man bedenke, dass selbst mir, die ich rund um die Uhr pflegebedürftig bin, nur 15 Stunden persönliche Assistenz pro Tag bewilligt worden sind. Der absoluten Mehrheit der Menschen mit Behinderung in der Slowakei steht an den meisten Tagen keine persönliche Assistenz zur Verfügung, womit sie ergo niemanden haben, der ihnen beim Trinken helfen kann. Oftmals bedürfte es einer solchen Hilfe nicht, wenn sie entsprechende Trinkröhrchen zur Verfügung hätten. Nicht wenige Menschen mit Behinderung können selbst mit der Unterstützung durch persönliche Assistenzen nicht aus einer normalen Tasse trinken, weil sie sich bei der schnellen Aufnahme von Flüssigkeit verschlucken, sodass die Gefahr besteht, zu ersticken oder eine Lungenentzündung zu bekommen.
Menschen mit Behinderung als Impulsgebende für Lösungsansätze
Viele von uns sind deshalb auf Sonden angewiesen, die Nahrung direkt in den Magen leiten. Eine Ironie des Schicksals ist auch, dass die häufigste und am wenigstens invasive Art dieser Sonden die nasogastrale Intubation ist, die durch die Nasenlöcher eingeführt wird und bis zum Magen reicht. Die Erfahrung damit ist ähnlich der Situation, in der sich die Schildkröte aus dem Video befand – das Atmen durch ein Nasenloch wird eingeschränkt, Unwohlsein hervorgerufen, es schmerzt und vielleicht fließt sogar Blut.Selbstverständlich müssen die Schildkröten geschützt werden, genauso wie alle anderen Tiere, die wegen der Menschheit Qualen erleiden. Doch auch Behinderte sind Lebewesen, Menschen wie jede*r andere. Warum sollte es also akzeptabel sein, uns ebensolche Qualen zu verursachen wie der Schildkröte, deren Schicksal die ganze Welt beweint hat? Mit dem Verbot der Trinkröhrchen hat man nur eine Rücksichtslosigkeit gegen eine andere eingetauscht, die Klimakrise tangiert das so gut wie gar nicht. Durch den Klimawandel werden mit der Zeit aber auch die Schildkröten (aus)sterben, die man mit diesen Maßnahmen angeblich zu schützen versucht.
Bestimmte Gruppen von Menschen sind sich eigentlich prinzipiell darüber im Klaren, dass das Verbot der Trinkröhrchen aus Plastik nur unwesentlich zur Lösung beiträgt. Menschen mit Behinderung werden deswegen jedoch in Mitleidenschaft gezogen. Der fundierten Einschätzung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen zufolge werden jedoch weltweit nur durchschnittlich 9 bis 12 Prozent des Abfalls aller Materialtypen recycelt, sodass selbst umweltfreundliche Trinkhalme wahrscheinlich immer noch in den Nasen wehrloser Tiere landen. Seth Borenstein beispielsweise erwähnt in seinem Artikel für die Wissenschaftswebsite psych.org beiläufig, dass das Verbot von Trinkhalmen nach Ansicht von Wissenschaftler*innen auf Personen ohne Behinderung keine nennenswerten Auswirkungen hat. In erstaunlich vielen Artikeln und Stellungnahmen von Expert*innen werden die Plastiktrinkröhrchen weiterhin nur als Symbol für den Wandel zum Besseren betrachtet.
Doch leiden Menschen mit Behinderung wirklich nur symbolisch? Wenn ja, dann ist sich die Seite der Befürworter des Klimaschutzes wieder einmal mit derer der Klimawandelleugner einig. Schließlich wurden in der Vergangenheit Hexen oder Märtyrer verbrannt oder ertränkt, Menschen also, die darauf reduziert wurden, Symbole für das Böse zu sein, das die Welt heimgesucht hat. Einigen wir uns lieber darauf, dass solches Handeln der barbarischen Vergangenheit angehört. Nehmt uns stattdessen doch als gleichwertige Menschen wahr, die einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Klimakrise leisten können. Schließlich sind Menschen mit Behinderung historisch gesehen unersetzliche Impulsgeber, die im Kampf für ihre eigene Rettung und Freiheit mit einem Minimum an Möglichkeiten und in Zeiten der Not die besten Erfindungen hervorgebracht haben. Wir sind für eine solche Aufgabe wie geschaffen. Wenn ihr, die ökologisch denkenden Menschen, uns jedoch für minimale Verbesserungen opfert, verspielt ihr damit vielleicht auch die Chance auf die Lösung der Klimakrise.
Dezember 2024