True-Crime-Boom  Wahre Verbrechen oder Ware Verbrechen?

Wahre Verbrechen oder Ware Verbrechen? Foto: Daniel von Appen via Unsplash | CC0 1.0

Seit Jahren boomt True Crime – und fast genauso lange steht das Genre in der Kritik: Es sei ausbeuterisch, reißerisch und könne bei Opfern zu einer Retraumatisierung führen. Gibt es eine Möglichkeit, über wahre Verbrechen ethisch(er) zu erzählen?

Schaut man zurück, interessiert sich die Menschheit, seit sie sich Geschichten erzählt, auch für schaurigen Geschichten von wahren Verbrechen. Gewiss, seit dem Launch des US-Podcasts Serial im Jahr 2014 boomt True Crime, das Phänomen selbst gibt es aber schon immer. Früher als Pamphlete und Anschläge verbreitet – und noch vor der Erfindung von Druckerzeugnissen mündlich weitergetragen – sowie durch Zeitschriften (der Begriff „True Crime“ geht übrigens auf das 1924 gegründete Magazin True Detective zurück) ist heute das gängigste Format der Podcast. Und doch ist auch mit historischem Blick der aktuelle Hype außergewöhnlich.

Denn keine Frage: True-Crime-Erzählungen sind so populär wie noch nie. Im deutschsprachigen Raum gibt es dutzende Podcasts, ob in Plauder-Podcasts erzählt mit jeweils einem Verbrechen pro Folge oder als Storytelling-Podcast (wie eben Serial) mit einem Fall, der über eine ganze Staffel ausgebreitet wird. Mord am Mittwoch, Mordlust, Weird Crimes, ZEIT Verbrechen oder Mord auf Ex, in den Podcast-Charts finden sich True-Crime-Podcasts immer ganz weit oben. Zusätzlich gibt es True-Crime-Printmagazine wie STERN Crime (seit 2015) oder ZEIT Verbrechen (seit 2018) sowie unzählige Dokus, Serien und Bücher.

Bei der Masse an Podcasts und anderen Medienerzeugnissen ist klar, dass die Qualität teilweise sehr unterschiedlich ist. Die primäre Kritik an True Crime lautet, dass das Genre ausbeuterisch sei, nicht die Opfer, sondern eher die Täter in den Blick nähme und durch reißerische Berichterstattung bei Opfern beziehungsweise deren Angehörigen zu einer Retraumatisierung führe. Der True-Crime-Hype hat aber noch andere Auswirkungen: „True Crime ist ein digitalkulturelles Phänomen, das sich nicht nur auf Podcasts beschränkt“, weiß Jan Harms. Der Medienwissenschaftler, der in Berlin an der Universität der Künste zum Thema True Crime promoviert, weist auf eine weitere Dimension hin: Es geht nicht nur darum, Kriminalfälle nacherzählt zu bekommen, viele Menschen finden sich darüber auch online in Communitys zusammen. Das hat teilweise positive Effekte. Allerdings wird mitunter auch gemeinsam versucht, eigene Nachforschungen zu betreiben.

Kritik an True Crime

Als im August 2021 die 22-jährige Bloggerin Gabby Petito in Wyoming verschwand, beherrschte dieses Thema in Echtzeit wochenlang vor allem TikTok, aber auch andere Social-Media-Plattformen. User*innen durchforsteten sämtliche Posts von Petito und die ihres Freundes, der schnell in Verdacht geriet, sie ermordet zu haben, suchten auf Fotos und Videos nach Hinweisen über ihren Verbleib. In jenem Fall stellte sich der Verdacht als wahr heraus – nicht selten geraten aber auch Unschuldige ins Visier von Hobbydetektiv*innen. Dass ausgerechnet Gabby Petito so viel Aufmerksamkeit generierte, ist dabei kein Zufall. Missing white woman syndrome nennt sich das Phänomen, laut dem vor allem junge, weiße, attraktive Frauen auf Interesse stoßen. Im selben Jahr, als Petito verschwand, war ein Bericht veröffentlicht worden, der besagte, dass allein im US-Staat Wyoming zwischen 2011 und 2020 710 indigene Menschen als vermisst gemeldet worden waren. Das Medienecho auf diese erschreckende Statistik war gering.

Drei Viertel der vom Weißen Ring untersuchten Podcasts beschäftigt sich mit Fällen, in denen Menschen getötet werden. In der Polizeilichen Kriminalstatistik machen sogenannte Straftaten gegen das Leben hingegen nur 0,1 Prozent aller erfassten Straftaten aus.“

Karsten Krogmann | Verein Weißer Ring

Der Verein Weißer Ring, der sich für Kriminalitätsopfer einsetzt und der 2023 einen umfangreichen True-Crime-Report veröffentlichte, kritisiert True Crime scharf. „Es gibt den Menschen sicherlich ein gutes Gefühl, sich über die Erzählung ‚wahrer Verbrechen‘ dem Bösen zu nähern“, sagt Karsten Krogmann, Leiter des Teams Medien & Recherche. Aber nur, wenn sie sich gleichzeitig in Sicherheit wissen, „im geschützten Raum des Ohrensessels in ihrem Wohnzimmer“. Krogmann wiederum zitiert Daniel Müller, Chefredakteur von ZEIT Verbrechen mit dem Begriff „Wohlstandsphänomen“. Er glaube nicht, dass es in Ländern mit hoher Mordrate wie etwa Mexiko oder El Salvador einen Markt für True-Crime-Erzählungen gibt.

Auch wenn True Crime im Prinzip jegliche Verbrechen und Kriminalfälle beinhaltet, liegt der Fokus ohne Frage auf Mord und Totschlag. „Drei Viertel der vom Weißen Ring untersuchten Podcasts beschäftigt sich mit Fällen, in denen Menschen getötet werden“, so Krogmann. „In der Polizeilichen Kriminalstatistik machen sogenannte Straftaten gegen das Leben hingegen nur 0,1 Prozent aller erfassten Straftaten aus.“ Eine der gängigsten Erklärungen, warum True Crime gerade bei Frauen so populär ist – je nach Statistik und Umfrage sind zwischen 60 und 80 Prozent der Hörer*innen weiblich – lautet, dass es sich um Wissensvorsprung und Prävention handelt: Wenn ich weiß, was mich erwarten könnte, kann ich mich besser darauf vorbereiten. „Diese Begründung greift ein bisschen zu kurz“, sagt Jan Harms. Aber: Mit Bezug auf die bereits erwähnten Online-Communitys, die sich zusammenfinden, erläutert er: „Für Frauen ist das auch eine Möglichkeit des Austauschs, etwa über Unsicherheit im öffentlichen Raum als weiblich gelesene Person.“

Verantwortung, Recherche und Kommunikation

Bei all dieser Kritik bleibt also die große Frage – wie können True-Crime-Erzählungen ethischer gestaltet werden? Für Leonie Bartsch und Linn Schütze ist klar: Man muss sich gerade bei einer gewissen Reichweite über die eigene Verantwortung bewusst sein. Und Reichweite haben die beiden Frauen. Ihr 2019 ins Leben gerufener Podcast Mord auf Ex hat ihren Angaben zufolge monatlich fast fünf Millionen Hörer*innen. Die ursprüngliche Motivation der Freundinnen war zu verstehen, was Menschen zu diesen Taten treibt. „Wir hätten niemals gedacht, dass der Podcast so explodiert“, sagt Bartsch. Vom anfänglichen Hobby professionalisierten sich die beiden schnell. Inzwischen arbeitet ein mehrköpfiges Team im Hintergrund zwecks Recherche und Fact-checking, unter anderem Journalist*innen, die auch für die ZEIT oder den Spiegel arbeiten.

Bedeutet, dass in jede der wöchentlichen Folgen eine Menge Arbeit fließt, wie die beiden Podcasterinnen versichern. Zumindest bei den deutschen Fällen setzen sie sich immer mit den Opfern beziehungsweise Angehörigen in Verbindung. „Das ist der Grundanspruch an uns. Außerdem dient es ehrlich gesagt auch der Informationsgewinnung“, sagt Schütze. Um die Szenerie der Schauplätze atmosphärisch beschreiben zu können, benötigen sie nämlich sämtliche Details. „Wir schmücken nichts aus. Teilweise brauchen wir einen ganzen Tag dafür, um herauszufinden, welche Farbe das Haus oder die Tapete des Kinderzimmers hat.“ Hauptquelle sind neben den Opfern zumeist vor allem Gerichtsdokumente und andere offizielle Unterlagen, außerdem schauen sie Dinge nach wie die Wetterlage an dem Tag des Verbrechens oder spazieren per Google Maps durch die Straßen.

Den gesellschaftlichen Kontext bedenken

Schütze und Bartsch sehen es als Aufgabe der Medien an, gerade Cold-Case-Fälle, also ungeklärte Kriminalfälle, zu denen die Polizei erneut Ermittlungen aufnimmt nochmal genauer unter die Lupe zu nehmen, um vielleicht auf neue Hinweise zu stoßen und Druck auf die Behörden auszuüben, den Fall wieder aufzunehmen. Darin stimmt selbst der Weiße Ring überein. „Es gibt durchaus ein paar positive Effekte von True Crime“, sagt Krogmann und zählt auf: „Aufklärung von ungelösten Verbrechen, Erziehung der Gesellschaft, Lernen aus Fehlern und Einblicke in Ermittlungsarbeit sowie Einblicke in die Psychologie von Tätern und Opfern.“ Medienwissenschaftler Jan Harms betont, dass für eine angemessene Erzählung von True Crime der Fall immer in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet werden müsse. „Das Verbrechen darf nicht völlig losgelöst als Sensation vom Himmel gefallen dargestellt werden.“ Vor allem eine Essentialisierung, also über die vermeintliche „Natur des Bösen“ zu spekulieren, sei problematisch. „Die sozialen und kulturellen Faktoren, die zu dem Verbrechen beitragen, müssen aufgearbeitet werden.“

Harms nennt den WDR-Podcast Schwarz Rot Blut als positives Beispiel. „Der Podcast erzählt anhand verschiedener Fälle, wie in Deutschland mit rassistischer Gewalt umgegangen wird.“ Dabei ginge es um die Polizei und Staatsanwaltschaft, und auch Angehörige der Opfer und die von Rassismus betroffene Community werden miteinbezogen. „Das ist ein sehr gutes Beispiel, was man mit True Crime erreichen kann. Die Verbrechen werden genutzt, um größere gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen.“

Spricht dies bei aller Kritik am Genre doch für True Crime? Karsten Krogmann ist mehr als skeptisch, gerade wenn es um Podcasts geht, die in jeder Folge ein neues Verbrechen behandeln. „Ungelöste Verbrechen [also Cold Cases] machen nur einen Bruchteil der True-Crime-Formate aus, die meisten behandeln Fälle, die längst aufgeklärt und strafrechtlich abgeschlossen sind.“ Gerade Lokal- und Regionalredaktionen erzählten gerne Fälle aus dem Archiv nach, da die Aufarbeitung verhältnismäßig einfach sei. „Für mich liegt deshalb der Gedanke nahe, dass es bei True Crime in erster Linie eben nicht um Aufklärung oder Prävention geht, sondern vor allem darum, eine spannende Geschichte zu erzählen. ‚Wahre Verbrechen‘ sind für Medien häufig vor allem die ‚Ware Verbrechen‘.“

Die Retraumatisierung der Opfer ist eine große Hypothek, die sich das Genre aufgeladen hat. Gerade brutale Gewaltverbrechen fordern eine extrem hohe ethische Verantwortung.“

Jan Harms | Medienwissenschaftler

Einbezug der Opfer und Angehörigen

Linn Schütze und Leonie Bartsch erleben das anders. „Es gibt viele Fälle, in denen die Betroffenen einfach total hilflos sind“, sagt Schütze. „Wir sagen denen immer, wir sind nicht eure Anwältinnen. Das Einzige, was wir liefern können, ist, den Fall nochmal anzuschauen.“ Oft ginge es den Opfern primär darum, ihre Geschichte der Welt erzählen zu können. „Wir haben eine Folge zur Landshut-Entführung gemacht“, erzählt Bartsch mit Bezug auf die Flugzeug-Entführung während des sogenannten Deutschen Herbsts 1977. „Eine der Betroffenen, die sogar mit Waffe am Kopf aus der Flugzeugtür gehalten wurde, Diana Müll, hat uns ein sehr bewegendes Interview gegeben und gesagt, keiner höre ihr zu, sie bekäme keine Opferrente, könne ihre Therapie nicht bezahlen.“ Die Podcasterinnen versuchen, Personen wie Diana Müll ein offenes Ohr zu leihen und auf ihre Schicksale aufmerksam zu machen.

Kann True Crime also ethisch erzählt werden? „Die Retraumatisierung der Opfer ist eine große Hypothek, die sich das Genre aufgeladen hat. Gerade brutale Gewaltverbrechen fordern eine extrem hohe ethische Verantwortung und einen sensiblen Umgang Opfern, Angehörigen oder den Personen, die durch ihre eigene Geschichte affiziert werden können“, sagt Jan Harms. „Aber durch den Boom ist es in der Bandbreite schwierig, alle True-Crime-Erzählungen über einen Kamm zu scheren.“

Der Opferverbrand Weißer Ring stellt mit Blick auf den Pressekodex drei Forderungen an die True-Crime-Macher*innen: Prüfen, ob es tatsächlich ein öffentliches Interesse gibt, den Fall erneut an die Öffentlichkeit zu bringen, sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen und keinen Sensationsjournalismus zu betreiben und die Betroffenen sensibel mit einzubinden. Wird dies beachtet, kann die oben gestellte Frage durchaus mit einem Ja beantwortet werden. Solange der Einfluss der True-Crime-Erzählungen nicht darin besteht, dass sich Hobbydetektiv*innen online vernetzen, um nach vermissten weißen Frauen zu suchen und dadurch echte Ermittlungen behindern.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.

Empfehlungen der Redaktion

Failed to retrieve articles. Please try again.

Meistgelesen

Failed to retrieve articles. Please try again.