Nachhaltigkeit ist cool, aber wie setzt man sie um? Und wie implementiert man sie in einer Branche, die von Natur aus unökologisch ist – im Verlagswesen? Die Buchwissenschaftlerin Anna Štičková beschäftigt sich mit verschiedenen Möglichkeiten. Und sie kommt zum Beispiel zu dem Schluss, dass es nicht nur um Ökologie geht, sondern auch um das halsbrecherische Karussell der Deadlines und das Missverhältnis von überhöhtem Arbeitspensum und unverschämten Honoraren.
Nachhaltigkeit ist „das gemeinschaftliche Ziel des langfristigen Zusammenlebens der Menschen auf der Erde“ („Sustainability is a social goal for people to co-exist on Earth over a long time.“) heißt es in dem entsprechenden englischsprachigen Wikipedia-Eintrag. Dort steht auch, dass Nachhaltigkeit in der Regel durch drei Dimensionen, beziehungsweise Säulen definiert wird: Umwelt, Wirtschaft und Soziales. Im engeren Sinne wird sie in erster Linie mit der Umwelt in Verbindung gebracht, einschließlich Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt, Wasser- und Luftverschmutzung und so weiter.Scheinbar haben also Nachhaltigkeit und die Buchbranche, und vor allem Nachhaltigkeit und dass ich chronisch im Verzug bin, nichts miteinander zu tun. Der Schein trügt. Betrachten wir uns die einzelnen Säulen genauer.
Säule Ökonomie
So schrecklich das Wort Säule auch klingt, ich verstehe, dass es verwendet wird, um anzudeuten, dass wir ohne eine der drei oben genannten Dimensionen keine Nachhaltigkeit oder einen gesünderen Planeten erleben werden (unsere Chance auf einen gesunden Planeten haben wir wahrscheinlich schon verloren). Es ist so simpel, als hätte man einen Tisch mit nur drei statt vier Beinen und müsste zu einer (nicht) nachhaltigen schwedischen Möbelhauskette gehen, die (nicht) nachhaltiges Glück verspricht, um diesen zu reklamieren.Die Arbeit der Literatur-„Arbeiter*innen“ steht für eine endlose Reihe von Deadlines und ein überhöhtes Arbeitspensum, um überhaupt in die Nähe eines existenzsichernden Lohns zu kommen.
Obwohl es auf das lesende Publikum wahrscheinlich nicht so wirkt, ist der Buchmarkt voll von Herren in karierten Jacken mit Aktentaschen, denn auch dort werden Milliarden tschechische Kronen umgesetzt. Der Umsatz des Buchmarktes in Tschechien bewegt sich üblicherweise bei um die 8 Milliarden Kronen (knapp 320 Millionen Euro) jährlich beziffert. Zum Vergleich: Die Audiobranche setzte im vergangenen Jahr über 15 Milliarden Tschechische Kronen (knapp 600 Millionen Euro) um, Gaming über 5 Milliarden Kronen (knapp 200 Millionen Euro) und der Kunstauktionsmarkt 1,6 Milliarden Kronen (etwa 64 Millionen Euro). Acht Milliarden klingt nach einer großen Zahl, aber Vorsicht: Umsatz ist nicht gleich Gewinn.
Betrachtet man nämlich die durchschnittlichen Honorare von professionellen Kulturschaffenden, so stellt man fest, dass sie weit unter einem akzeptablen Niveau liegen. Es gibt nicht viele Daten, aber eine Untersuchung des Vereins Překladatelé Severu (Übersetzer des Nordens), ein Zusammenschluss von tschechischen Übersetzer*innen skandinavischer Literatur) hat beispielsweise ergeben, dass die durchschnittliche Vergütung für die Übersetzung einer Normseite eines literarischen Textes nach Berücksichtigung der Inflation und der Preissteigerungen 387 Kronen (etwa 15,40 Euro) betragen sollte. In Wirklichkeit liegen die Honorare jedoch um mehr als hundert Kronen niedriger – etwa 230 CZK (etwa 9,10 Euro). Die Arbeit der Literatur-„Arbeiter*innen“ steht für eine endlose Reihe von Deadlines und ein überhöhtes Arbeitspensum, um überhaupt in die Nähe eines existenzsichernden Lohns zu kommen.
Die Frankfurter Buchmesse, den größten Buchmarkt der Welt, besuchten im letzten Jahr 215.000 Besucher. | Foto: © Anna Štičková
Zwei Realitäten
Je länger ich also den Buchbetrieb beobachte, desto mehr habe ich das Gefühl, dass wir in zwei voneinander getrennten Realitäten existieren. Die eine besteht aus schick gekleideten Leuten, die zu Besprechungen gehen, den Verkauf von Rechten regeln und „das Geschäft vorantreiben“. Die Diskussionen finden in Konferenzräumen statt, deren Decken aus Plastikquadraten mit Leuchtstoffröhren bestehen. Es ist eine Branche, in der man mindestens ein Jackett und idealerweise einen Penis haben muss.Und die andere Realität ist lebendige Literatur, Autor*innen, die Bücher und Artikel schreiben, nachdem sie ihren bürgerlichen Job erfüllt haben, unabhängige Verleger*innen, die ihre Bücher im Rucksack auf dem Rücken oder im Karren transportieren, Autor*innenlesungen in versteckten Läden und regionalen Bibliotheken, in denen bestenfalls die Bibliothekar*innen tun, was sie können, um überhaupt Leute in die Bibliothek zu locken.
Theoretisch bin ich geneigt zu glauben, dass es sich um eine Skala handelt – auf der einen Seite stehen die Unternehmensgiganten, seien es die weltweiten „Big Five“ oder die tschechischen „Big Three“ (Euromedia Group, Kosmas und Dobrovský), und auf der anderen Seite steht die unabhängige Szene. Die einzelnen Akteur*innen bewegen sich irgendwo innerhalb dieser Skala, mal mehr auf der einen, mal auf der anderen Seite. Und gleichzeitig ist dieses Spektrum durchlässig. Es kommt vielleicht nicht oft vor, aber manch eine*r kann einen Ausflug „auf die andere Seite“ machen.
Wenn ich mich jedoch in dem einen oder anderen „Extrem“ befinde – sei es auf der Frankfurter Buchmesse oder auf einem unabhängigen Festival irgendwo in der Provinz – dann glaube ich nicht an meine eigene Theorie. Es sind zwei Welten, die nebeneinander existieren und manchmal im Rahmen bestimmter Veranstaltungen aufeinander treffen, aber man kann nicht sagen, dass eine die andere verstehen würde. In der Tat sind die Voraussetzungen recht unterschiedlich – auf der einen Seite der Skala werden Bücher als Ware gesehen, die praktisch auf jede Art und Weise gehandelt werden kann. Zynische Manager sagen dazu, es sei egal, ob man Bier, Möbel oder Bücher verkauft.
Alles in seinen Geldwert umzurechnen, ist ein Weg in die Hölle – und den gehen wir gesellschaftsübergreifend immer noch in großen Schritten.
Ein zu kleiner Markt und zu viele Bücher
Wir können uns vorgaukeln, dass dies nur Extreme sind und dass es dazwischen genügend Verlage, Buchhandlungen und Buchfachleute gibt, damit alles irgendwie überlebensfähig bleibt und sich allmählich „konsolidiert“. Sicherlich zeigen uns Beispiele aus anderen Branchen und ideologischen Spektren der letzten Jahre, dass sich alles irgendwie stabilisieren und ausgleichen wird und dass das Extreme nicht „gewinnen“ kann. Nur kann es eben doch. Der gegenwärtige (tschechische) Buchhandel ist wirtschaftlich völlig untragbar. Die Geschäftsführer*innen der großen Verlagshäuser (die oft mit Buchhandelsketten und dem Vertrieb verbunden sind) erzählen uns mit bohèmehafter Gelassenheit, dass „jeder schon immer jedem etwas schuldig war“, und dass es keinen Grund zur Sorge gibt. Oder, dass der Weihnachtsmarkt uns retten wird, weil „Bücher im Vergleich zur Elektronik immer noch ein billiges Geschenk sind“. Aber die Lage ist seit vielen Jahren aussichtslos. Und es ist gut, das zuzugeben. Wir streben in der Buchbranche keine wirtschaftliche Nachhaltigkeit an. Es ist eine Spirale aus Schulden, Zahlungsrückständen, Urheberrechtsverletzungen und Prekarisierung.Das Einzige, worüber wir uns in allen Bereichen einig sind, ist, dass zu viele Bücher für einen zu kleinen Markt erscheinen. Das drückt den Preis nach unten und die meisten Titel rechnen sich nicht. Jährlich kommen in Tschechien zwischen 14.000 und 15.000 Titel auf den Markt. Zum Vergleich: Schweden hat nur 200.000 Einwohner*innen mehr als Tschechien und dort werden weniger als 8.000 Bücher pro Jahr herausgegeben, während in Frankreich 67 Millionen Menschen leben und dort etwa 100.000 Bücher erscheinen. Wir sind uns aber nicht einmal darüber einig, welche Bücher nicht veröffentlicht werden sollten. Diejenigen, mit denen sich kein Geld verdienen lässt, die aber einen künstlerischen oder kulturellen Wert haben, der Generationen überdauern kann? Und wie erkennen wir, auf welche Bücher das zutrifft?
Spoiler-Alarm: Wir können es nicht vorher wissen, denn das braucht wirklich Zeit. Aber die Ökonomie gebietet es, sich ihrer zu entledigen, weil sie einfach nicht rentabel sind. Oder sollen es diese Hunderte von vorgefertigten Mainstream-Titeln sein, die man liest, wegwirft, vergisst und sich einen neuen kauft? Sie mögen niemanden bilden oder erziehen, aber sie sorgen dafür, dass die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin liest und damit diese so genannten anspruchsvolleren Titel mitfinanziert. Der Schlüssel liegt vielleicht irgendwo in der Mitte – es ist möglich, wirtschaftlich nachhaltig zu publizieren. Zum Beispiel mit einer geringeren Anzahl von Titeln, aber in einem ausgewogenen Verhältnis, so dass den XY Mainstream-Titeln, die Geld einbringen, XY gegenüberstehen, die das nicht tun, aber gesellschaftlich und kulturell wichtig sind.
Genauso wichtig wie die großen Buchmessen sind die kleinen Literaturfestivals, auf denen Bücher verkauft und Diskussionen und Lesungen veranstaltet werden. Hier das Festival Knižní lázně im westböhmischen Mariánské lázně (Marienbad). | Foto: © Anna Štičková
Säule Umwelt
Der Buchbetrieb ist von Natur aus nicht umweltfreundlich. Es müssen Bäume gefällt werden, es wird viel Wasser verbraucht, es fallen erhebliche Transportkosten an und so weiter. Niemand kann messen, ob der CO2-Fußabdruck, den Bücher verursachen, durch ihren gesellschaftlichen Nutzen ausgeglichen wird. Wir möchten glauben, dass es so ist. Beim Großteil der aktuellen Produktion ist das wohl eher nicht der Fall. Das war schon immer so: Seit dem 18. Jahrhundert wurde eine beträchtliche Anzahl von Büchern veröffentlicht, von denen wir die meisten heute nicht mehr kennen, und nur diejenigen, die weise Männer für würdig befanden, einen Platz im Kanon zu erhalten, haben überlebt.Vor Jahren ging man davon aus, dass physische Bücher die elektronischen „auslöschen“ würden, da diese besser, nachhaltiger und praktischer seien. Das ist nicht eingetreten.
Außerdem ist es sehr schwierig, ein Buch als ökologisch zu zertifizieren. Dazu müsste man den gesamten Verlag zertifizieren und dann jedes Produkt – also jedes Buch – einzeln. Das macht aber niemand. Bislang begnügt sich der Buchmarkt damit, dass einige Verlage auf nachhaltig produziertem Papier und in zertifizierten, nachhaltigen Druckereien drucken. Aber bei weitem nicht alle. Aus Gesprächen mit Druckereien, die eine meiner Studentinnen im Rahmen ihrer Doktorarbeit (an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn) führte, ging hervor, dass vor allem ausländische Verlage an nachhaltigem Druck und umweltfreundlichem Papier interessiert sind. Tschechische Verlage nur in den wenigsten Fällen. Wir sind in diesem Bereich im Vergleich zum restlichen Europa im Rückstand.
Vor dem Ausbruch der Pandemie lohnte es sich außerdem häufig, ein Buch in China drucken zu lassen und für ein paar tausend Dollar in die USA oder nach Europa zu verschicken. Das gilt heute nicht mehr im selben Maße. Mit der Pandemie sind die Transportpreise pro Container aus China enorm gestiegen, und die globale Logistik ist langsamer und teurer geworden. Das heißt aber nicht, dass jeder auf klimafreundliches Büttenpapier druckt.
Wenn Sie sich für Bibliodiversität interessieren, sind diese Bücher eine unverzichtbare Inspirationsquelle. | Foto: © Anna Štičková
Der Wandel ist möglich
Aber es gibt Wege, die wir gehen können. Wir können unseren Ansatz ändern. Wir alle – Verlage, Buchhandel und Leser*innen. Zuallererst ist es tatsächlich unerlässlich, die Überproduktion zu beenden, über die ich oben geschrieben habe. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Anzahl der Titel, sondern auch was die Stückzahlen betrifft. Allmählich setzt sich im Verlagsdiskurs (wie auch in anderen Branchen) ein langsamerer, nicht wachstumsorientierter Ansatz durch, das so genannte Slow-Publishing. Dies wird vor allem von unabhängigen Verlagen praktiziert.Die Schweizer Verlegerin Annette Beger (Kommode Verlag) zum Beispiel sagt, dass sie sich bewusst bemüht, die Umweltbelastung zu reduzieren: „Wir verwenden keine Plastikverpackungen, um ein oder mehrere Bücher auf einmal einzupacken. Wir drucken auch mehrere Titel auf einmal, so dass die Druckerei statt zweier nur eine Sendung verschickt.“
Ferči Malik, Direktor des slowakischen Verlags Brak und des gleichnamigen Buchfestivals, beschreibt einen ähnlichen Ansatz: „Es ist wichtig, dass Nachhaltigkeit ein ständiger Aspekt der Buchproduktion ist. Dass wir bei so gut wie jedem Schritt darüber nachdenken – bei der Wahl des Papiers, des Buchformats und eigentlich auch bei der Wahl des Buches selbst. Neben dem ökonomischen Aspekt fließt automatisch auch der ökologische Aspekt in die Entstehung eines Buches ein.“
Unabhängige Verlage gehen nicht nur aus reinem Altruismus an das „langsame“ Publizieren heran, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen – sie veröffentlichen in der Regel sehr spezielle Titel, die auf ein bestimmtes Genre oder ein bestimmtes Thema ausgerichtet sind und kein großes Zielpublikum haben. Es würde nicht funktionieren, wenn sie Dutzende von Büchern mit lächerlich hohen Auflagen pro Jahr herausgeben würden. Sie veröffentlichen nur Titel in Auflagen zwischen fünfhundert und zweitausend Exemplaren. Und bei einem solchen Volumen lohnt es sich auch nicht, die Bücher in China drucken oder über weite Strecken transportieren zu lassen, so dass die meisten dieser Verlage in „ihrem“ Land oder zumindest auf demselben Kontinent drucken, auf dem sie die Bücher dann auch vertreiben.
Wenn die Bücher ausgehen, werden weitere nachgedruckt, damit die Überschüsse nicht in den Vertriebsnetzen und in den Müllverbrennungsanlagen landen, was öfter passiert, als uns lieb ist. Der größte Unterschied zwischen solchen Verlagen und der Massenproduktion in Verlagsfabriken ist jedoch das Element des Kuratierens. Angesichts der Tatsache, dass praktisch jeder Titel den Unterschied zwischen Überleben und persönlichem und finanziellem Ausbluten ausmachen kann, überlegt man sich zwei- bis sechsmal, ob es – selbst mit Zuschüssen – wirklich sinnvoll ist, ein solches Buch zu veröffentlichen. Sicher, man kann immer etwas falsch machen, das kommt vor. Aber für einen großen Verlag ist es einfacher, die Löcher zu stopfen, die gescheiterte Titel verursacht haben, und fröhlich weiterzumachen. In dem endlosen Meer der Überproduktion sind ein, zwei, zehn gescheiterte Titel da nur ein paar Tropfen.
Ein interessantes Phänomen der letzten Jahre ist der Aufstieg der unabhängigen Verlage im Ausland. Die meisten der großen Literaturpreise in Großbritannien und anderen englischsprachigen Ländern wurden von Titeln dieser Verlage „abgeräumt“. Und das, obwohl sie sich keine teure Werbung, wie zum Beispiel in der U-Bahn, leisten können. In der Tschechischen Republik ist dies noch nicht der Fall, aber auch hier machen sich viele unabhängige Verlage einen Namen, und ihre Bücher stehen regelmäßig auf den Shortlists von Literaturpreisen.
Säule Soziales
Die dritte wesentliche Komponente der Nachhaltigkeit ist die soziale Dimension von Kunst und Kultur. Bücher und Texte existieren nicht im luftleeren Raum, egal wie sehr sich manche Menschen das wünschen. Daher müssen wir nicht nur berücksichtigen, was Bücher in der Gesellschaft bewirken, sondern auch, wer sie schafft und unter welchen Bedingungen. Das heißt, in welchem Arbeitsumfeld schaffen Autor*innen, Lektor*innen, Korrektor*innen, Illustrator*innen, Übersetzer*innen, Schriftsetzer*innen, Grafiker*innen, Verleger*innen und so weiter Bücher.Und gerade in diesem Bereich ist der Buchsektor in der Tschechischen Republik und anderswo auf der Welt – auch aufgrund seiner wirtschaftlichen Unhaltbarkeit – überhaupt nicht nachhaltig. Dass künstlerische Arbeit auch Arbeit ist, aber dass dies nur wenige Menschen außerhalb des Kulturbetriebs genau so sehen, das konnten wir im letzten Jahr oft genug hören beziehungsweise sehen und müssen es nicht wiederholen.
Die derzeitige Arbeitsstruktur im Kulturbereich zerstört Gesundheit, Beziehungen und den Lebensstandard der Arbeitnehmer*innen und das ist ein systemisches Problem, kein „Geschäftsrisiko“. Während in Europa die Zahl der Beschäftigten im Kulturbereich im vergangenen Jahr in 19 Ländern gestiegen ist, ist diese Zahl in acht Ländern gesunken. Die Tschechische Republik ist nicht nur eines der letzteren Länder, sondern belegt auch den vorletzten Platz. Die Menschen sind erschöpft und verlassen den Kulturbetrieb. Wenn nicht aus Erschöpfung, dann vielleicht, weil sie wissen, dass sie, wenn sie ein Kind bekommen, als Freiberufler*in ein sehr geringes Elterngeld bekommen werden. Und irgendwann eine entsprechend geringe Rente. Von allem, was angemessen wäre, können wir nur träumen. Das soziale und kulturelle Kapital schwindet, und wir werden eines Tages den Preis dafür zahlen, wenn wir es nicht schon getan haben. Wir verlieren die Stimmen, Perspektiven und Erfahrungen von Menschen, die nicht das Geld oder den Status haben, um für sich selbst zu sprechen. Sie können es sich nicht leisten, ihre Talente mit ihrer Zeit, ihrer Gesundheit und auf Kosten ihrer Familien zu finanzieren. Und wahrscheinlich wissen wir nicht einmal von ihnen.
Muss das System verändert werden?
Es reicht also nicht aus, „nur“ die Auswirkungen auf die Umwelt zu beseitigen. Es ist eine ganzheitliche Veränderung des Ansatzes erforderlich. Verlegerin Annette Beger spricht von einem gesamtgesellschaftlichen Wandel, denn alles hängt zusammen. „Nachhaltigkeit ist grundsätzlich mit Wirtschaft oder Politik verbunden. Das System, in dem wir arbeiten, ist ein Ergebnis des Systems unserer Gesellschaft. Wenn wir nachhaltiger werden wollen, müssen wir die politischen Strukturen mit einbeziehen. Wir müssen zu Lobbyist*innen werden, auch wenn uns das nicht gefällt. Wir müssen die Strategien und die Funktionsweise der Gesellschaft insgesamt überdenken, aber viele Menschen finden, dass das nicht machbar ist, dass das eine zu große Sache ist. Und genau das ist das Problem. Wir haben uns eine unhaltbare Situation geschaffen, und jetzt – nach mehreren hundert Jahren – sind wir zu faul, sie wieder zu ändern. Wir sind einfach nicht innovativ oder mutig genug.“In ganz Europa werden die Budgets von Kulturorganisationen gekürzt, und eine radikale Verbesserung ist nicht zu erwarten.
Die Auswirkungen, die durch Bildung, Lesen, Einfühlungsvermögen und Verständnis erzielt werden können, sind schwer zu messen und noch schwerer in das BIP mit einzuberechnen. Wenn wir nichts verändern, wird die Abwanderung von Menschen und Talenten aus dem Literaturbetrieb weitergehen. Um die Damen und Herren in Sakkos brauchen wir uns nicht zu sorgen, sie werden auf die Messen gehen, um andere Waren zu verkaufen. Aber es ist möglich, dass wir als Gesellschaft die Äußerungen und Perspektiven vermissen werden, die uns solche Fertigkeiten vermitteln, die sich nicht mit wirtschaftlichen Maßstäben messen lassen.
März 2024