Recycling in Kriegszeiten  Träumen von einer müllfreien Ukraine

In der Recyclingstation „Ukraine ohne Müll“
In der Recyclingstation „Ukraine ohne Müll“ Foto: © Albert Lores

Mitten im Krieg wagt die Ukraine eine ehrgeizige Reform ihres maroden Abfallwirtschaftssystems. Der Aufbau einer Infrastruktur für Mülltrennung und Recycling steht noch am Anfang. Doch der Angriffskrieg behindert den Fortschritt. Einige private und zivilgesellschaftliche Initiativen lassen sich davon jedoch nicht bremsen. Sie wollen die Ukraine müllfrei machen – und stärken gleichzeitig die Gemeinschaft.

„5-PP, HDPE, PET“, zählt Nastya auf – und nein, sie rappt keinen Song der Fantastischen Vier. Die 29-jährige Informatikerin steht in der Küche ihrer Wohnung im 14. Stock eines Kyjiwer Wohnhauses und erklärt ihr Mülltrennungssystem. Auch wenn sie von hier aus manchmal russische Raketen in ihre Richtung fliegen sieht, lässt sie sich von ihrer jahrelangen Recycling-Routine nicht abbringen. „Sonst sterben die Menschen, die nach uns kommen, an all dem Müll“, warnt sie sichtlich besorgt.

Das akribische Sortieren – goldene Schokoladenschachteln gehören nicht zu blauen Shampooflaschen, und fettiges Plastik wird zuerst in der Spülmaschine gewaschen, bevor es entsorgt wird – ist für Nastya mehr als nur Routine. Gleich kommt das Taxi, mit dem sie den sorgfältig sortierten Müll zum Recyclinghof fährt. Sie weigert sich, die normalen Mülltonnen im Hinterhof ihres Hauses zu benutzen. „Sonst landet es einfach auf einem dieser riesigen Müllberge“, erklärt sie.
 

Ein monumentales Müllproblem

Und Müllberge gibt es in der Ukraine genug. Das Land leidet seit langem unter einer dramatischen Müllkrise: Weniger als sieben Prozent des Mülls werden recycelt, der Rest landet auf über 6.000 Deponien – ein krasser Gegensatz zu Deutschland (rund 1.000), wo strenge Umweltauflagen die Zahl der Deponien in den vergangenen Jahrzehnten drastisch reduziert haben.

Doch das ist nur die Spitze des Müllbergs. Das wahre Ausmaß der Krise offenbart sich in den geschätzt Zehntausenden illegalen Müllkippen, die nicht nur das Klima belasten, sondern auch eine toxische Bedrohung für Boden, Grundwasser und Gesundheit darstellen.

Eine Reform des Abfallwirtschaftssystems, das im Sommer 2023 in Kraft trat, sollte nun endlich als Startschuss dienen, um bis 2030 die Verhältnisse an EU-Standards angleichen. Dazu hat sich die Ukraine auch im Rahmen des europäischen Green Deals verpflichtet. „Das Gesetz war ein großer Schritt“, erklärt Olha Yevstihnieieva, eine Expertin für Dekarbonisierung im ukrainischen Energieministerium. Doch bis zur vollständigen Umsetzung werde noch viel Zeit vergehen. „Der Krieg hat alles zum Stillstand gebracht.“

Ukraine ohne Müll?

Von Stillstand ist in der Recyclingstation „Ukraijina Bez Smittja“ („Ukraine ohne Müll“) am Stadtrand von Kyjiw, Ziel von Nastyas Taxifahrt, an diesem Samstagmittag hingegen nichts zu spüren. Hinter bunten Vorhängen aus recyceltem Kunststoff, die vom schweren Eingangstor der alten Industriehalle herabhängen, entfaltet sich ein Paralleluniversum des Mülls, weit entfernt von der nüchternen Ästhetik deutscher Wertstoffhöfe.

Drinnen schwirren Dutzende Familien, junge Erwachsene und Senior*innen geschäftig entlang der Backsteinwände, die von Recyclingkunst, Graffitis sowie Illustrationen des bekannten ukrainischen Illustrators Oleksandr Grekhow verziert sind – alle auf der Suche nach der passenden Tonne für ihren Müll. Am Ende der Halle, die über 50 unterschiedliche Abfallcontainer beherbergt, lädt ein hippes Recycling-Café zum Entspannen ein.
  „Kaffee, Musik, Recycling – das sind alles Dinge, die uns während des Krieges Halt geben“, sagt Dima, ein 35-jähriger NGO-Mitarbeiter, der hier gerade seinen Müll entsorgt. „Unsere Generation lebt europäische Werte, und durch Recycling können wir ein Stück Normalität bewahren und gleichzeitig etwas für die Umwelt tun.“

Der Krieg ist auch in der Station spürbar. Altes Kerzenwachs und leere Tierfutterdosen werden hier zu „Schützengrabenkerzen“ upgecycelt, die den Soldaten im Winter Licht und Wärme spenden und zum Tee- oder Kaffeekochen dienen. In einer Kiste für alte Münzen liegen auffällig viele alte Rubelmünzen. „Nein, die sind nicht wertvoll, das ist nur Müll, die sind ja aus der Sowjetunion“, erklärt ein Besucher im Vorbeigehen. An einer Wand stapeln sich gespendete Bücher: Die in ukrainischer Sprache werden an Bibliotheken, Schulen und Rehabilitationszentren für Kriegsveteranen weitergegeben, während das Papier der russischen Klassiker recycelt wird.

Verantwortung statt Wegwerf-Mentalität

Auch Maria und Timur, beide 28 Jahre alt, sind heute auf einen Cappuccino gekommen und geben ihren grob sortierten Müll ab. Für rund 150 Hrywen [etwa 3,50 Euro] pro Sack übernehmen Mitarbeiter die Feinsortierung. Ein Preis, den das Paar fair findet. „Wenn ich Lebensmittel kaufe, kaufe ich auch die Verpackung mit. Dafür muss ich die Verantwortung übernehmen“, erklärt Timur. „Es ist wichtig, dass wir verstehen, woher unser Müll kommt und wohin er geht“, stimmt Maria zu.

Es ist diese bewusste Verantwortungsübernahme auf der Verbraucherseite, die bei „Ukraine ohne Müll“ im Vordergrund steht. „Wir müssen die Bürger direkt einbeziehen, um das Recycling in der Ukraine wirklich voranzubringen“, sagt Yevheniia Aratovska, die Gründerin. Ihr Kampf gegen die Müllberge begann während ihres Mutterschaftsurlaubs vor etwa zehn Jahren, als sie feststellte, dass fast ihr gesamter Hausmüll recycelbar war, es aber keine Recyclinganlagen gab.
 
Die Müll-Vordenkerin Yevheniia Aratovska hat „Ukraine ohne Müll“ gegründet. Sie will die Ukraine müllfrei machen. Im Hintergrund ein Mosaik aus recycelten Flaschendeckeln – „Sternennacht“ von Vincent van Gogh.

Die Müll-Vordenkerin Yevheniia Aratovska hat „Ukraine ohne Müll“ gegründet. Sie will die Ukraine müllfrei machen. Im Hintergrund ein Mosaik aus recycelten Flaschendeckeln – „Sternennacht“ von Vincent van Gogh. | Foto: © Albert Lores

Die Industrie in die Pflicht nehmen

Denn neben dem Müllhaldensystem ist das Fehlen der so genannten „erweiterten Herstellerverantwortung“ (Extended Producer Responsibility – EPR) in der Ukraine ein großes Problem. Diese nimmt normalerweise die Industrie in die Pflicht, für den gesamten Lebenszyklus ihrer Produkte bis hin zur Entsorgung verantwortlich zu sein.

„Die Ukraine ist das einzige Land in Europa, das noch kein EPR-System implementiert hat“, merkt Olha Yevstihnieieva, die Expertin für Dekarbonisierung, an. „Die Hersteller produzieren hier einfach irgendwelche Verpackungen, aber abgesehen von Papier und Glas fehlen uns die Anlagen, um insbesondere gefährliche und umweltschädliche Materialien zu recyceln.“

Recycling als Bildungsauftrag

„Ukraine ohne Müll“ soll deshalb mehr sein als eine Sammelstelle, so die Recycling-Vordenkerin Aratovska: ein dynamisches Bildungszentrum, das die Besucher aktiv in den Recyclingprozess einbezieht und ihr Verhalten nachhaltig verändert. „Wir zeigen den Menschen in der Praxis, was würdevolle Abfallentsorgung wirklich bedeutet. Wer hierher kommt, fängt an, an eine müllfreie Zukunft zu glauben und beginnt selbst zu recyceln.“

Ursprünglich wollte Aratovska ein kommerzielles Recyclingunternehmen gründen. Doch schnell wurde ihr klar, dass sie mit den bestehenden Mülltransportern, die ihren Abfall einfach und billig auf Deponien abladen, nicht konkurrieren kann. „Deponieren ist hier quasi ein legales Verbrechen – billig, einfach und weit weg. Die Deponiesteuer beträgt nur 13 Eurocent pro Tonne, während sie in der Tschechischen Republik 20 Euro und in Dänemark 63 Euro beträgt. Außerdem zahlt man weniger als 6 Euro Deponiegebühr für eine Tonne Abfall, während es in Österreich und Polen rund 70 Euro sind“, kritisiert sie und befürchtet, dass die Ukraine nach einem künftigen EU-Beitritt zur Müllhalde Europas werden könnte. „Dann werden unsere Nachbarn ihren Müll einfach bei uns abladen, statt ihn ordentlich zu recyceln. Deshalb müssen wir diese Praxis unbedingt stoppen.“

Sowjetische vs. Europäische Mentalität

Trotz der Zunahme von Recycling-Initiativen in den letzten Jahren behindern laut Aratovska wirtschaftliche Zwänge sowie das Fehlen einer soliden Infrastruktur und eines gesetzlichen Rahmens weiterhin die Entwicklung eines effektiven Recyclingsystems. „Es hat immer noch etwas von sowjetischen Geschäftspraktiken: keine Verantwortung, schnelles Geld. Langfristige Investitionen? Fehlanzeige. Ich schaue nach vorne, ich will ein System aufbauen, weil ich die Architektur dahinter verstehe. Aber sie wollen diese Struktur gar nicht erst schaffen“, kritisiert sie die aus ihrer Sicht vorherrschende Mentalität in der Abfallwirtschaft.

Aratovska erinnert sich noch gut daran, wie sie 2015 versuchte, Bürgermeister und Abgeordnete von der Notwendigkeit einer Recycling-Infrastruktur zu überzeugen. „Ich musste mir immer wieder anhören, dass die Ukrainer nicht die europäische Mentalität für Recycling hätten“, erzählt sie. Doch sie ließ sich nicht beirren: „Ich wusste, dass das nicht stimmt.“ Die Ukrainer*innen bräuchten nur die richtige Infrastruktur und klare Richtlinien. „Als wir die 2018 die Recyclingstation eröffneten und schon bald regelmäßig über 500 Besucher pro Wochenendtag kamen, selbst während der Pandemie, hielten sie dann schnell die Klappe“, erzählt sie heute, und in ihrer Stimme schwingt kurz ein Hauch von Genugtuung mit.
 
Maria und Timur, beide 28 Jahre alt, sind heute auf einen Cappuccino gekommen und geben ihren grob sortierten Müll ab. „Wenn ich Lebensmittel kaufe, kaufe ich auch die Verpackung mit. Dafür muss ich die Verantwortung übernehmen“, erklärt Timur. „Es ist wichtig, dass wir verstehen, woher unser Müll kommt und wohin er geht“, stimmt Maria zu.

Maria und Timur, beide 28 Jahre alt, sind heute auf einen Cappuccino gekommen und geben ihren grob sortierten Müll ab. „Wenn ich Lebensmittel kaufe, kaufe ich auch die Verpackung mit. Dafür muss ich die Verantwortung übernehmen“, erklärt Timur. „Es ist wichtig, dass wir verstehen, woher unser Müll kommt und wohin er geht“, stimmt Maria zu. | Foto: © Albert Lores

Noch immer zu wenige

Trotz der aufkeimenden Recyclingbewegung in Kyjiw in den letzten Jahren glauben Maria und Timur, dass die ukrainische Gesellschaft noch einen weiten Weg vor sich hat. „Es recyceln noch viel zu wenige, aber das Potenzial für Veränderungen ist riesig“, sagt Timur. Die meisten seiner Altersgenossen machen mit, aber bei vielen Älteren ist das Bewusstsein noch nicht so weit entwickelt. 

„Vielleicht sollte ich mal das Gespräch mit meinen Eltern suchen“, überlegt Maria. Timurs Eltern haben auf seine Anregung hin versucht mitzumachen, scheiterten aber an alltäglichen Hürden: „Sie wohnen weit weg von der Recyclingstation, und in ihrer Nachbarschaft landet alles ungeordnet auf dem Müllwagen. Wenn es eine Station in der Nähe gäbe, würden sie hingehen, aber so ist es zu umständlich.“

Um das Recycling auch für neue Verbraucher*innengruppen zu vereinfachen, testet „Ukraine ohne Müll“ laufend innovative Lösungen: Kürzlich wurde als Pilotprojekt in einem Wohnviertel in Kyjiw eine Sortierkapsel installiert. Diese kann per Handy geöffnet werden, wenn man für 250 Hrywen [5,85 Euro] im Monat Clubmitglied wird. Außerdem kann man gereinigten Plastikmüll über den privaten Paket- und Kurierdienst Nowa Poshta direkt zur Recyclingstation schicken.

In Kyjiw selbst fördern viele kleine Nachbarschaftsinitiativen das Recycling, indem sie alternative Abfallbehälter in den Innenhöfen aufstellen. Auch in neuen Wohngebieten und auf den Parkplätzen einiger Supermärkte gibt es immer mehr Container für mehr als nur Restmüll, um das Recycling zu erleichtern. Zumindest in der Hauptstadt sind solche Stellen keine absolute Seltenheit mehr, sondern bereits sichtbare Veränderungen.
 

Nicht Jahre, sondern Jahrzehnte

„Man darf nicht vergessen, dass die Reform der Abfallwirtschaft in der EU sowohl auf der Erzeuger- als auch auf der Verbraucherseite schon seit drei Jahrzehnten im Gange ist, während sie in der Ukraine noch ganz am Anfang steht“, sagt Expertin Yevstihnieieva. „Auch in der EU wurden die Deponien nicht von heute auf morgen reduziert, sondern der Prozess läuft bereits seit den 1990er Jahren.“

Die neue Reform, die wegen des russischen Angriffskrieges ins Stocken geraten ist, ist ambitioniert. So sollen bis 2030 unter anderem moderne Recycling- und Sortieranlagen nach strengen EU-Standards entstehen. Konkret bedeutet dies, dass zunächst vor allem die bestehenden Deponien modernisiert werden müssen, um die Umweltbelastung durch die verschiedenen Haushaltsabfälle zu reduzieren. An eine vollständige Schließung der Deponien, wie sie von einigen Abfallwirtschaftsverbänden und Umwelt-NGOs schon lange für die EU gefordert wird, ist in der Ukraine wohl erst in Jahrzehnten zu denken.

„Es ist noch ein langer Weg“

Inzwischen hat auch Nastya ihren Müll in der Station entsorgt und fährt wieder mit dem Taxi nach Hause. Sie ist sich der Absurdität bewusst, dass sie ihren Müll mit dem Auto zur Station fährt und auch viel Wasser für die Reinigung des Mülls verbraucht. Deshalb versucht sie seit einiger Zeit, ihren Plastikverbrauch so weit wie möglich zu reduzieren und nimmt immer eine Thermoskanne und eine Tupperdose mit, wenn sie ins Café oder Restaurant geht. „Die Kellner finden das oft sehr lustig“, erzählt sie.

Nastya gibt aber auch zu, dass sie trotz ihres jahrelangen Engagements kürzlich aufgrund einer persönlichen Krise Abstriche beim Recycling machen musste. „Manchmal fehlte mir einfach die mentale Kapazität, um alles so zu sortieren, wie ich es gewohnt bin. Es war eine Erleichterung, nicht ständig darüber nachdenken zu müssen.“ Inzwischen ist sie jedoch wieder voll dabei und recycelt vor allem ihre Kunststoffe akribisch – auch wenn ein Teil davon derzeit nur verbrannt wird, weil wegen des Krieges nicht mehr alles recycelt werden kann.

Wie lange wird es noch dauern, bis die Ukraine trotz Angriffskrieg, Reformstau und veralteter, ineffizienter Abfallwirtschaft müllfrei wird? „Das hängt davon ab, wann der Krieg aufhört. Der hat natürlich noch drängendere Probleme in den Vordergrund gerückt“, sagt Dima.

„Der Weg zu einer müllfreien Ukraine ist noch lang“, sagt Yevheniia Aratovska, Gründerin von „Ukraine ohne Müll“. „Wir brauchen viel mehr Aufklärung und Bewusstseinsbildung. Ich werde es nicht mehr erleben und bin nur ein kleiner Baustein für die nächsten Generationen.“

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