Die Energiekrise in der Ukraine  Ohne Licht: Wie ukrainische Städte überleben

Blick von Westen auf das Kernkraftwerk Saporischschja (Aufnahme aus dem Jahr 2009)
Blick von Westen auf das Kernkraftwerk Saporischschja (Aufnahme aus dem Jahr 2009) Foto: Ralf1969 | CC BY-SA 3.0 via wikimedia

Der ukrainische Energieeffizienz-Experte Swiatoslaw Pawliuk spricht mit JÁDU über die Herausforderungen für Städte angesichts der Angriffe auf Kraftwerke, die Unterschiede zwischen der Dekarbonisierung in der Ukraine und in der EU und die Notwendigkeit dezentraler Stromerzeugung während des Krieges.

Wie sah der ukrainische Energiesektor vor dem 24. Februar 2022 aus und was geschah mit ihm in Folge der russischen Bombardements?

Früher hatten wir Überkapazitäten und haben sogar Strom exportiert. Nach dem Beginn des großen Krieges am 24. Februar 2022 haben die Russen etwa 40 Prozent des ukrainischen Energiesektors zerstört: 80 Prozent aller Windkraftanlagen, 20 Prozent der Solarkraftwerke. Wir haben auch 6 Gigawatt (GW) mit dem Atomkraftwerk Saporischschja (in der besetzten Stadt Enerhodar) verloren. Nach all den Bombenangriffen haben wir 80 Prozent der Wärmekraftwerke und die Hälfte der Wasserkraftwerke verloren. Von den 28 GW, die wir vor dem Krieg hatten, sind im Hochsommer 2024 also nur noch rund 10 GW in Betrieb. Dazu kommen natürlich die Importe aus der EU und Moldau. Sie liegen im Bereich von 1,7 GW, und es ist die Rede von einer Erhöhung dieser Leistung, aber das ist immer noch nicht genug wegen der hohen Verluste. Deshalb haben wir eine Stromknappheit.

Aber der Verbrauch ist auch zurückgegangen?

Ja, der Verbrauch der Industrie, der Städte und der ukrainischen Bevölkerung ist zurückgegangen, aber wir brauchen im Winter immer noch etwa 18 GW Strom. Wenn es uns gelingt, die zerstörten Wärmekraftwerksblöcke wieder instand zu setzen, haben wir zusammen mit den Importen 14 bis 15 GW. Das bedeutet ein Winterdefizit von 4 bis 4,5 GW. Wenn die Russen auch noch die Leistungstransformatoren eines Atomkraftwerks angreifen, die heute das Rückgrat der ukrainischen Energiewirtschaft bilden, wird die Situation sehr dramatisch.
 

Wie haben sich die Angriffe auf den Energiesektor entwickelt?

Im Jahr 2022 gab es Bombenangriffe auf die Verteilernetze, im Jahr 2024 begannen sie, die Kraftwerke und die Stromerzeugung zu treffen. Hatten wir 2022 noch genügend Reservekapazitäten für Notfälle, aber ein Problem bei der Übertragung, so haben wir jetzt einen Engpass bei der Stromerzeugung. Die Art der Defizite in den Jahren 2022 und 2024 ist unterschiedlich. Mit Hilfe internationaler Partner haben wir das Übertragungssystem wiederhergestellt, aber jetzt stehen wir vor dem Problem der Stromerzeugung.
 
Das Kraftwerk Smijiw (hier ein Foto aus dem Jahr 2007) ist ein Kohlekraftwerk in Sloboschanske, Oblast Charkiw, Ukraine. Das Kraftwerk ist nach Luftangriffen der russischen Arme im März 2024 nicht mehr betriebstauglich.

Das Kraftwerk Smijiw ist ein Kohlekraftwerk in Sloboschanske, Oblast Charkiw, Ukraine. Das Kraftwerk ist nach Luftangriffen der russischen Arme im März 2024 nicht mehr betriebstauglich. | Foto: Maksim Sidorov | CC BY 3.0 via wikimedia

 

Wie können die Städte dieses Problem lösen?

Es gibt keine einfachen Lösungen für die Ukraine. Wir befinden uns in einem Breitengrad, in dem sich die Situation im Winter und im Sommer dramatisch ändert. Wir müssen nicht nur Tag und Nacht ausgleichen, sondern auch Sommer und Winter. In unserem Land können Solarkraftwerke im Sommer viel Strom erzeugen, aber im Winter, wenn es bewölkt ist und schneit, sinkt ihr Wirkungsgrad erheblich. Deshalb brauchen wir eine wetterunabhängige Stromerzeugung, zum Beispiel durch Kernkraftwerke, Gas-, Biogas- und Biomassekraftwerke. Die Städte suchen nun nach Lösungen für eine wetterunabhängige Stromerzeugung, zumindest für kritische Infrastrukturen.
 

Was sind diese Infrastrukturen?

Es handelt sich um thermische Kesselhäuser, die sowohl Wärme als auch Strom zur Verfügung stellen. Wir sprechen hier von Pumpen in Kesselhäusern. Die Städte konzentrieren sich auf die Bereitstellung von Notstromaggregaten oder gasbetriebenen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen (KWK), um die Kesselpumpen am Laufen zu halten.

Ein weiteres Thema ist Wasser. Es ist für das Funktionieren der Städte und der kommunalen Heizungs- und Abwassersysteme von entscheidender Bedeutung. Auch hier werden KWK-Anlagen für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung eingesetzt. Die ukrainischen Städte versuchen, autonome Lösungen zu finden. Einige errichten Windparks oder Solarkraftwerke auf Krankenhäusern, Wasserwerken und städtischen Gebäuden. Auf diese Weise werden die Wasserwerke, die sehr große Stromverbraucher sind, unabhängig vom Stromnetz. Durch den Umstieg der Wasserversorger auf eigene Anlagen wird die Kapazität des allgemeinen Netzes entlastet und für andere Verbraucher frei. Deshalb ist es richtig, die Netzbelastung durch die Wasserversorger zu reduzieren.

Einige Städte sind gut vorbereitet. Nowowolynsk zum Beispiel hat seine Heizkessel auf Biomasse umgestellt, um einen Teil der Wärme für die Einwohner zu liefern, wenn kein Gas zur Verfügung steht. Kowel hat ein separates städtisches Stromnetz für Versorgungsunternehmen aufgebaut und Generatoren installiert. Wenn es in der Stadt keinen Strom gibt, werden die Generatoren eingeschaltet, und es ist auch möglich, die Häuser mit Wärme zu versorgen. Chmelnyzkyj verfügt seit einigen Jahren über eigene Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen, und wenn Gas billig ist, können die Stromkosten mit denen des Netzes konkurrieren.

Was hindert Wasserversorgungsunternehmen daran, auf eigene Anlagen umzusteigen?

Das Problem sind die Tarife. In kleinen Städten wird der Wassertarif von den Städten selbst festgelegt, in großen Städten von der nationalen Regulierungsbehörde. Das Problem ist, dass die Regulierungsbehörde den Wassertarif seit drei Jahren nicht erhöht hat, obwohl die Löhne, die Stromkosten und die Inflation gestiegen sind. Daher klafft in den großen Städten der Ukraine eine große Lücke zwischen den Einnahmen und den Möglichkeiten, die Gehälter zu zahlen, die Wasserversorgung instand zu halten, die Systeme zu modernisieren und sich auf die nächste Saison vorzubereiten. Unter anderem müssen Generatoren und Diesel gekauft werden. Die Anlagen müssen nicht nur gekauft, sondern auch angeschlossen werden. Und das alles ist in den Tarifen nicht enthalten. Dadurch haben wir eine riesige Finanzierungslücke bei den Wasserversorgern, weil der Verkauf des Wassers nicht kostendeckend ist. Das heißt, die Wasserversorger müssen Zuschüsse aus den kommunalen Haushalten beantragen. Und die haben auch kein Geld, weil ihnen ein Teil der Kommunalsteuern weggenommen wurde. Das ist eine Sackgasse.

Wenn internationale Organisationen einer ukrainischen Stadt eine Anlage spenden, haben die Städte oft nicht die Mittel, diese zu installieren. Die Kosten für die Installation eines gasbetriebenen Blockheizkraftwerks belaufen sich auf 20 bis 80 Prozent der Kosten für die Anlage selbst. Es handelt sich um einen sehr arbeitsintensiven Prozess, und der ordnungsgemäße Anschluss neuer Anlagen erfordert manchmal zusätzliche Ausrüstung. All das kostet viel Geld, das die Städte nicht haben. Es gibt Fälle, da braucht eine Stadt 20 Blockheizkraftwerke, nimmt aber nur drei, weil sie kein Geld hat, um mehr zu installieren. Jeder weiß, dass es im Winter Probleme geben wird, aber für mehr ist kein Geld da.

Auf der Suche nach Energiequellen verwenden die Ukrainer in ihren Häusern die unterschiedlichsten Vorrichtungen. In Odesa zum Beispiel explodierte kürzlich eine Akku-Batterie in einer Wohnung. Wie geht man damit um?

Offensichtlich suchen die Menschen nach unabhängigen und billigen Lösungen. Es gibt eine Geschichte über Autobatterien, so genannte Lithium-IMSN-Batterien, die auf dem europäischen und ukrainischen Markt auftauchen. Diese Produktionstechnologie wurde in Hyundai-Autos verwendet, die jedoch Mängel aufwiesen. Hyundai rief 40.000 Fahrzeuge zurück, tauschte alle Batterien aus, zahlte dafür rund 2 Milliarden Dollar und sollte die Batterien in einer Anlage in Polen entsorgen. Aus irgendeinem Grund wurden sie nicht entsorgt und nun wird versucht, andere Geräte daraus herzustellen. Es handelt sich um neue Batterien, die jedoch ab Werk defekt sind. Sie können in der Ukraine sehr leicht über Online-Plattformen gekauft werden. Sie sind dreimal billiger als prismatische Eisenphosphat-Lithiumbatterien, die viel sicherer sind. Deshalb werden sie in selbstgebauten Energiespeichersystemen für Wohnungen verwendet. Und sie können oft explodieren. Deshalb empfehle ich allen, zertifizierte und fabrikgefertigte Technik zu verwenden. Außerdem ist es ratsam, Batterien in getrennten Räumen unterzubringen.

Gibt es in den Städten ein Wasserproblem in den oberen Stockwerken? Wie wird es gelöst?

Das ist eine Frage der Wasserversorgung, vor allem in Städten, die nicht im Flachland liegen. Wenn es keine Reliefunterschiede gibt, wird das Netz mit einem einheitlichen Druck für die gesamte Stadt versorgt, und wenn es Hochhäuser gibt, werden die Pumpen so umgebaut, dass sie den Druck erhöhen und die oberen Stockwerke mit Wasser versorgen. Bei einem Stromausfall ist dies jedoch problematisch.

Es kann sein, dass Häuser auf einem Berg stehen. Und alle 10 Meter Höhe entsteht ein zusätzlicher Druck von einer Atmosphäre. Wenn es Höhenunterschiede gibt, und davon gibt es in Kyjiw viele, steigen die Kosten für das Pumpen von Wasser und Abwasser. Übrigens gibt es Städte in den Tälern, die bei der Wasserversorgung sparen, aber enorme Kosten für die Abwasserentsorgung haben. Das ist in jeder Stadt anders, aber man muss sich auch um die Abwasserpumpen kümmern.

Wenn eine Pumpe im Haus vorhanden ist, muss sichergestellt werden, dass sie funktioniert. Es sollte ein Generator vorhanden sein, der die Wärme aus dem städtischen Netz aufnimmt und im Haus verteilt. Er wird es auch ermöglichen, dass die oberen Stockwerke mit Wasser versorgt werden können.

In der EU gibt es das so genannte Vierte Energiepaket, aber wie soll sich die Ukraine jetzt in diese Richtung bewegen?

Die Zerstörung unseres Energiesektors fiel mit einem wichtigen Prozess der Energiewende in der EU und weltweit zusammen. Die EU hat sich im Rahmen des European Green Deal ein Ziel gesetzt: den Übergang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft bis 2050. Die EU-Länder bereiten sich darauf vor: Sie planen kommunale Energieprogramme, berechnen, wie viel erneuerbare Energie sie produzieren können, kalkulieren Kreditprogramme, stellen Anlagen her und planen Förderungen für private Verbraucher. In der EU wird der Übergang zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft mit Blick auf Umwelt- und Klimaziele vollzogen, während unsere Ziele andere sind – es geht um die Herausforderung der Sicherheit. Wir tun dies nicht so sehr aus Sorge um das Klima, sondern aus Sorge um das Überleben der Menschen. Die Situation ist ähnlich, aber die Möglichkeiten und Bedürfnisse sind unterschiedlich. In der Ukraine gibt es keine billigen Kredite, keine Produktion von technischer Ausrüstung, keine Beratungsagenturen, die helfen könnten. Die Menschen müssen also alles selbst machen. Unsere Verteilungsnetze sind zerstört, und auch das ist eine Herausforderung – die technischen Kapazitäten für den Inselbetrieb aufzubauen. Die Synchronisierung von Kleinanlagen mit dem Netz ist ein großes Problem der Energiewende und der Bildung von Prosumern (Kombination von Energieerzeuger und -verbraucher).

Was tut sich da im Vergleich zu Deutschland?

Es gibt einen großen Boom bei den Balkonanlagen. Wir sind jetzt in einer Phase, in der das Handy das Festnetztelefon abgelöst hat. Und das hat das Bild des Telekommunikationskonsums völlig verändert. Man braucht kein Kabel mehr. Das Gleiche gilt für die Elektrizität. Neue Technologien werden immer billiger, so dass Solarkraftwerke, Windparks und Batterien wettbewerbsfähig werden.

Wir erleben einen Wandel in der Energieerzeugung und den Speichertechnologien. In der EU ist dieser Wandel geplant und schmerzlos, während er in der Ukraine unter dem Schock der Zerstörung des alten Energiesektors durch die Russen stattfindet. Aber auch die Ukraine bewegt sich in diese Richtung. Aufgrund von Versorgungsunterbrechungen besteht die Notwendigkeit, Strom in den Haushalten zu speichern. Akkumulatoren werden zu einem neuen Bestandteil der ukrainischen Haushaltsausstattung, ähnlich wie Waschmaschinen oder Kühlschränke. Dies ist ein grundlegender und unumkehrbarer Wandel, der den Energiesektor verändern wird.

Was ist Ihre Prognose für den Winter 2024/2025 in der Ukraine?

Ich denke, wir sollten uns immer das schlimmste Szenario vor Augen halten. Im besten Fall werden wir ein Defizit von 4 GW haben, das sind etwa 25 Prozent dessen, was wir im Winter brauchen. Wenn die Russen die Leistungstransformatoren eines Atomkraftwerks angreifen, wird das Defizit größer. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Für die gibt es keine moralischen Grenzen. Im schlimmsten Fall könnte es einen Monat lang keinen Strom geben. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Das gilt für diesen Winter.

Und im nächsten Winter 2025/2026?

Die Schäden sind so groß, dass wir bis zur nächsten Heizperiode nichts mehr wiederherstellen können. Die meisten der beschädigten Anlagen sind Wärmekraftwerke. Keine europäische Bank wird Geld für den Wiederaufbau von Kohlekraftwerken leihen. Das kostet viel Geld, Material und Zeit. All das werden wir so schnell nicht haben. Deshalb entwickelt sich der Markt für Kraft-Wärme-Kopplung. Aber diese dezentrale Erzeugung ist in normalen Ländern ein Backup, keine Grundversorgung. Wir können erst nach dem Krieg eine normale, vollwertige Planung vornehmen. Jetzt müssen wir erst einmal das Überleben der Städte sichern. Und hier kann die Zusammenarbeit mit europäischen Partnerstädten, die über die notwendige technische und organisatorische Erfahrung verfügen und bei der Installation von Gaskolbenanlagen helfen können, für unsere Städte wichtig und notwendig sein. Das wäre eine große Hilfe.
Swiatoslaw Pawliuk

Swiatoslaw Pawliuk | Foto: © privat

Swiatoslaw Pawliuk, Experte für Energieeffizienz

(*1970 in Lwiw) studierte an der Polytechnischen Universität Lwiw und spezialisierte sich auf Systemtechnik, Programmierung und Netzwerke. Außerdem hat er ein Diplom der Fakultät für Internationale Beziehungen der Staatlichen Universität Lwiw. Pawliuk begann seine berufliche Laufbahn als Ingenieur für künstliche Nierensysteme im Lwiwer Regionalen Infektionskrankenhaus und absolvierte Praktika in Polen und Großbritannien. Er arbeitete mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, dem Justizministerium und dem Regierungsbüro für europäische Integration zusammen. Zudem beteiligte er sich an der Ausarbeitung einer Reihe von Ergänzungen zum Gesetz über Energieeffizienz. Swiatoslaw Pawliuk überzeugte mehr als 100 ukrainische Städte, den Konvent der Bürgermeister zu unterzeichnen – eine europäische Initiative zur Senkung des Energieverbrauchs in Städten.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

 

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