Künstlerischer Aktivismus  Gestickte Chronik des Widerstands in Belarus

Vyšívaná kronika odporu v Bělorusku © Rufina Bazlova | Foto: Ester Dobiášová

Als 2020 der Widerstand gegen das Regime von Alexander Lukaschenko in Belarus erwachte, ausgelöst durch eine umstrittene Präsidentschaftswahl, die weithin als gefälscht angesehen wurde, beschloss die Künstlerin Rufina Bazlova, diesen historischen Moment und viele darauffolgende durch die Sprache des Ornaments zu visualisieren. Sie verwendet Stickereien, um die Geschichten von politischen Gefangenen, Sportler*innen und Menschen, die während der Proteste getötet wurden, zu erzählen. Sie schafft kollektive Erinnerungen und verbindet die Solidarität in Belarus mit der internationalen Szene.

Warum hast du im Jahr 2020 die Stickerei als Medium gewählt, um den belarusischen Widerstand gegen das diktatorische Regime von Alexander Lukaschenko darzustellen und die Geschichten einzelner inhaftierter Männer und Frauen zu schildern?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein wenig weiter zurückgehen. Mit der Stickerei habe ich mich erst ab 2020 beschäftigt, zehn Jahre zuvor hatte ich bereits begonnen, mich für weißrussische, generell slawische Schriftzeichen und Ornamente zu interessieren. Ich hatte verschiedene Publikationen gelesen, in denen zum Beispiel stand, dass Ornamente eine verschlüsselte Bedeutung haben. Nicht nur die einzelnen Symbole, sondern auch die Stickerei selbst, ein Kleidungsstück oder ein Handtuch enthielten Informationen über die Region, aus der sie stammten, den Anlass, zu dem sie verwendet wurden, und so weiter.

Die Tatsache, dass ein Ornament ein Code ist, ein Text, der gelesen werden kann, hat mich zu meiner eigenen Arbeit inspiriert. Ich dachte, es wäre toll, mit Ornamenten Geschichten zu erzählen. Im Jahr 2012 habe ich dann das Projekt Ženokol ins Leben gerufen. Ich habe eine Art Comic auf ein Kleid gestickt, das eine Geschichte über den Zyklus des Lebens von Frauen erzählt. Das erste und das letzte Bild sind identisch, so dass sich die Geschichte immer wieder wiederholt, wie die Geburt einer Frau. Zunächst arbeitete ich mit den ursprünglichen Zeichen, aber ich stellte fest, dass nicht jeder sie verstand, weil das Ornament eine besondere Sprache ist. Ich musste es also anpassen und für einen zeitgenössischen Betrachter verständlich machen, aber gleichzeitig wollte ich die belarusische oder slawische Ästhetik, die Folklore, bewahren. Das war wichtig.

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Rufina Bazlova mit Kleidern aus dem Zyklus Ženokol, 2012. © Veronika Konturova

Du hast dich also für die Ornamentik interessiert und dann nach einem Thema gesucht, das dazu passen würde?

Ja, das Erste, was ich hatte, war das Instrument, also das Ornament und die Art und Weise, wie man damit eine Geschichte erzählen kann. Als ich beobachtete, was in Belarus rund um die Wahlen 2020 geschah, schien mir das die perfekte Kombination aus Form und Inhalt zu sein. Außerdem hatte ich gerade mein Studium abgeschlossen, ich hatte das Theater abgeschlossen und ich fühlte mich frei. Ich hatte die Energie, etwas ganz eigenständig auf die Beine zu stellen.

Hast du auch darüber nachgedacht, welche Wirkung deine Stickereien haben könnten?

Ich wollte vor allem die Geschichte des heutigen Belarus durch belarusische Ornamente erzählen. Es ist meine Version des Ornaments, aber es ist immer noch belarusisch.

Geteilte Solidarität

Der Zyklus „The History of Belarusian Vyzhyvanka“ [Der Begriff Vyzhyvanka basiert auf einem Wortspiel zwischen den in vielen slawischen Sprachen ähnlich lautenden Wörtern für sticken und überleben, Anm. d. Übers.] umfasst auch Serien von Stickereien wie #FramedinBelarus. Kannst du mir mehr darüber erzählen?

The History of Belarusain Vyzhyvanka umfasst, wie du zu Beginn gesagt hast, die Proteste von August 2020 bis 2021 sowie weitere Unterserien. Wie die Sportler*innen und Menschen, die während der Proteste getötet wurden, oder die Saga of Protests, eine sieben Meter lange Stickerei, und so weiter.

Das Projekt #FramedinBelarus steht eher für sich allein und ist komplizierter und umfangreicher als die anderen Serien. Im Rahmen dieses Projekts sticken Menschen die Geschichten von politischen Gefangenen. Ich biete Muster zum Sticken an, und die Leute sticken sie und schicken die fertigen Stücke zurück. Das ist ein Zeichen der Solidarität und eine Möglichkeit, auf die Situation in Belarus aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit den Menschen schreiben wir moderne Geschichte.

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Es gibt ein gemeinsames Bild aller Sportlerinnen und Sportler, die sich in Belarus zusammengefunden haben, um für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sie schrieben einen offenen Brief an den Freien Verband der Athleten von Belarus (SOS-BY) und halfen unterdrückten Sportler*innen, weiter zu trainieren. Viele von ihnen verkauften ihre wertvollsten Auszeichnungen auf Auktionen und spendeten das Geld an den Fonds. Die Stickerei stammt aus der Serie „Sport“ von 2020.

Bezieht sich der Titel auf die Inhaftierung?

Framed in Belarus hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits bezieht sich „framed“ auf ein Gemälde in einem Rahmen, weil es sich um ein Kunstprojekt handelt, aber „framed“ bedeutet im Englischen auch, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen, was auf das Schicksal der Gefangenen verweist. Ich habe die englische Sprache gewählt, weil dies ein internationales Projekt werden soll.

Ist es auch für jemanden aus Belarus sicher, an dem Projekt teilzunehmen?

Derzeit nimmt niemand aus Belarus teil. Früher gab es das schon, aber aus Sicherheitsgründen empfehlen wir das nicht mehr.

Woher bekommst du eigentlich deine Informationen oder Geschichten, zum Beispiel über die Inhaftierten oder was bei den Protesten passiert?

Informationen über die Inhaftierten beziehe ich aus offenen Quellen von Menschenrechtsorganisationen, die die Situation in Belarus erfassen. Sie haben Verzeichnisse, in denen sie die Geschichten der Gefangenen veröffentlichen, sofern sie davon erfahren. Leider veröffentlichen die Gerichte mittlerweile nicht einmal mehr die Informationen, die früher obligatorisch waren. Für Menschenrechtsaktivist*innen ist es jetzt viel schwieriger, Informationen zu erhalten; manchmal kennen sie nicht einmal die Namen der Gefangenen.

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Die Geschichte des Gefangenen Aliaksandr Piatrashka, der wegen der Veröffentlichung von Kommentaren im Internet verhaftet und zu 18 Monaten Haft in einer Strafkolonie mittlerer Sicherheitsstufe verurteilt wurde. Gestickt von @An Kzlka für #FramedinBelarus, 2022.

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Die Geschichte des Gefangenen Raman Ahnishchanka, der ebenfalls wegen des Schreibens von Kommentaren inhaftiert wurde. @Unbekannter Autor für #FramedinBelarus

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Stickerei-Workshop für das Projekt #FramedinBelarus in der Galerie Arsenal in Białystok, Polen. @Maciej Zaniewski

Die Verzeichnisse sind also nicht vollständig?

Nein, nach den vorliegenden Berichten gibt es etwa viertausend politische Gefangene, aber diejenigen, die freigelassen wurden, sagen, die tatsächliche Zahl sei viel höher. Viele Menschen, die aus politischen Gründen verhaftet wurden, stehen nicht auf den Listen.

Hast du Angst vor Verunglimpfungen oder Angriffen aufgrund deiner Arbeit?

Nicht direkt, aber ich denke ständig darüber nach, was ich veröffentlichen kann. Auf unserer Website müssen wir zum Beispiel sorgfältig abwägen, welche Namen wir veröffentlichen, um die Menschen in Belarus nicht zu gefährden. Manchmal signieren die Leute ihre Stickereien mit ihren Namen, aber wenn wir Fotos von diesen Arbeiten veröffentlichen, könnte das gefährlich sein.

Wie bewertest du, was noch sicher ist und was nicht mehr?

Ich beobachte, was vor sich geht, und lese die Nachrichten. Früher wurden zum Beispiel Menschen, die politischen Gefangenen halfen, nicht verhaftet. Jetzt werden sie verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie beispielsweise Geld oder Briefe geschickt haben. Wenn ich das sehe, wird mir klar, dass wir noch vorsichtiger sein müssen. Ich berate mich auch mit Menschenrechtsorganisationen und Anwält*innen. Ich hoffe, dass ich es bislang gut hinbekommen habe. Die Leute, die sticken, wissen, worauf sie sich einlassen und können mit einem Pseudonym unterschreiben. Es ist nicht immer klar, ob der Name, den sie verwenden, ihr richtiger ist.

Die Rolle der Kunst

Welche Art der öffentlichen Unterstützung, sei es durch Proteste auf der Straße, Kunst, Briefeschreiben, Appelle an Politiker*innen, trägt deiner Meinung nach dazu bei, die Aufmerksamkeit auf Menschen im Gefängnis zu lenken, aber vor allem zu ihrer Freilassung zu führen?

Was die Freilassungen betrifft bin ich mir nicht ganz sicher. Aber was wirklich funktioniert, und das höre ich oft von Kolleg*innen, sind größere öffentliche Kampagnen. Wenn nur ein paar Leute, zum Beispiel Angehörige, über einen politischen Gefangenen oder eine Gefangene sprechen, bekommt das nicht genug Öffentlichkeit. Wenn zum Beispiel jemand aus der Familie in die Medien geht und darüber spricht, kann das den Gefangenen noch mehr schaden. Der Versuch, zu helfen, kann die Situation sogar noch verschlimmern. Aber wenn sich hundert oder tausend weitere Personen der Mutter anschließen, zeigt das seine Wirkung. Die Leute werden laut, und das Regime merkt, dass es auf dem Prüfstand steht. An diesem Punkt können sie aufhören, den Gefangenen das anzutun. Das funktioniert zwar nicht immer, aber oft genug. Natürlich hilft auch die Aufmerksamkeit ausländischer Politiker*innen.

Wie erfahrt ihr, dass es funktioniert hat?

Manchmal gar nicht. In Belarus gibt es viele Gefangene, die sich in Isolationshaft befinden, wie Maryia Kalesnikava, Viktar Babaryka oder Siarhei Tsikhanouski und andere, über die wir seit fast zwei Jahren keine Informationen mehr haben. Wir wissen nicht einmal, ob sie noch am Leben sind. Die wenigen Berichte, die uns vorliegen, stammen in der Regel von Personen, die mit ihnen im selben Gefängnis saßen.

Was bedeutet „incommunicado“?

Es bedeutet, dass Gefangene keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Sie erhalten dann keine Briefe, sie können weder mit ihrer Familie noch mit ihren Anwält*innen kommunizieren. Sogar Menschen, die sich im selben Gefängnis befinden, werden für jeden Kontaktversuch bestraft, selbst wenn es nur ein Blickkontakt ist. Die Gefangenen befinden sich in völliger Isolation.

Das klingt beängstigend. Um auf deine Arbeit zurückzukommen: Wissen die Gefangenen, dass Menschen ihre Geschichten sticken?

Einige wissen davon, wie Viktar Babaryka. Als die Kommunikation noch besser funktionierte, schrieben einige Teilnehmer*innen Briefe an Gefangene. Jemand hat ihnen erzählt, was wir machen. Eine Teilnehmerin schrieb zum Beispiel einen Brief an ihre inhaftierte Kollegin und fragte, wie man sie porträtieren könne. Sie schrieb zurück, dass sie sogar im Gefängnis „protestierte“ – sie trug einen roten Schlafanzug und lag auf einem weißen Bett als Symbol des Protests, in Anlehnung an die weiß-rote Flagge von Belarus. Leider lässt sich dies nicht mit einer Stickerei darstellen.

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„Sviatlana is my president“ von Rufina Bazlova aus der Serie „The History of Belarusian Vyzhyvanka“, 2021

Hast du eine Rückmeldung darüber, wie sie reagiert haben, als sie erfuhren, dass du ihre Geschichten festhältst?

In der Regel sind sie gerührt und dankbar dafür. Denn man versucht ihnen dort einzureden, dass niemand an sie denkt und es niemanden interessiert, was mit ihnen passiert. Das ist hart. Und sie bekommen nicht oft Briefe, selbst wenn man ihnen schreibt. Deshalb ist es für sie wichtig, dass die Menschen sie unterstützen. Meistens erfahren sie das aber erst, wenn sie aus dem Gefängnis kommen.

Wie reagiert die Mehrheitsgesellschaft in Belarus auf die historischen Stickereien?

Tja, in Belarus war nicht viel darüber bekannt. Menschen, die in andere Länder ausgewandert sind, kannten sie schon, aber in Belarus erfuhren sie von meinen Stickereien erst durch [den ukrainischen Präsidenten] Selenskyj, der ein Hemd mit einem meiner Ornamente trug.

Es muss ein gutes Gefühl gewesen sein, dass Selenskyj ein Hemd mit deiner Stickerei in der Öffentlichkeit trug?

Es war eine ziemliche Ehre. Gleichzeitig war es eine Zeit, in der die Ukrainer*innen, die nichts von den belarusischen Protesten und der Repression wussten, nicht verstanden, warum die Belarus*innen nicht protestierten, als die Ukraine von ihrem Land aus bombardiert wurde, und sie waren ihnen gegenüber oft aggressiv. Die Situation war angespannt, aber ich sah es als ein symbolisches Zeichen des Vertrauens gegenüber den Belarus*innen, wenn der ukrainische Präsident etwas trägt, das von einer belarusischen Künstlerin hergestellt wurde.

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Wolodymyr Selenskyj in einem von Rufina Bazlova entworfenen Hemd. © Foto Associated Press[PH1] 

Dank der Stickerei konnten sie auch mehr über die Lage in Belarus erfahren.

Vielleicht, aber ich bin nicht sicher, ob das so geplant war. Es ist schwer zu sagen, was die Leute in diesem Moment gedacht haben. Selenskyj trug sie im Zusammenhang mit einem Wohltätigkeitsprojekt, bei dem ein Teil des Geldes zur Unterstützung der Ukraine verwendet wurde. Das erste Mal trug er sie während der Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit der Ukraine am 24. August 2022 und das zweite Mal bei seiner Weihnachtsansprache für die Ukrainer*innen am 6. Januar 2023.

Das Wohltätigkeitsprojekt war deine Idee?

Ich wurde von der Marke Indposhiv angesprochen. Es ist immer noch möglich, die Aktion zu unterstützen und ein Shirt zu bestellen.

Vermittlerin zwischen zwei Welten

Du bist vor mehr als vierzehn Jahren zum Studium in die Tschechische Republik gegangen und lebst seitdem hier. Wegen deiner künstlerischen Arbeit kannst du nicht nach Belarus zurückkehren. Wie ist das für dich? Was bedeutet Belarus eigentlich für dich, abgesehen von den aktuellen Ereignissen?

Das ist eine schwierige Frage. Ich habe jetzt die tschechische Staatsbürgerschaft, aber ein Teil von mir ist immer noch dort, wo mein Elternhaus steht. Es ist ein Ort, an den ich gerne zurückkehre, wo ich mich entspannen kann. Leider kann ich jetzt nicht mehr dorthin, also suche ich nach einem neuen Ort, an dem ich meine Batterien wieder aufladen kann. Es ist für mich auch eine Frage der Selbstidentifikation. Ich kann nicht sagen, dass ich Belarusin bin, aber ich bin auch keine Tschechin, weder das eine oder noch das andere, sondern beides gleichzeitig.

Haben dir die letzten vier Jahre geholfen, dich selbst und deine Beziehung zu Belarus zu finden?

Im Grunde haben sie mir gezeigt, dass ich immer noch eine starke Beziehung zu Belarus habe. Viele junge Menschen verlassen Belarus, weil sie dort keine Zukunft sehen. Ich bin auch gegangen, weil ich nichts mit diesem Land zu tun haben wollte und mich in der Tschechischen Republik weiterentwickeln wollte. Ich habe versucht, mich hier so gut wie möglich zu integrieren, aber Belarus hat mich im Jahr 2020 wieder an sich gezogen. Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas zur Veränderung beitragen kann, auch wenn ich nicht vorhabe, zurückzukehren. In der Tschechischen Republik habe ich Abstand, ich verstehe die Situation und kann sie transformieren und weitergeben. Aus der Ferne sehe ich, dass es vielleicht eine Chance für Veränderungen in Belarus gibt, und deshalb versuche ich, mich irgendwie einzubringen. Wenn ich den Sinn spüre und die Kraft habe, werde ich weitermachen. Andernfalls höre ich auf, wenn es für mich keinen Sinn mehr ergibt oder ich das Gefühl bekomme, auszubrennen.

Wie schafft man es, das Gleichgewicht zu halten, damit man nicht ausbrennt?

Das ist schwierig. Ich bin hartnäckig, und wenn ich etwas in die Hand nehme, muss ich es auch durchziehen. Aber das Thema, an dem ich arbeite, ist anspruchsvoll. Was mich antreibt, ist, dass ich eine Wirkung sehe, dass es die Menschen anspricht.

Was bringt dich dazu, weiterzumachen? Könntest du das etwas näher erläutern?

Mich treibt an, dass die Situation immer noch alarmierend ist und meine Stimme ein gewisses Gewicht hat. Die Menschen hören und sehen zu, was ich tue, und das motiviert mich. Das Projekt #FramedinBelarus ist für mich sowohl aktivistisch als auch künstlerisch bedeutsam, weil ich versuche, Geschichte festzuhalten. Es ist schade, dass ich oft auf Menschen treffe, die mein Konzept nicht verstehen und die Stickerei nur als Design betrachten.

Was sind eigentlich die Parameter deiner Stickereien? Wie lange dauert es, eine anzufertigen?

Für das Projekt #FramedinBelarus habe ich mir bestimmte Vorgaben gesetzt. Im Durchschnitt zeichne ich fünf bis sechs Stunden an einem Schema, und dann brauchen die Teilnehmer*innen etwa zwanzig bis dreißig Stunden, um dieses Schema zu sticken. Ich versuche, die Entwürfe so zu gestalten, dass sie leicht zugänglich und schnell zu sticken sind. Jeder Entwurf hat bestimmte Parameter, die befolgt werden müssen. Und dann wird das Werk als Computergrafik, Hand- oder Maschinenstickerei oder mit verschiedenen Druckverfahren ausgeführt. Die Ausführung kann sehr vielfältig sein.

Ich dachte eigentlich, es sei alles gestickt.

Nein, das ist es nicht. Es geht nur um die Visualität des Designs, und es ist nicht immer notwendig, alles in die physische Form der Stickerei zu übertragen. Ich fühle mich wie eine Schriftstellerin, die in ihrer eigenen Sprache schreibt, in der die Kreuze die Buchstaben sind, aus denen sich Wörter, Texte und Geschichten zusammensetzen.

Der Beruf der Künstlerin

Wie kommt man eigentlich als Künstlerin im Bereich der politisch engagierten Kunst wirtschaftlich über die Runden? Ist es möglich, davon zu leben?

Es ist kompliziert. Ich lebe von Ausstellungen, Aufträgen und Stipendien. Manchmal nehme ich Aufträge für Illustrationen oder Drucke an, aber oft lehne ich sie ab – ich möchte nicht, dass die Leute sie als Design oder angewandte Kunst wahrnehmen. Ich wähle also sorgfältig aus, was ich annehme. Außerdem hatte ich auch einen Nebenjob bei Amazon, und ich versuche, Geld zu sparen. Die beste Unterstützung für Künstler*innen ist, wenn die Leute ihre Arbeiten kaufen. Zuschüsse sind unsicher, und man muss Berichte abgeben und darauf hoffen, dass Bewerbungen erfolgreich sind.

Es ist also eine Kombination aus verschiedenen Einkommensquellen. Es ist interessant zu hören, wie die Realität einer Künstlerin aussieht.

Ja, so ist das. Gleichzeitig geht es oft darum, dass die Leute meine Arbeit kaufen, weil sie an die Bedeutung meiner Arbeit glauben. Das ist wichtig für mich, es gibt mir die Gewissheit, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Gelegentlich schickt mir jemand, sagen wir, drei Euro als Unterstützung, auch wenn das meiste davon von der Plattform, über die es läuft, verschluckt wird. Aber gleichzeitig erleichtert es mir die Verwaltung.

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Rufina Bazlova: „Flags in Kaskad district“, 2020, Siebdruck. Kaskad ist ein Geschäfts- und Wohnkomplex in Minsk, der sich im Frunzenski-Bezirk befindet. Seit Beginn der Proteste ist das Kaskad-Viertel aktiv und hat eine kreative Lösung gefunden, indem es rot-weiße Fahnen an einem Seil zwischen zwei Hochhäusern aufgehängt hat, damit Regierungsangestellte, die mit der Entfernung der Protestinsignien beauftragt waren, nicht daran kommen. Als diese mit einem Kran auftauchten, um die Flagge zu entfernen, stahlen die Demonstrant*innen die Flagge vor den Augen ihrer Gegner*innen. Mehrere dieser Vorfälle wurden in einem Video festgehalten, das anschließend im Internet verbreitet wurde. Am 10. November sah man im Kaskad riesige Unterwäsche in den Protestfarben Weiß, Rot und Weiß. Das Video, in dem ein Sondereinsatzkommando auftauchte, um sie abzunehmen, wurde unter dem Titel „OMON zieht Unterwäsche aus“ bekannt. Seitdem wurde dieses Protestviertel, wie viele andere auch, von der Bereitschaftspolizei schikaniert, die mehrfach in die Privatwohnungen von Bürger*innen eindrang, ohne sich auszuweisen, geschweige denn einen Durchsuchungsbefehl vorzulegen. Die Fahnen des Kaskad-Gebäudekomplexes sind zu einem bekannten Wahrzeichen der Proteste und zu einem symbolischen Tauziehen mit dem Regime geworden.

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Rufina Bazlova: „Autozak“, 2020, Siebdruck. Ein Autozak ist ein spezielles Polizeifahrzeug auf der Basis eines Lastwagens, Busses oder Kleinbusses, das für den Transport von Verdächtigen und Beschuldigten (speziellen Gefangenen) so ausgestattet ist, dass Verstöße gegen das bestehende Haftregime, einschließlich der Flucht, ausgeschlossen sind. Am 9. August 2020, während der ersten Nacht der Proteste, wurde ein Mann von einem Autozak angefahren.

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Rufina Bazlova hat in Zusammenarbeit mit dem Penguin-Verlag das Cover eines Buches eines belarusischen Historikers gestaltet. © Ester Dobiasova

Stickerei ist aus meiner Sicht eine Arbeit, die sehr viel Geduld erfordert. Und auch im Falle von politischen Veränderungen durch soziale Bewegungen braucht es offensichtlich viel Geduld. Hast du die Hoffnung, dass sich das politische System in Belarus ändern wird? Wenn ja, worauf gründet diese Hoffnung?

Ich glaube, dass sich etwas ändern wird, aber nicht so schnell. Die Situation ist kompliziert – Russland, der Krieg in der Ukraine und all die Gesetze, die Lukaschenko erlassen hat, um seine Macht auch nach seinem Tod zu sichern... Die Belarus*innen sind in der Autokratie aufgewachsen, und selbst wenn jemand Neues an die Macht kommt, besteht die Gefahr, dass die Dinge wieder in die alten Bahnen abgleiten. Wir müssen an uns arbeiten, um das zu vermeiden.
 

Rufina Bazlova ist eine in Prag lebende belarusisch-tschechische Künstlerin, die in den Bereichen Illustration, soziale Kunst, Szenografie und Performance arbeitet. Berühmt wurde sie durch ihre Serie The History of Belarusian Vyzhyvanka, in der sie mit traditionellen Stickereien die friedlichen Proteste in Belarus im Jahr 2020 darstellte. Einen weiteren Popularitätsschub erhielt sie, als der ukrainische Präsident Selenskyj ihre Stickerei zu den ukrainischen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten im Jahr 2022 trug.

Perspectives_Logo Цю статтю опублікували в рамках проекту PERSPECTIVES – нового лейблу для незалежної, конструктивної та мультиперспективної журналістики. JÁDU реалізовує цей проект, який співфінансується ЄС, разом з шістьма іншими редакційними командами з Центрально-Східної Європи під керівництвом Goethe-Institut. >>> Дізнайтеся більше про PERSPECTIVES

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